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Erster Tag Der Beginn einer Reise

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Gedankenverloren schlendert Matthäus über den Parkplatz, zunächst vom Bus weg und dann wieder ein Stück zurück. Er hat seine in schwarze Lederhandschuhe eingepackten Hände hinter dem Rücken verschränkt und stellt langsam einen Fuß vor den anderen. Dabei beobachtet er die anderen Reisegäste: Einige stehen unter einer die Dunkelheit der frühen Morgendämmerung durchbrechenden Laterne zusammen und unterhalten sich. Einer davon lacht gerade laut. Vermutlich hat einer der anderen soeben einen Witz erzählt. Matthäus hätte ihn gewiss nicht lustig gefunden. Andere stürmen eilig an Matthäus vorbei in Richtung der Rastplatztoilette, an der schon eine lange Schlange ansteht. Drei haben sich auf eine Bank gesetzt. Ein vierter hat dort keinen Platz mehr gefunden und sich daneben auf der hohen Bordsteinkante niedergelassen. Er trägt einen beigefarbenen Pullunder, ein hellblaues Hemd und eine Fliege und hat dunkle, streng zur Seite gekämmte Haare. Starren Blickes schaut er auf seinen Laptop, den er in einer Hand hält, und hackt mit der anderen Hand hektisch auf der Tastatur herum.

‚Komische Gestalt‘, denkt sich Matthäus. Einige Meter weiter steht jemand und beißt gerade in ein Brot mit Käse. Dass dieses Brot mit Käse belegt ist, kann Matthäus zwar nicht sehen, aber immerhin riechen. Matthäus rümpft die Nase und geht schnell ein paar Schritte weiter.

Er ist sauer: Es sind vielleicht noch zwanzig Minuten Fahrt bis zum Fähranleger in Puttgarden, von dem aus der Bus mit der Fähre nach Dänemark übersetzen wird, und der Fahrer macht hier, mitten im Nirgendwo, eine Rast.

‚Bestimmt wird uns die nächste Fähre unmittelbar vor der Nase wegfahren. So verschwendet man wertvolle Zeit‘, überlegt Matthäus und ärgert sich darüber. ‚Das fängt ja alles gut an‘, findet er, meint es aber natürlich ironisch.

Es beginnt leicht zu regnen. Eigentlich könnte sich Matthäus wieder in den Bus setzen. Aber das will er nicht. Denn bis auf einen einzigen Fahrgast ist der Bus leer. Und dieser Fahrgast schläft und bekommt von der Pause überhaupt nichts mit. Es ist Karl, Matthäus' Kollege, der auch mitfährt. Schnell öffnet Matthäus seinen großen schwarzen Regenschirm, den er in weiser Voraussicht fast immer mit sich trägt. Amüsiert blickt er auf die anderen Fahrgäste: Die meisten laufen eilig zurück zum Bus, um nicht nass zu werden. Aber er, Matthäus, hat ja den Schirm. Er lächelt in sich hinein.

Plötzlich zerreißt hinter Matthäus ein Blitz die Dunkelheit. Wohl naht ein Gewitter heran. Matthäus zählt die Sekunden bis zum Donner. Denn multipliziert man die Zeit zwischen Blitz und Donner in Sekunden mit der Zahl 333, erhält man den ungefähren Abstand des Gewitters in Metern und kann nach erneutem Blitz und Donner zudem seine Geschwindigkeit berechnen. Aber Matthäus zählt vergeblich. Es ertönt kein Donner. Stattdessen leuchtet erneut ein Blitz auf, diesmal direkt neben Matthäus. Erschrocken dreht er sich um und schon wieder blitzt es. Geblendet kneift Matthäus reflexartig die Augen zusammen und blickt einen Moment später wieder auf.

So erkennt er, dass die Blitze nicht von einem Gewitter stammen, sondern von Cordula, die gerade mit Blitzlicht ein Foto von ihm gemacht hat. Cordula ist eine Kollegin von Matthäus und Karl. Zusammen arbeiten die drei als Beamte im mittleren Dienst in der Verwaltung einer kleinen Gemeinde in Baden-Württemberg in der Nähe von Karlsruhe. Cordula hat die Reise ins Hostel in Kopenhagen – ein richtiges Schnäppchen – in einem Reiseprospekt entdeckt, war sogleich ganz begeistert und hat Matthäus und Karl zum Mitkommen überredet. Besonders Matthäus war nur sehr schwer zu überzeugen. Ein anderes Reiseziel wäre ihm deutlich lieber gewesen. Musste es denn ausgerechnet Kopenhagen sein? Da er jedoch über Weihnachten ohnehin nichts Besseres zu tun gehabt hätte, hat er schließlich eingewilligt. Und jetzt fahren die drei Kollegen zusammen mit einigen anderen Reisegästen schon seit Stunden in einem Bus durch die Nacht mit Kurs auf die dänische Hauptstadt. Es ist früher Morgen, allerdings noch dunkel. Aber nun, wo Matthäus auf dem Rastplatz warten muss, bis es endlich weitergeht, es regnet und kalt ist, möchte er nicht fotografiert werden.

„Immerzu hat man es mit unqualifizierten Trotteln zu tun. Warum muss dieser untaugliche Busfahrer ausgerechnet jetzt und hier im Nirgendwo eine Pause machen? In einer halben Stunde legt die Fähre ab und wenn wir uns nicht beeilen, dann werden wir dort nicht rechtzeitig ankommen. Die Fähre wartet nicht auf uns und die nächste Fähre fährt erst vierzig Minuten später“, wettert Matthäus.

„Reg dich nicht auf“, versucht Cordula ihn zu beruhigen. „Aber du hast recht: Um die schöne verlorene Zeit wäre es wirklich schade.“

Während Cordula ein paar tolle Fotos von dem Rastplatz, der Rastplatztoilette, einem überquellenden Mülleimer und vom Bus schießt, geht Matthäus in den Gasthof, um eine aktuelle Tageszeitung zu erwerben. Außer ihm ist niemand dort. Er steht gerade an der Kasse, um zu bezahlen, als er von draußen ein lautes Gehupe und eine „Matthäus!“-rufende Cordula hört. Matthäus bezahlt schnell und geht zügig raus. Er sieht den Bus, der bereits den Motor angelassen hat, um weiterzufahren. Cordula kommt wild gestikulierend herangeeilt und zerrt ihn zum Bus.

„Wenn wir jetzt zu spät kommen, ist das deine Schuld“, sagt sie vorwurfsvoll tadelnd. Die beiden sind gerade im Bus angekommen, als der Busfahrer schon die Türen schließt und losfährt. Sie gehen zurück zu ihren Plätzen, wo mittlerweile ihr Kollege Karl durch den Lärm aufgewacht ist.

„Was ist denn hier los?“, fragt er verschlafen, ohne jedoch ernsthaft eine Antwort zu erwarten. Dann gähnt er herzhaft, beugt sich über seinen riesigen Rucksack, der ihm zu Füßen steht, und kramt darin. Schließlich holt er eine Brotdose mit einem großen Fischbrötchen heraus, das er sich zu Hause als Proviant für die lange Fahrt zubereitet hat. Genüsslich beißt er hinein. Es stinkt. Matthäus hält sich die Nase zu, sagt aber nichts. Er ärgert sich nur über Karl, über Cordula und über den Busfahrer, nicht aber über sich selbst, obwohl doch er die zusätzliche Verspätung zu verantworten hat.

Die nächsten gut zwanzig Minuten sitzen die drei Kollegen schweigend beisammen und hoffen, dass sie rechtzeitig zur nächsten Fährüberfahrt in Puttgarden eintreffen werden. Wobei, eigentlich hoffen das nur Matthäus und Cordula. Karl hingegen ist es gleichgültig. Er isst in Ruhe sein Fischbrötchen und macht sich über die bevorstehende Fährfahrt keine Gedanken. Wie sollte er auch? Dass der Bus, um nach Kopenhagen zu gelangen, mit der Fähre von Puttgarden nach Rødby fahren muss, weiß er gar nicht. Das muss er ja auch nicht wissen. Da er über weite Teile der Fahrt geschlafen hat, könnte Karl auch nicht ausschließen, dass eine Fährüberfahrt zu irgendeinem Zeitpunkt bereits stattgefunden hat. Er hat keine Ahnung, wie lange sie schon unterwegs sind und wo sich der Bus gerade befindet. Was er weiß, ist wenig, und alles was er nicht weiß, kann ihn auch nicht in seiner Ruhe stören. Aber selbst wenn er wüsste, dass sie gleich mit einer Fähre weiterfahren müssen und dafür reichlich spät dran sind, würde er dennoch keinen Gedanken daran verschwenden. Falls die drei im Bus vierzig Minuten auf die nächste Fähre warten müssten, dann wäre das eben so. Er, Karl, könnte daran jetzt sowieso nichts mehr ändern. Und selbst wenn er es könnte, täte er es nicht. Ihm ist es einerlei, ob der Bus vierzig Minuten früher oder vierzig Minuten später in Kopenhagen ankommt.

Während Karl gemütlich und in aller Ruhe sein Brötchen verspeist und danach wieder vor Müdigkeit die Augen schließt, blättert Matthäus interessiert in seiner soeben erworbenen Tageszeitung und überfliegt die Schlagzeilen.

‚Königin Margrethe II. lädt ein: Kanzlerin Merkel1 nächste Woche auf Staatsbesuch in Dänemark‘, liest er und fragt sich, ob die deutsche Bundeskanzlerin wirklich nichts Besseres zu tun hat, als mit der dänischen Königin Kaffee zu trinken und Kuchen zu essen. Cordula blickt unterdessen aufmerksam aus dem Fenster, um sich die Landschaft anzusehen. Dumm nur, dass es immer noch dunkel ist und sie draußen kaum etwas erkennen kann. Und selbst wenn es hell wäre, gäbe es nicht viel zu sehen. Immerhin fährt der Reisebus gerade über eine Schnellstraße. Außerdem regnet es noch immer.

Gerade noch rechtzeitig kommt der Bus am Fährhafen an. Offen gestanden ist besonders Matthäus heilfroh darüber, da schließlich er für zusätzliche Verzögerung gesorgt hat. Auf die Vorwürfe seiner Kollegin Cordula kann er wirklich sehr gut verzichten. Von Karl hingegen hätte er nichts zu befürchten gehabt. Nachdem der Bus als allerletztes Fahrzeug im Untergeschoss der Fähre angehalten hat, schließen sich auch schon die Tore. Die Fahrgäste – allen voran Matthäus und Cordula – beeilen sich, den Bus zu verlassen, um auf das obere Deck zu gelangen und dort die Zeit der Überfahrt zu verbringen.

Nur einer bleibt hier unten im Bus. Und das ist Karl. Während die anderen aussteigen, bleibt Karl einfach sitzen. Er ist noch immer müde und hofft, während der Fährüberfahrt im Bus in Ruhe nochmal schlafen zu können. Matthäus und Cordula sind so in Eile, dass sie Karls Fehlen zunächst gar nicht bemerken. Und schon sind alle Leute weg und Karl ist ganz alleine. Er schließt die Augen und versucht einzuschlafen. Doch er schafft es nicht. Die Einsamkeit im Bus und das laut dröhnende, hier unten in der Halle bedrohlich umherschallende Geräusch der Schiffsmotoren machen ihm Angst. Er öffnet die Augen wieder und blickt sich um. Er sieht nach vorne in den unbesetzten Bus. Dann schaut er nach rechts aus dem Fenster. Das Untergeschoss ist riesig – zumindest kommt es Karl so vor. Überall stehen Autos, Lkws, Motorräder und Busse. Andere Menschen sind weit und breit nicht zu sehen. Der Anblick wirkt auf Karl geradezu ausgestorben und geisterhaft. Durch das Fenster auf der linken Seite entdeckt er ein kleines gelbes Schild mit der Aufschrift: ‚Der Aufenthalt im unteren Stockwerk ist während der Überfahrt aus Sicherheitsgründen nicht gestattet.‘

Karl erschrickt. Er will weg von hier – so schnell wie möglich. Panisch springt er von seinem Platz auf und läuft durch den leeren Bus zur Tür. Zu seinem Glück lässt sich diese problemlos öffnen. Angsterfüllt steigt Karl eilig aus und blickt sich hektisch um. Er hat keine Idee, wie er hier rauskommen soll. Irgendwo muss eine Treppe nach oben sein, aber Karl hat keinen blassen Schimmer, wo diese sein könnte. Schnell macht er sich auf die Suche. Er entdeckt eine Tür. Er öffnet sie. Aber dahinter befindet sich keine Treppe nach oben. Die Tür führt nur zu einem weiteren abgetrennten Teilbereich des riesigen Untergeschosses, in dem weitere Fahrzeuge stehen. Karl irrt ziellos umher. Er entdeckt wieder eine Tür und drückt die Klinke: Verschlossen. Karl wird immer panischer. Er kann den Ausgang einfach nicht finden. Abermals sieht er eine Tür. Aber dahinter befinden sich statt einer Treppe nur unter anderem einige Feuerlöscher und eine Leiter. Dies ist wohl der Abstellraum. Sicherheitshalber nimmt Karl einen Feuerlöscher mit – man weiß ja nie.

Da er den Weg nach draußen nicht findet, will Karl zumindest zurück zum Bus. Aber auch dieser ist wie vom Erdboden verschluckt. Karl hat sich hier unten total verlaufen. Für ihn sieht es auch überall gleich aus. Verzweifelt setzt sich Karl wahllos auf eine Motorhaube, die unter seinem Gewicht leicht knarrt, und überlegt: ‚Was mach ich nur? Was mach ich nur? Was mach ich nur? Was ist, wenn es jetzt brennt, während ich hier unten bin? Oder es gibt einen anderen Notfall? Vielleicht sinkt ja gleich das ganze Schiff. Niemand wird darauf kommen, dass hier unten noch jemand ist. Schließlich ist das ja verboten. Vielleicht kommt auch gleich irgendein Sicherheitsmensch und verhaftet mich, weil ich hier gar nicht sein darf. Was alles passieren kann.‘

Karl erschaudert und wird auf einen Schlag ganz bleich im Gesicht. Niedergeschlagen und mutlos stützt er den Kopf in beide Hände und klagt leise vor sich hin.

„Karl!“, ruft plötzlich jemand laut durch das Untergeschoss. „Bist du etwa noch hier unten?“

Das war doch Matthäus. Karl springt auf und blickt sich hektisch um. Auf der Motorhaube bleibt eine kleine Delle zurück.

„Karl!“, ruft Matthäus noch einmal.

Der Schall bricht sich immer wieder in der riesigen Halle und so ruft es nun von überall: „Karl! Karl! Karl! Karl! Karl! Karl! Karl!“, und Karl fällt es schwer, sich zu orientieren. So irrt er erneut umher und versucht, Matthäus' Stimme zu orten. Und schließlich sieht er ihn: seinen Kollegen Matthäus. Karl ist heilfroh.

„Was machst du denn noch hier unten? Warum bist du nicht gleich mit uns nach oben gekommen? Cordula war schon ganz in Sorge, ob dir etwas passiert ist, und hat mich nach dir suchen geschickt. Jetzt habe ich die Abfahrt der Fähre verpasst. Du bist das schuld!“, rügt Matthäus Karl maßregelnd und sehr vorwurfsvoll. Dieser versucht sich zu verteidigen.

„Ich habe mich halt verlaufen“, rechtfertigt sich Karl unsicher. Er selber merkt, wie absurd seine Erklärung für Matthäus klingen muss. Dieser blickt seinen Kollegen nur ungläubig und argwöhnisch zweifelnd an, sagt aber nichts mehr. Dann geleitet er ihn sicher zum Ausgang.

Karl ist überrascht: Da ist ja auch wieder ihr Reisebus. Der Ausgang befindet sich direkt daneben und über der Tür zum Treppenhaus hängt ein nahezu unübersehbares Schild mit der Aufschrift: ‚Ausgang‘. Hätte Karl doch besser hingesehen. Er hätte nur einmal um den Bus herumlaufen müssen und schon wäre ihm das Schild aufgefallen. Er hätte bloß von seinem Sitzplatz aus die Wand auf der linken Seite etwas intensiver in Augenschein nehmen müssen. Aber dies hat er aus lauter Furcht und Desorganisation unterlassen. Jetzt ist er einfach nur froh, von hier fort zu gelangen.

Matthäus und Karl steigen über eine schmale Treppe nach oben. So gelangen sie in einen großen Raum mit vielen Stühlen, einem Kiosk und dem Schiffsbistro, aus dem es lecker riecht. Matthäus steuert zielstrebig auf eine weitere Tür zu und plötzlich stehen die beiden draußen im leichten Nieselregen auf dem oberen Deck. Karl ist schon wieder überrascht: Die Fähre hat gerade einmal die Hafenausfahrt passiert. Sie ist erst vor wenigen Minuten abgefahren. Dabei kam ihm sein Aufenthalt im Untergeschoss wie eine halbe Ewigkeit vor. Karl schreitet gemächlich vor bis zur Reling und blickt verschlafen auf die ruhige See. Der Großteil des Himmels ist zwar mit Wolken bedeckt, aber im Osten ist noch ein freier blauer Streifen. Die Sonne geht gerade über dem Meer auf. Feurig rot taucht sie hinter dem Horizont in weiter Ferne auf und überflutet das Meereswasser mit hellem Licht, das sich in jeder Welle bricht. Karl blickt auf seine digitale Armbanduhr: Es ist kurz nach halb neun. Er genießt den schönen Anblick und lässt sich den frischen, kalten Wind durch Gesicht und Haare wehen. Matthäus stellt sich neben seinen Kollegen. Auch ihn scheint der Anblick der aufgehenden Sonne und des Lichtes auf den Wellen zu faszinieren.

Plötzlich hört Karl hinter sich ein lautes ‚Knips‘. Verwundert dreht er sich um. Hinter ihm steht Cordula, die soeben ein Foto von ihm und Matthäus geschossen hat. Und weil Karl so freundlich in die Kamera blinzelt, macht Cordula sogleich noch ein Foto.

„Die können wir später unseren Kollegen zeigen. Die werden sich bestimmt sehr darüber freuen. Ich werde dir, Karl, alle meine Bilder zur Verfügung stellen. Vielleicht kannst du dann aus den besten einen Film erstellen. So was kannst du doch gut“, bemerkt Cordula in bester Laune. Karl nickt nur. Er hat nicht zugehört und hat eigentlich gerade etwas ganz anderes im Sinn: Cordula hält nämlich in einer Hand ein belegtes Körnerbrötchen, das sie soeben in dem Bistro an Bord gekauft hat. Karl fällt ein, dass er ja seinen mitgebrachten Proviant bereits aufgegessen hat. Schnell und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, geht er nach drinnen und kommt wenige Minuten später mit einem Burger in einer Pappschachtel sowie einer Kekstüte in den Händen wieder zu seinen Kollegen nach draußen. Spendabel, wie er nun einmal ist, bietet er diesen von seinen eben erstandenen Keksen welche an. Karl selber greift auch in die Tüte, um sich sogleich einige Kekse zu sichern.

Matthäus, der zwar ebenfalls gerne Nahrungs- und Genussmittel mit hohem Zuckergehalt verspeist, aber mindestens ebenso gerne kritisiert, merkt an: „Also Karl, ich finde, du könntest dich ruhig ein wenig gesünder ernähren. Immerzu isst du Fischbrötchen, Burger, Plätzchen und solch ungesundes Zeug. Wie wäre es, wenn du zur Abwechslung mal etwas Nahrhafteres zu dir nähmest?“

Karl blickt seinen Kollegen völlig verständnislos an.

„Ich meine ja nur. Die Bordkantine hat heute leckeren Brokkoliauflauf, Sanddornsuppe und Himbeer-Hafermilch-Shake auf der Speisekarte. Und was machst du? Du kaufst dir einen fettigen Burger und diese ungesunden Plätzchen. Ich finde, deine Ernährungsgewohnheiten lassen ganz schön zu wünschen übrig. Wenn ich allein daran denke, wie viele Schweineleben schon ausgelöscht werden mussten, nur um deinen Gelüsten nach Burgern Genüge zu leisten. Es ist wirklich eine Schande! Und du selbst tust dir ja auch keinen Gefallen mit deiner ungesunden Ernährung. Dabei gäbe es so viele gesundheitsfördernde Alternativen: Rohkost, fettarmen Joghurt, Paranüsse – nur um ein paar Beispiele zu nennen.

Wenn du an weiteren Details interessiert bist, Karl, dann solltest du dich unbedingt mal an Cordula wenden. Soweit es um gesunde Ernährung geht, ist sie nämlich die Expertin. Sie hat mir mal berichtet, dass sie jeden Morgen zum Frühstück Dinkelmüsli isst und dazu Honigmilch mit Ingwer trinkt. Das wäre gewiss auch mal etwas für dich. Honigmilch mit Ingwer – das klingt doch ganz vorzüglich. Das wäre mal etwas ganz anderes als immer diese Burger, Plätzchen und Fischbrötchen. Honigmilch mit Ingwer ist gesund, nährstoffreich und besonders bekömmlich. Bei nächster Gelegenheit solltest du das auf alle Fälle mal ausprobieren.

Du musst ja nicht gleich deinen gesamten Ernährungsplan auf einmal umstellen, Karl. Du kannst dich ja langsam steigern. Und irgendwann ernährst du dich nur noch von Kürbissuppen, Grünkohl, Hülsenfrüchten und grünem Tee“, unterweist Matthäus Karl sachkundig und freut sich, jetzt ganz oben auf zu sein. Karl starrt seinen Kollegen entgeistert und perplex an und zieht unsicher seine Hand wieder aus der Kekstüte.

„Was soll ich essen?“, erkundigt er sich bei Matthäus und blickt hilfesuchend zu Cordula, die gerade versonnen an der Reling steht, den Sonnenaufgang fotografiert und Matthäus' lehrreichem Vortrag wenn überhaupt nur mit einem halben Ohr gelauscht hat.

„Du musst das ja alles nicht machen. Ich meine es doch nur gut mit dir, Karl“, entgegnet Matthäus seinem Kollegen. Dann steckt er selbst eine Hand in Karls Kekstüte. „Aber man muss es ja auch nicht übertreiben“, erläutert er und stopft sich eine Handvoll Kekse in den Mund. „Auf jeden Fall schmecken die Plätzchen sehr gut.“

Karl ist nun vollkommen verwirrt und weiß jetzt weder was er sagen noch tun soll. Aber dann zuckt er mit den Schultern und nimmt sich ebenfalls von seinen Keksen. Schließlich langt auch Cordula zu.

Während der nächsten knappen Dreiviertelstunde, die die Fährüberfahrt dauert, sitzen die drei Kollegen draußen in der morgendlichen Kälte an einem Tisch, blicken aufs Meer, essen Karls Kekse und freuen sich auf die ihnen bevorstehende Zeit. Matthäus, Cordula und Karl haben auch allen Grund zur Freude, denn auf sie warten ein paar ausgesprochen schöne und ereignisreiche Urlaubstage. Heute ist nämlich der 25. Dezember, also der erste Weihnachtstag, und laut Reisebeschreibung wartet am nächsten Tag auf alle Gäste eine besondere Weihnachtsüberraschung. Außerdem stehen schon heute eine Stadtführung durch Kopenhagen und eine Bootsfahrt auf dem Programm. Auch ein gemeinsames Abendessen in einem erlesenen Restaurant ist für einen Abend geplant. Den Rest der insgesamt fünf Tage, die die Reise dauern wird, haben die drei zur freien Verfügung. Diese Zeit wollen Matthäus, Cordula und Karl zum Beispiel für eine Tour ins Wikingermuseum von Roskilde sowie eine Fahrt in die schwedische Stadt Malmö nutzen.

Besonders Cordula ist voller Vorfreude auf die kommenden Tage, denn sie fotografiert leidenschaftlich gerne und erhofft sich von Kopenhagen einige tolle Motive. Auch Matthäus freut sich, ist vor allem aber skeptisch.

‚Die Weihnachtsüberraschung wird bestimmt kitschig, die Stadt wenig sehenswert und das Wetter schlecht‘, befürchtet er insgeheim. Wenn er das alles organisiert hätte, ja dann würde die Reise bestimmt sehr viel besser werden. Aber das hat er nun einmal nicht. Lediglich für die Stadt Malmö hat Matthäus einen eigenen Stadtrundgang ausgearbeitet und ergötzt sich schon an der Vorstellung, seine Kollegen dort mit seiner fachlichen Kompetenz und seiner ausgeklügelten Planung beeindrucken zu können. Vielleicht sollte er, Matthäus, ja sein langweiliges Beamtendasein an den Nagel hängen und in Zukunft Reisen organisieren und leiten. Er würde das so gut machen, dass er jedes Mal aufs Neue die Anerkennung, den Dank und die Bewunderung aller Reisegäste sicher hätte. Ständig stünde nur er im Mittelpunkt. Das würde Matthäus gefallen. Und dann würde selbst eine Reise nach Kopenhagen zum Event. So hingegen hat Matthäus keine besonders hohen Erwartungen. Aber er sagt nichts, um Cordulas gute Laune nicht zu zerstören.

Und Karl? Karl lässt alles auf sich zukommen und wartet mit seinem Urteil ab, bis die Reise zu Ende ist. Vielleicht wird er selbst dann kein Urteil fällen. Warum sollte er? Er kommt sowieso nur deshalb mit, weil Cordula ihn so energisch überredet hat und er – ebenso wie Matthäus – über Weihnachten ohnehin nichts Besseres zu tun hätte. Außerdem kann er auf diese Weise einem unangenehmen Weihnachtsbesuch bei seiner Oma Edeltraud entgehen. Er hofft auf ein paar ruhige, gemütliche und aufregungsfreie Tage.

Bald schon nähert sich die Fähre dem dänischen Festland. Und so gehen die drei Kollegen zusammen mit den anderen Fahrgästen zurück nach unten zu ihrem Bus und nehmen wieder ihre Plätze ein. Das Schiff legt an. Wenige Minuten später fährt der Bus los und verlässt als letztes Fahrzeug das Innere der Fähre. Ab jetzt befinden sich Matthäus, Cordula, Karl und ihre Mitreisenden auf dänischem Boden. Der Bus steuert nun direkt auf Kopenhagen zu.

Die letzten gut zwei Stunden der Fahrt vergehen ohne weitere Zwischenfälle. Matthäus liest zunächst seine Zeitung weiter und blättert anschließend in einem Reiseprospekt über den Roskilde-Fjord, den die drei unbedingt an einem freien Tag besuchen wollen. Das Wissen, das Matthäus auf diese Weise erlangt, findet er sehr interessant. Er nimmt sich vor, damit zu gegebener Zeit vor seinen beiden Kollegen zu brillieren. Cordula sieht sich derweil auf dem kleinen Bildschirm ihrer Digitalkamera ihre bisher geschossenen Fotos an und blickt zwischendurch immer wieder aus dem Fenster. Leider sind mittlerweile noch mehr dunkle Wolken aufgezogen und es regnet in Strömen. Das trübt ihre Stimmung erheblich. Karl hingegen merkt von alledem nichts. Er ist unterdessen wieder eingeschlafen und stört sich nicht an den Regentropfen, die unaufhörlich auf das Busdach plätschern.

Karl in Kopenhagen

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