Читать книгу Keine Aufstiegsgeschichte - Olivier David - Страница 10
ОглавлениеMontag, 24. Juni 2019 | 11.20 Uhr |
Alles ergibt plötzlich einen Sinn, schoss es mir unwillkürlich durch den Kopf, als mir die Therapeutin meine vorläufige Diagnose mitteilte. »Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung«, steht auf einem Zettel, den ich fortan zu anderen Therapeut:innen tragen darf, mit dem Ziel, dass sie mich als Patienten annehmen. Die extreme Geräuschempfindlichkeit, die binnen Sekunden hochkochende Wut, wenn Leute sich auf der Straße anpöbeln, die geringe Belastbarkeit, das Verlangen nach Ruhe, das Gefühl, dass selbst alltägliche Dinge schnell aus dem Ruder geraten, die Überzeugung, dass schöne Dinge nur an mir vorüberfliegen, aber nie haltmachen: Ja, all das würde plötzlich Sinn ergeben.
Der Blick der Therapeutin verriet Mitgefühl. Brauche ich nicht, habe ja keinen Krebs, denke ich. Nett ist sie trotzdem. Natürlich sei die Diagnose nur vorläufig und unter Vorbehalt, aber die Krankenkasse verlange eine Einordnung, erklärte sie mit sonorer Stimme. Wenn das stimmt, was da auf dem Zettel vor meiner Nase steht, schleppe ich dieses Fass nun schon seit annähernd dreißig Jahren mit mir herum: Mit ihm bin ich durch meine Schulzeit gestolpert, habe in Dutzenden Jobs gearbeitet, meine Schauspielschule gemeistert und mehrere Beziehungen geführt. Mein bisheriges Leben trägt nun den Stempel Posttraumatische Belastungsstörung. Eines ist klar: Wenn ich tatsächlich psychische Probleme habe, liegt der Grund dafür in meiner Kindheit. Aber Moment mal, ist PTBS nicht diese Soldatenkrankheit? Ich schaue nach und mache bei rund der Hälfte der gegoogelten Risikofaktoren vor meinem inneren Auge einen Haken.
Fehlende emotionale Unterstützung seitens der Eltern:
Aufwachsen in Armut:
Aufwachsen bei einem alleinerziehenden Elternteil:
Kriminalität, Dissozialität oder psychische Störungen eines Elternteils:
Fehlende familiäre Harmonie:
Ich muss unweigerlich an den vergangenen Freitag denken. Lucie und ich waren verabredet. Pünktlich klingelte ich an der Tür ihrer WG, doch sie machte nicht auf. Geduldig versuchte ich es noch zwei- oder dreimal, dann rief ich auf ihrem Handy an. Sie nahm nicht ab. Ich schaute durch die Fensterscheibe ihres Zimmers, nichts. Langsam ergriff mich die Panik. Ich lief um den Häuserblock herum, um im Innenhof nachzusehen, ob man von dort in die Küche schauen kann. Da glaubte ich bereits abwechselnd, dass sie umgekippt war oder dass jemand sie entführt haben könnte. Von solchen Fällen hört man ja immer wieder. An das Küchenfenster im Hof kam ich nicht heran, es lag zu hoch. Ich hatte es tiefer in Erinnerung. Das kleine Badfenster stand offen, aber trotz meiner Rufe blieb Lucie verschollen. Wieder lief ich vor die Haustür, klingelte, klopfte, rief. Mit einem Blick auf meine Uhr stellte ich fest, dass zwölf Minuten vergangen waren, seit wir verabredet waren. Auf der Rückseite versuchte ich mein Glück erneut, irgendwie musste man doch hochklettern können, um in die Küche zu schauen, nicht dass sie da irgendwo lag. Innerhalb weniger Minuten hatte ich mich von einem scheinbar normalen Menschen in einen emotionalen Zombie verwandelt. Olivier David, seit zwölf Minuten Gefangener seines Panikschädels. Gerade wollte ich mithilfe eines Brettes, das ich aus dem Gebüsch gezogen hatte, die Fassade zum Fenster hochklettern, da klingelte mein Handy. Auf dem Display stand ihr Name. Vierzehn Sekunden dauerte das Telefonat, nur ich redete, hörte aber nichts, da ich keinen Empfang hatte. War ich eben noch panisch, verlor ich nun vollends die Kontrolle. Ich stürmte wieder ums Haus herum zur Eingangstür, da sah ich sie stehen und lächeln. »Alles ist gut«, versuchte sie mich zu beruhigen, aber bei mir war nichts mehr gut, mein Zustand war besorgniserregend. Ich fiel ihr in die Arme, und für die nächsten zwanzig Minuten war ich am Boden zerstört. Ich war emotional so hinüber, dass ich nicht einmal weinen konnte. Vom einsetzenden Hyperventilieren waren meine Arme ganz schwer, die kleinen Finger an beiden Händen waren taub und kribbelten zugleich. Sie hatte Baklava für unseren Ausflug gekauft und mich an der Bushaltestelle abholen wollen. Meinen Bus hatte sie verpasst, darum wartete sie die nächsten drei Busse ab. Als ich dann immer noch nicht kam, ging sie schließlich zurück. Eine Bagatelle für die Menschheit, für mich ein Vorfall, der meine Grundfeste ins Wanken brachte.
Ich freue mich auf meine nächste Therapiestunde, denn es gibt viel zu besprechen. Die geschilderte Situation ist quasi eins zu eins vergleichbar mit der an jenem Tag, an dem ich mit vierzehn nach Hause kam und meine Mutter nicht zu Hause war, obwohl sie es hätte sein sollen. Erst wurde ich unruhig, dann verlor ich die Kontrolle über mein logisches Denken, rannte raus auf die Straße, rief ihren Namen, lief die Straße hoch zum Platz und wieder zurück, dann bis zum Einkaufszentrum und wieder zurück. Schließlich kam sie mir entgegen, völlig entspannt. Ich fing an zu heulen. Sie hatte sich nichts angetan, sie war einfach nur kurz einkaufen gewesen.
1Tua, Vorstadt, aus dem Album TUA (Chimperator Productions 2019)