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Abend im Hostel
ОглавлениеDank der guten Wegbeschreibung des Weihnachtsmanns gelingt es Karl, der aufgrund der bizarren Vorfälle heute Abend vollkommen aufgewühlt ist, den Weg zurück zum Hostel zu finden. Insbesondere die Begegnung mit dem Weihnachtsmann hat ihn sehr durcheinandergebracht. Schließlich erlebt man so etwas ja nicht alle Tage. Außerdem hat der Weihnachtsmann zum Schluss noch so eine Andeutung gemacht. Er sagte doch: „Zum Hostel muss ich auch noch, aber nicht mehr heute. Wir werden uns bestimmt bald wiedersehen.“
Was kann der Weihnachtsmann damit nur gemeint haben? Karl hat überhaupt keine Lust auf ein Wiedersehen mit dem komischen Weihnachtsmann. Karl scheut die Überraschung und Überraschungen hatte er seiner Meinung nach an diesem einen Tag bereits für die gesamte Reise genug. Zuerst dieses seltsame Schwein, das seine Pommes essen wollte, dann das vornehme Gourmetrestaurant, dem er gerade noch durch das Klofenster entfliehen konnte, und zum Abschluss der sonderbare Weihnachtsmann. Das ist wirklich zu viel für Karl.
Es ist etwa zwanzig Uhr, als Karl das Hostel erreicht. Eine Erkenntnis haben seine umfassenden Überlegungen auf dem Weg hierhin mittlerweile eingebracht: Am besten wird es sein, wenn er, Karl, weder Matthäus noch Cordula von seinen abendlichen Begegnungen berichtet. Die beiden würden ihm ohnehin nicht glauben und Matthäus fiele mit Sicherheit sofort der ein oder andere hässliche Kommentar ein. Auf einen solchen will Karl gerne verzichten. Nachdem Karl vergeblich an die Türen der Zimmer seiner Kollegen geklopft hat, geht er unsicheren Schrittes ins erste Obergeschoss zum Gemeinschaftsraum. Suchend blickt er sich um. Hier ist um diese Zeit schon mächtig Stimmung: Zwei Gäste vergnügen sich bei einer Billardpartie, andere verfolgen gebannt einen Film auf einer Großbildleinwand. Einige – unter anderem Seppel aus Bayern – sitzen an der Bar und prosten sich zu. Alle Tische sind von Gästen besetzt, die angeregt plaudern, und in einer Ecke steht der Schotte Aidin und sorgt mit seiner Dudelsackmusik für eine besondere, stimmungsvolle Atmosphäre. In dem großen Gewühl fällt es Karl zunächst schwer, Matthäus und Cordula zu entdecken. Die beiden sitzen an einem Tisch und halten netterweise für ihren Kollegen einen Platz frei.
Seit nunmehr über einer Stunde wettert Matthäus darüber, wie unzuverlässig Karl doch sei. Es sei ja wohl eindeutig gewesen, dass sich die drei sogleich nach dem Essen wieder im Hostel treffen würden. Matthäus meint, Karl säße bestimmt immer noch in der Bude und äße ein Fischbrötchen nach dem anderen, bis er Bauchschmerzen bekäme, dann nicht mehr zum Hostel zurückfände und für den Rest der Reise nicht mehr zu gebrauchen wäre. Cordula hingegen ist ein wenig besorgt.
„Vielleicht hat sich der arme Karl ja in der Dunkelheit verirrt. Du solltest ihn suchen gehen“, bekundet sie ihre Befürchtung.
„Ach was“, winkt Matthäus ab. „Irgendwann kommt der Karl auf jeden Fall. Der geht doch immer so langsam und gemächlich. Der braucht eben nur etwas länger. Vielleicht hat sich Karl zwar tatsächlich verirrt, den Weg zurück zum Hostel wird er aber früher oder später trotzdem finden. Ich habe nämlich vorgesorgt und ihm vorhin eine Straßenkarte von Kopenhagen in die Hand gereicht. Denn ich habe – clever, wie ich nun einmal bin – bereits vorausgesehen, dass Karl möglicherweise Schwierigkeiten bei der Orientierung bekommt. Ich habe das Hostel mit einem ganz dicken roten Kreuz auf der Karte markiert und auf der Rückseite für alle Fälle Karls Namen und die Adresse des Hostels notiert. Damit dürfte es selbst dem Karl gelingen, alleine zum Hostel zurückzufinden. Und selbst wenn nicht: Falls ihn irgendjemand an einer Straßenecke aufliest, dann weiß er sogleich, wo er Karl abliefern soll. Gut, oder?“
Cordula ist begeistert.
„Das war aber nett von dir“, erwidert sie erfreut.
In dem Moment entdeckt Cordula ihren Kollegen Karl, der immer noch suchend im Eingang steht.
„Karl, hier sind wir! Karl, komm her!“, ruft sie laut und winkt mit beiden Armen wild in der Luft herum. Alle Gäste im Raum schauen erstaunt zu Cordula und dann zu Karl, der sich die allseitige Aufmerksamkeit gerne erspart hätte. Aber natürlich ist er froh, nach seinen eigenartigen Erlebnissen und dem langen, einsamen Marsch durch die dunklen Straßen der Stadt seine beiden Kollegen wiederzusehen. Er setzt sich schnell zu ihnen an den Tisch und gibt sogleich eine Runde aus. Matthäus möchte gerade zu ein paar vorwurfsvollen Worten an Karl ansetzen, doch Cordulas mahnender Blick hält ihn zurück.
So sitzen die drei nur zusammen und unterhalten sich nett, reden über den vergangenen Tag und über das, was sie wohl noch erwarten wird.
„Schön ist es hier, richtig schön“, meint Cordula voller guter Laune zu ihren beiden Kollegen.
„Wo?“, erkundigt sich Matthäus.
„Na, hier in Kopenhagen natürlich. Es ist schon beachtlich, was wir heute an einem einzigen Tag alles erlebt haben. Das war doch ganz fantastisch! Wirklich sehr vielversprechend, was die kommenden Tage anbelangt. Wenn das so weitergeht, dann muss ich mir am Ende noch eine neue Speicherkarte für meinen Fotoapparat kaufen. Und was für eine tolle Atmosphäre hier im Saal herrscht. Wir sind ja immer da, wo was los ist“, erwidert Cordula und deutet auf Aidin, der nach wie vor Dudelsack spielt. Cordula gefällt die Musik sehr und nur allzu gerne würde sie lauthals mitsingen. Nur leider kennt sie ja den Text nicht.
„Also, ich glaube nicht, dass das hier so eine gute Wahl war“, eröffnet Matthäus und blickt sich abschätzig in dem großen Raum um. Ihm gefällt es im Hostel nicht besonders. Er ist da anderes gewöhnt. Und auch die Stadt hat ihn bislang nicht vom Hocker gehauen.
„Und sonderlich viel erlebt haben wir noch nicht. Ich würde mich ja sehr über das eine oder andere Überraschungsmoment freuen“, führt er weiter aus. Karl kann diese Ansicht natürlich nicht ganz teilen. Nach seiner Auffassung gab es bereits an diesem einen Tag Überraschungsmomente genug. Aber er schweigt.
„Immerhin war es schön billig“, fügt Matthäus noch hinzu. Und dann berichtet er seinen beiden Kollegen nochmals ausführlich und mit sichtlichem Stolz, wie er dank seiner eigenen Genialität heute Nachmittag bei zahlreichen netten Leuten dänische Kronen eingetauscht hat und auf diese Weise viel Geld sparen konnte.
Ansgar, der bislang auf dem vierten Platz bei den drei Kollegen am Tisch saß, fühlt sich von Matthäus' lautstarker Prahlerei gestört. Deshalb verlässt er nach einiger Zeit den Gemeinschaftsraum, um hoch in sein Zimmer – also das Zimmer, das er sich mit Konrad, Aidin, Seppel, Sheldon und Werner teilt – zu gehen. Hier hielt sich bislang Konrad ganz alleine auf, um in Ruhe und Einsamkeit an seinem Laptop zu arbeiten. Als jedoch der ein wenig unheimlich anmutende Ansgar das Mehrbettzimmer betritt, beschließt Konrad, seinen Laptop zuzuklappen, das Zimmer zu verlassen und im Gemeinschaftsraum weiterzuarbeiten. Dort angekommen steuert er auf den freien Platz am Tisch unserer drei Kollegen zu, auf dem eben noch Ansgar verweilte. Hier lässt sich Konrad nieder und setzt sogleich die Arbeit an seinem Laptop fort.
„Guten Abend“, empfängt ihn Cordula freundlich. Konrad gibt nur ein kurzes Nicken von sich, denn er hat nicht vor, sich mit den dreien zu unterhalten.
Matthäus unterdessen hat eine neue Idee, wie er und seine beiden Kollegen den Rest des Abends verbringen können: Er holt ein Kartenspiel aus seiner Manteltasche, um Cordula und Karl um eine Partie zu bitten. Cordula ist sofort begeistert, denn sie spielt für ihr Leben gerne Skat.
„Au ja, das ist ein ganz hervorragend guter Einfall, Matthäus. Lasst uns doch ein paar Runden Skat spielen“, fordert sie deshalb ihre beiden Kollegen auf. Matthäus jedoch lehnt Cordulas Vorschlag vehement ab. Er beherrscht dieses Spiel nämlich nicht. Und genauso verhält es sich bei Karl. Dieser blickt nur betreten zu Boden.
„Wollt ihr etwa behaupten, dass ihr beide gar kein Skat spielen könnt?“, fragt Cordula ungläubig in die Runde. Matthäus und Karl schütteln den Kopf.
Dafür schleicht sich ein breites Grinsen auf Konrads Gesicht. Erstmals sieht er von seinem Laptop auf und ruft freudig: „Ich kann Skat!“
Skat spielen ist nämlich Konrads große Leidenschaft und die einzige Tätigkeit, für die er sogar die Arbeit an seinem Computer zurückzustellen bereit ist. Da er jedoch sehr menschenscheu ist, findet Konrad in der Regel keine lebendigen Mitspieler aus Fleisch und Blut und kann deshalb notgedrungen auch Skat nur an seinem Laptop spielen. Doch in der Aussicht auf eine reale Partie klappt Konrad umgehend seinen Laptop zusammen.
Nun ist es aber bekanntermaßen so, dass man zum Skatspielen immer drei Personen benötigt. Cordula und Konrad sind also dringend auf einen dritten Mitspieler angewiesen. Herausfordernd blickt Cordula ihre beiden Kollegen an.
„Na, wenn ihr beide kein Skat könnt, dann wird es aber höchste Zeit. Wir können es euch ja beibringen“, führt sie ermutigend aus. Das jedoch geht Matthäus entschieden gegen den Strich – und zwar aus zwei Gründen: Erstens widerstrebt es ihm ganz grundsätzlich, sich von anderen Leuten etwas erklären und beibringen zu lassen. Wenn hier jemand einem anderen etwas beibringt, dann ist das Matthäus und nicht umgekehrt. Und zweitens hat Matthäus Angst, sich beim Skatspielen vor seinen Kollegen zu blamieren. Lieber möchte er entweder irgendein möglichst einfaches Spiel spielen, dessen Regeln auch er sicher beherrscht, oder noch besser ein Spiel, bei dem man gut und unauffällig pfuschen kann, damit er, Matthäus, auch ja immer gewinnt. Denn Verlieren tut er wirklich nur äußerst ungern.
Leider lässt sich Skat weder in die eine noch in die andere Kategorie einordnen. Und deshalb lehnt Matthäus es vehement ab, sich an der Skatrunde zu beteiligen. Wenn Cordula und Konrad ein dritter Spieler fehlt, dann können die beiden eben kein Skat spielen. So einfach ist das. Und dann kann Matthäus das Spiel bestimmen. Und er kann sich ein Spiel aussuchen, das seinen eigenen Vorstellungen entspricht. Und dann kann er nach Belieben pfuschen. Und dann wird er immer gewinnen. Und dann hat er mal wieder die Anerkennung und Bewunderung seiner Kollegen sicher und kann sich im Ruhme seines Erfolges sonnen.
Denkt Matthäus. Aber da hat er die Rechnung ohne seinen Kollegen Karl gemacht. Denn anders als Matthäus hat Karl keine Angst davor, sich vor den anderen zu blamieren. Außerdem ist er wie immer gutmütig und möchte Cordula und Konrad nicht das Spiel verderben. Obendrein wollte Karl ohnehin immer schon mal Skat erlernen und dies scheint ihm eine günstige Gelegenheit dazu zu sein. Und nicht zuletzt kann Karl auf diese Weise mal seinem Kollegen Matthäus, der erkennbar nicht zum Mitspielen bereit ist, eins auswischen. Also willigt Karl ein, sich von Cordula und Konrad das Skatspielen beibringen zu lassen und damit die Skatrunde zu komplettieren.
Matthäus hingegen schaut blöd aus der Wäsche. Mit dieser Reaktion von Karl hat er nicht gerechnet. Zwar wäre es auch möglich, als vierter Spieler an der Skatrunde teilzunehmen, aber das traut sich Matthäus natürlich nicht. Und da Karl, Cordula und Konrad ihn so erwartungsvoll ansehen, stellt Matthäus den dreien notgedrungen sein Kartenspiel zur Verfügung. Das hatte er sich nun wirklich anders vorgestellt. Matthäus überlegt einen Moment, ob er trotzdem hier sitzen bleiben und heimlich Cordulas Erklärungen zuhören soll, entscheidet sich aber dagegen.
„Ich gehe mal lieber zur Bar rüber. Da ist bestimmt mehr Stimmung als hier bei euch“, sagt er entschuldigend, aber auch mit erkennbarem Vorwurf in der Stimme, nimmt sich sein halb volles Bierglas, steht auf und entfernt sich sehr schnell. An der Bar setzt sich Matthäus auf den freien Platz neben Seppel, der gerade – was er sehr gerne tut – genüsslich eine Brezel verspeist und dazu ein Glas Weißbier vor sich stehen hat. Seppel ist in dem kleinen, abgelegenen Ort Bad Sulzemoos in den Bergen in Südbayern beheimatet, hatte also eine sehr lange Anreise bis nach Kopenhagen.
„Servus, i bin da Seppl! Und wa bisd du?“, begrüßt er Matthäus freundlich in seinem bayrischen Dialekt. Dessen schlechte Laune verschwindet sofort, denn Seppel ist ein sehr lustiger Zeitgenosse und immer gut gelaunt. Und das ist ansteckend.
„Mein Name ist Matthäus!“, ruft Matthäus mit einem gewissen Stolz, vergisst sogleich den Ärger über das geplatzte Kartenspiel mit seinen Kollegen und freut sich, diesen Platz gewählt zu haben. Matthäus und Seppel verstehen sich auf Anhieb ganz hervorragend. Beide trinken sehr gerne und haben viel Spaß zusammen.
In der Zwischenzeit hat Cordula die Karten gemischt und an sich selbst, Konrad und Karl ausgeteilt.
„Also Karl, das läuft so“, beginnt sie mit der Erklärung und dann erläutern sie und Konrad Karl die Spielregeln. Dieser zeigt sich ausgesprochen gelehrig und begreift ziemlich schnell. Gerade vor dem Hintergrund, dass Skat bekanntlich ein sehr anspruchsvolles Kartenspiel ist, ist es sehr beeindruckend zu sehen, wie aus Karl innerhalb kürzester Zeit ein ernstzunehmender Mitspieler und Gegner wird. Und Karl hat auch sichtlich Spaß an dem Spiel, denn dieses ist genau nach seinem Geschmack. Längst hat ihn der Ehrgeiz gepackt und er wird von Runde zu Runde besser. Auch Cordula und Konrad sind sehr vergnügt, aber ebenso konzentriert bei der Sache. Besonders Konrad freut sich, endlich mal auf zwei reale Gegner zu stoßen. Cordula macht ein Foto von Konrad und Karl.
Und so spielen die drei viele, viele Runden und kurz vor Mitternacht geht Karl – allerdings mit etwas Glück – sogar knapp vor Konrad als Sieger hervor. Mittlerweile hat sich der Gemeinschaftsraum bereits ordentlich gelehrt. Als Erster hatte Aidin, der immer sehr zeitig ins Bett geht, dafür aber morgens ziemlich früh aufsteht, den Saal verlassen, um in sein Zimmer zu gehen. Cordula und Karl verabschieden sich von Konrad und verabreden, sich in den nächsten Tagen einmal wieder zu einer Skatpartie zusammenzufinden.
Während Konrad alleine an dem Tisch sitzen bleibt und seinen Laptop hochfährt, um nun wieder an seinem Computerprogramm zu arbeiten, gehen Cordula und Karl zur Bar, wo Matthäus und Seppel immer noch zusammensitzen und wild herumschunkeln.
„Servus, das is da Seppl!“, empfängt Matthäus seine Kollegen merklich angetrunken und versucht dabei, Seppels bayrischen Dialekt nachzuahmen. Cordula und Karl merken sofort, dass es wohl besser wäre, wenn Matthäus für heute mit dem Trinken aufhört. Daher zerren sie ihn von seinem Barhocker und geleiten ihren Kollegen nach unten ins Erdgeschoss.
Dort angekommen verschwinden Matthäus, Cordula und Karl in ihren Zimmern. Bald schon sind unsere drei Kollegen eingeschlafen, während Konrad noch einige Stunden an seinem Laptop arbeitet und Seppel ein Weißbier nach dem anderen trinkt.