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1.3 Die Parallelbeispiele und das Problem der Disanalogie (73a)

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Im Folgenden erläutert Sokrates – auf das Bekenntnis des Menon, dass er das Problem „nicht recht in den Griff“ bekäme (72d) – seine These von der begrifflichen Einheit der Tugend anhand von Parallelbeispielen:

So: Scheint es dir, Menon, nur in Bezug auf die Tugend so zu sein, dass eine Tugend die des Mannes ist und eine andere die der Frau und der anderen, oder verhält es sich auch in Bezug auf Gesundheit, Größe und Stärke ebenso? Scheint dir das eine die Gesundheit des Mannes, das andere die Gesundheit der Frau zu sein? Oder ist es allenthalben dieselbe Form [eidos], wenn Gesundheit vorliegt, ob nun beim Mann oder bei irgendeinem anderen? – Me: Die Gesundheit scheint mir beim Mann und der Frau dieselbe zu sein. – So: Auch Größe und Stärke? Wenn eine Frau stark ist, wird sie dann durch die dieselbe Form und aufgrund derselben Stärke stark sein? Mit „dasselbe“ meine ich: Es macht hinsichtlich des Starkseins keinen Unterschied, ob es sich um die Stärke bei einem Mann oder bei einer Frau handelt. Oder scheint es dir einen Unterschied zu machen? – Me: Nein. – So: Wird es dann hinsichtlich der Tugend einen Unterschied machen, ob sie nun bei einem alten Menschen, einer Frau oder einem Mann vorliegt? – Me: Dies scheint mir, Sokrates, den vorher genannten Fällen irgendwie nicht mehr ähnlich zu sein. (72d–73a)

Auffallend ist, dass die gewählten Beispiele, unbefangen betrachtet, ungeeignet erscheinen, die Einheitsthese zu stützen. Sie scheinen eher der Menon-Gorgias-These in die Hände zu spielen. Es handelt sich nämlich bei „groß“, „stark“ und „gesund“ um Relations- oder implizit komparative Begriffe, und die Anwendung der entsprechenden Ausdrücke variiert je nach Bezugsklasse.19 Was z.B. als groß gilt, bemisst sich an der Bezugsklasse. Ein Fünfjähriger, der 1,50 m misst, ist groß relativ zu seinen Altersgenossen, aber nicht in der Bezugsklasse aller Menschen. Wer ein Gewicht von 5 kg heben kann, ist stark, wenn er ein Dreijähriger, nicht, wenn er ein Dreißigjähriger ist. Implizit verwenden wir Ausdrücke wie „stark“ und „groß“ stets komparativ; „stark sein“ heißt: „stärker als andere Gegenstände in derselben Bezugsklasse sein“. Auch der Gesundheitsbegriff bedarf der Spezifikation: An verschiedene Organismen wird man verschiedene Maßstäbe des Gesundseins anlegen. Menon hätte die Frage, ob es sich nicht in Bezug auf Größe, Stärke etc. ebenso verhält wie in Bezug auf die Tugend, also durchaus bejahen und gleichzeitig an seiner relativistischen These festhalten können. Zwar werden im Phaidon Gesundheit, Stärke und Größe als Beispiele für stets gleichbleibende, dem Bereich der Sinnenwelt entzogene und selbst nicht sinnlich wahrnehmbare Ideen angeführt, die in den einzelnen gesunden bzw. großen oder starken Dingen anwesend sind20, und unter Voraussetzung der platonischen Ideenlehre wird die These der Einheitlichkeit auch von Größe, Stärke und Gesundheit durch Bezugnahme auf die ihnen entsprechenden eidē verständlich. Setzt man jedoch die Ideenlehre nicht voraus, bleibt die Frage, warum Sokrates nicht andere, eindeutig nicht relationale Ausdrücke (z.B. Farbprädikate oder sortale Prädikate wie „ist ein Mensch“) als Parallelbeispiele wählt, die sehr viel besser geeignet zu sein scheinen, die Einheitsthese zu stützen.

Eine mögliche Antwort hierauf lautet, dass mit der Wahl der Beispiele deutlich gemacht wird, dass die im Sinne der Einheitsthese gesuchte Einheit des Tugendbegriffes unabhängig von den Anwendungskriterien und dem dadurch festgelegten deskriptiven Gehalt des Ausdrucks „Tugend“ ist. Sokrates, so kann man vermuten, kommt Menon ein Stück weit entgegen, indem er Beispiele wählt, bei denen die Anwendbarkeit eines Ausdrucks von der jeweiligen Bezugsklasse abhängt, ebenso wie es der Menon-Gorgias-These zufolge beim Tugendbegriff der Fall ist. In der Menon-Gorgias-These wird behauptet, dass der Tugendbegriff in dem Sinne relativ ist, dass seine Anwendungskriterien je nach Bezugsklasse variieren – welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von Tugend zu sprechen, variiert demnach z.B. in Abhängigkeit davon, ob wir von der Tugend des Mannes oder der Frau sprechen –, und für diese Relativität von Anwendungskriterien auf Bezugsklassen stellen die genannten Beispiele eher eine Stützung als eine Widerlegung dar. Trotzdem aber, so könnte Sokrates deutlich machen wollen, liegt den verschiedenen Verwendungsweisen von Ausdrücken wie „groß“ und „stark“ ein Begriff des Groß- bzw. Starkseins zugrunde, und analog hierzu ändern auch die kontextspezifisch variierenden Anwendungskriterien des Tugendbegriffes nichts daran, dass ihnen ein einheitlicher Begriff der Tugend zugrunde liegt.

Dass indessen die Einheitsthese des Sokrates von Platon selbst keineswegs als unproblematisch eingestuft wird, wird durch den bemerkenswerten Hinweis Menons auf die mögliche Disanalogie zwischen den angeführten Beispielen und dem Tugendbegriff („Dies scheint mir den vorher genannten Fällen irgendwie nicht mehr ähnlich zu sein“) deutlich. Zwar ist es möglich, diese Bemerkung schlicht als Hinweis auf Menons fehlendes Verständnis aufzufassen, aber der Sache nach ist sie ernst zu nehmen: Selbst wenn man zugesteht, dass bei den genannten Parallelbeispielen ein einheitlicher Begriff des Großseins, Starkseins und Gesundseins vorliegt, ist es keinesfalls selbstverständlich, dass es sich beim Tugendbegriff ebenso verhält. Das bloße Vorkommnis des gleichen Wortes (aretē) in verschiedenen Kontexten zeigt ja noch nicht, dass diesem auch ein einheitlicher Begriff zugrunde liegt, denn es könnte sich bei den verschiedenen Vorkommnissen des Ausdrucks um Homonymien handeln. Ein konsequenter Relativist würde auf eben dieser Differenz zwischen Wort und Begriff beharren und behaupten, dass Wertausdrücke in verschiedenen Kontexten, z.B. in verschiedenen Kulturen, gleichlautend sein mögen, aber verschiedene Begriffe ausdrücken. So kann man behaupten, dass verschiedene Kulturen mit Ausdrücken wie „Tugend“, „Gutsein“ und anderen wertenden Ausdrücken jeweils unterschiedliche Begriffe verbinden, diesen Ausdrücken also kein gemeinsames eidos zugrunde liegt. Auf diese Möglichkeit – die etwa im Euthyphron oder im Hippias Maior noch nicht thematisiert wird – spielt Menons Hinweis auf die mögliche Disanalogie zwischen dem Tugendbegriff und den von Sokrates angeführten Beispielen an. Darin zeigen sich eine Problematisierung und tentative Infragestellung der Einheitsthese, die nicht mehr in gleicher Weise als selbstverständlich gilt wie z.B. im Euthyphron, wo Sokrates das Einverständnis seines Gesprächspartners zur Einheitsthese in wenigen Worten einholt.21 Durch Menons Bemerkung, die einen sachlich durchaus fundierten Verdacht zum Ausdruck bringt, macht Platon deutlich, dass die Einheitsthese kein „Selbstgänger“ ist und es noch zusätzlicher Argumente bedarf, um sie zu begründen.

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