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1.2.2. Vom freien Gedanken zum geschriebenen Wort

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GrésillonsGrésillon, Almuth Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben distanziert sich ausdrücklich von den Schreibprozessmodellen der Kommunikations-, Kognitions- und auch der SprachwissenschaftSprachwissenschaft, wie sie BereiterBereiter, Carl vertritt und die darin ausführlich [42]kritisiert sind.114Grésillon, AlmuthLudwig, OttoTextproduktion Plädiert wird für ein »Zusammenspiel der betroffenen Disziplinen«, um die »Viefalt von Schreibsituationen tatsächlich ins Auge« zu fassen;115Grésillon, Almuth Grésillon stört sich an jenen »Feld- und Laborexperimenten, die mit Schreiberinterviews und Eigenkommentaren, mit VideoVideo-Aufnahmen, Fehler- und Pausenanalysen arbeiten.«116 Der Zugang, den die Critique GénétiqueCritique Génétique im Gegensatz dazu anbietet, thematisiert weniger »Gedanken und EinfälleEinfall ›im Rohzustand‹« als »geschriebene EntwürfeEntwurf, Pläne, MaterialsammlungenEntwürfe, Pläne, Materialsammlungen des Schreibens sowie weitere Phasen des Entstehens und der Überarbeitung«.117 Von Grésillon unterschieden werden sechs Untersuchungsstandpunkte »schwarzer SpurenSpur auf weißem Grund«:118Spur (1.) Zeitverhältnisse, (2.) Raumverhältnisse, (3.) Schrift und Schreibwerkzeug, (4.) SchriftstellerSchriftsteller als Subjekt des SchreibprozessesSchreibprozess, (5.) Teilprozesse literarischen Schreibens, (6.) Ecriture à processus bzw. literarische bottom up-Schreibprozesse.119Grésillon, Almuth

Ad 1.) Die Betrachtung des aus Biographien, Korrespondenzen, PapierPapier- oder Wasserzeichenforschungen zu rekonstruierenden Entstehungsdatums eines literarischen Werkes birgt das Problem, dass der genaue zeitliche Ablauf wie auch die Dauer einzelner Schreibphasen kaum konkret festzustellen sind – GrésillonGrésillon, Almuth nennt dies die »gefrorene Zeit« einer HandschriftHandschriftDie »gefrorene Zeit« einer Handschrift.120 In der Konsequenz dieser Perspektive wird deren enorme Bedeutung für die Erforschung des SchreibprozessesSchreibprozess klarer:

Im Sinne objektiver, historischer Zeit können literarische HandschriftenHandschrift Epochen zugehören, für welche Informationen über die konkrete SchreibsituationSchreibsituation nicht spontan zur Verfügung stehen: Man denke nur an Beschaffung und Preis des PapiersPapier, an die Umständlichkeit abgeschliffener Gänsefedern [43]und die Unbeständigkeit der Tinte selbst sowie auch der Tintenfässer; all dies gehörte im 19. Jahrhundert noch zum Schreiberalltag. Im Sinne kulturhistorischer Gesetzlichkeiten ist weiterhin klar, daß literarische Handschriften nicht systematisch aufbewahrt wurden. So existieren in Deutschland und Frankreich relativ wenige Arbeitshandschriften, die über das 18. Jahrhundert zurückreichen, während dies in Italien […] schon viel früher bezeugt ist. Zum zweiten ist das Prestige, das ein AutorAutor im literarischen KanonKanon einer Nation erwirbt, ausschlaggebend dafür, daß seine Handschriften nicht nur privat, sondern auch staatlich überliefert werden. Wenn dies der Fall ist, so verfügt man tatsächlich über ein MaterialMaterial von faszinierendem Reichtum.121

Heute stellt sich vor diesem Hintergrund dieselbe Frage umso dringlicher, wie nämlich im ›Zeitalter‹ elektronischer MedienHandschriftenHandschrift im digitalen Zeitalter die Zeitverhältnisse der ComputerComputer-Handschrift die temporalen Phänomene des Schreibens zu bestimmen sind? Auch deshalb hat das ›Deutsche Literaturarchiv Marbach‹ mit seinem ›Literaturmuseum der ModerneLiteraturmuseum der Moderne‹ als wichtigste Institution in Deutschland längst damit begonnen, nicht nur wie eh und je ManuskripteManuskript und Typoskripte auf PapierPapier, sondern auch DiskettenDiskette, CDs, CD-RomsCD-Rom, FestplattenFestplatte bzw. digitale/digitalisierte DatenträgerDatenträger u.ä. zu archivieren, auszuwerten und kuratorisch auszustellen.122HandDerrida, Jacques

Ad 2.) Problematisch ist es in gleicher Weise, zu untersuchen, in welcher Schreibersituation – mit welcher Körpersprache (Gestik, Mimik) und mit welchen metasprachlichen Kommentaren (simultan oder retrospektiv) – jemand einen Text verfasst hat. Und »[u]m so mehr« sei man, so Grésillion, »angewiesen auf die räumlichen Indizien des PapiersPapier«123Grésillon, AlmuthDie »räumlichen Indizien des Papiers« in ihrer schriftlichen Zweidimensionalität:124Semiotik

HeftHeft oder fliegende BlätterBlatt? Nur recto oder recto und verso beschrieben? Große oder kleine Blattränder, beschrieben oder nicht? Zwischenzeiliger Raum [44]beschrieben oder nicht? Lineare, horizontales Fortlaufen der Schrift (dem Schriftbild einer Druckseite vergleichbar) oder freieres Spiel der Schriftzeichen mit dem graphischen Raum (an das Raumspiel der Graphik erinnernd und besonders für schreibvorbereitende Phasen bezeichnend, wenn die Gedanken- und Spracharbeit sich relativ umstrukturiert in alle Richtungen hin entwickelt)? Format der Blätter: klein wie gewisse Taschennotizblöcke […] oder groß (heutiges A3-Format) […]?125Grésillon, Almuth

Jedem Schreiber geläufig sei die »Tatsache, daß sich gegen das untere Ende einer Seite der Zeilenabstand sowie die Schrift selbst verkleinern«, und dies werfe ein »Licht auf den Zusammenhang zwischen gedanklicher Einheit des zu Schreibenden und materieller sowie visueller Einheit des SchreibraumsSchreibraum«; der »Griff zu einem neuen BlattBlatt« unterbreche »nicht nur den Schreibfluß, sondern auch den visuellen Überblick über das Geschriebene.«126 Auf diesen visuellen Aspekt des SchreibensDer visuelle Aspekt des Schreibens bzw. genauer: des Auf-Schreibens, der für die verbale Kommunikation der GestaltungGestaltung eminent bedeutend ist, wird an späterer Stelle nochmals – schreibpraktisch – zurückzukommen sein.127Handschrift

Ad 3.) Damit nahe verwandt ist die Betrachtung der geschriebenen ›Zeichen‹, die nicht unmittelbar zum Text-Produkt gehören,128BlattHandschriftPapierSchreibprozessGrésillon, Almuth sowie diejenige der benutzten Schreibwerkzeuge, was [45]FlussersFlusser, Vilém Schrift- und MedientheorieMedientheorie schon erwiesen hat; es macht einen enormen Unterschied, ob man mit Federkiel, Schreibkugel/SchreibmaschineSchreibmaschine, Bleistift/Filzstift, Kugelschreiber/Füller, mit Windows-ComputerComputer oder iMac schreibt.129Stingelin, Martin

Ad 4.) Eine weitere Möglichkeit, dem (literarischen) SchreibprozessSchreibprozess auf die SpurSpur zu kommen, besteht nach Grésillion darin, »natürliche Daten«130Grésillon, Almuth»[N]atürliche« Daten des Schreibens zu erheben – in dem Verständnis, den Schreiber als SchriftstellerSchriftsteller direkt (über Werkstattgespräche/Interviews)131 oder indirekt (über Poetikvorlesungen o.ä.)132 zu befragen, nicht ohne das Risiko dieses Vorgehens zu berücksichtigen, d.h. die Ergebnisse mit Vorsicht auszuwerten.133Grésillon, Almuth

Ad 5.) Nicht unterschätzt werden darf, dass für eine solche Textgenetik Sprache weniger als »Informationsträger« denn als »Kunst in statu nascendi« gilt: Schreiben wird dynamisch »in actu«, d.h. in seiner Entstehung rekapituliert – als »Produktionsschritte«Produktionsschritte des Schreibens bzw. »Teilprozesse«, nicht als, wie Grésillion sagt, »›Laborprodukt‹«:

Es geht also darum, diesen Schreibspuren so bis ins letzte Detail nachzugehen, daß die Statik der überlieferten BlätterBlatt als dynamischer Schreibprozeß interpretierbar wird. Konkret gesprochen, bedeutet dies, daß materielle Indizien, insbesondere solche des zweidimensionalen Raumes und des Schriftbildes, zu verwandeln sind in temporale Indikatoren, die ihrerseits etwas auszusagen vermögen über Prozesse und so der Zweidimensionalität der Schrift die dritte Dimension hinzufügen: die Zeit des Schreibens.134

Ad 6.) Wie Sylvie Molitor-LübbertMolitor-Lübbert, Sylvie fasst Grésillion das Schreiben als ein ›Schreiben im Schreiben‹ auf; empfohlen wird, nicht von einem »schemageleiteten ›top-down‹-Modell«, sondern von einem »textgeleiteten ›bottom-up‹-Verfahren«bottom-up-Verfahren statt top-down-Modell auszugehen.135Molitor-Lübbert, Sylvie Hierbei weiß der Schreiber nicht, wohin ihn das Schreiben gleichsam [46]treibt, was mit »Strategien und ziel- wie adressatenorientierten Schemata, die dem Schreiber helfen sollten, sein SchreibproblemSchreibproblem zu lösen«,136Grésillon, Almuth nicht mehr viel zu tun hat.

Damit ist das Element der KreativitätKreativität im Kreativen Schreiben direkt angesprochen; basierend auf den Ausführungen Grésillions muss für dessen Gesamtbestimmung veranschlagt werden, dass sein Prozess zwar deutlich zu initiieren, keineswegs aber eindeutig planbar ist. Mit Gerhard NeumannNeumann, Gerhard gesagt: »[D]ie Festschreibung erst bringt die Wucherung, die Normierung den Exzeß in Gang.«137Neumann, Gerhard Durch die Praktik, IdeenIdee buchstäblich fest zu schreiben, können sie erst wuchern; die Methode, – zunächst – der Norm zu folgen bzw. sie zumindest (auch in der Destruktion) zu bedenken, lässt exzessives Kreatives Schreiben erst entstehen.

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