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Montag, 24. Juni 201912.05 Uhr

Gerade habe ich meiner Mutter von der Verdachtsdiagnose PTBS erzählt. Erst guckte sie traurig, dann hellte sich ihr Gesicht etwas auf, vielleicht weil sie sah, dass ich jetzt die Kraft habe, mich auf eine Therapie einzulassen, mich sogar darauf freue, meine Baustellen anzugehen. PTBS ist auch bei ihr eine von mehreren Diagnosen, typisch für Menschen mit Gewalterfahrung in der Kindheit.

Sonntag, 30. Juni 201922.30 Uhr

Gestern waren Lucie und ich im Thalia Theater an der Gaußstraße. Das Stück hieß In der Schwebe, Regie führte irgendein kettenrauchender Endzwanziger. Die Schauspieler schrien sich so lang an, bis sie bei mir einen Kurzschluss verursachten. Erkenntnis: Theater ist ein Raum für heile Leute, die sich mit ihrer Eintrittskarte Nachhilfe in Empathie erkaufen, um wenigstens im geschützten Raum mitzuerleben, wie beschissen es anderen Menschen geht. Fast alle Zuschauer waren gut gekleidet und wirkten belesen, saßen gerade und schauten interessiert. Normales Theaterpublikum also. Ich fühlte mich nicht zugehörig, wie so oft. Das Stück handelte von zwei Geflüchteten, die sich zufällig in dem Land begegneten, in dem sie Zuflucht gefunden hatten. Der eine fand heraus, dass der andere zu den Rebellen übergelaufen war und seine Schwester vergewaltigt hatte. Um das herauszufinden, musste er permanent schreien. Lucie und ich saßen nur einen Meter von der kleinen Bühne entfernt, über siebzig Minuten starrten wir nach oben, als säßen wir in der ersten Reihe vor einer riesigen Kinoleinwand.

Das Geschrei katapultierte mich per Knopfdruck in das Zuhause meiner Kindheit zurück. Ich war ungefähr fünf Jahre alt. Meine Eltern brüllten sich in der Küche an, mal wieder. Nicht so, wie es in Vorabendserien hin und wieder mal kracht, eher ein Gleich-fliegen-hier-die-Löcher-aus-dem-Käse-Geschrei. Meine Schwester und ich lagen schon in unseren Stockbetten, doch von den beängstigenden Lauten aus der Küche aufgeschreckt, krabbelte ich wieder heraus und öffnete vorsichtig die Zimmertür. Schon damals spürte ich in solchen Situationen eine Ohnmacht in mir, die mich wie eine unsichtbare Kraft nach vorne trieb. Meine Schwester saß in ihrem Bett, doch obwohl sie älter war als ich, traute sie sich erst nicht aufzustehen. Mein Vater brüllte wie ein Löwe. Ich hatte eine Wahnsinnsangst vor diesem Mann, noch schlimmer war aber das Wissen, dass meine Mutter ihm scheinbar hilflos ausgesetzt war. Wie in Trance wagte ich mich vor, bis nur noch die mit einer Milchglasscheibe versehene Flurtür zwischen mir und meinen streitenden Eltern stand. Stumm fing ich zu weinen an. Ich konnte weder vor noch zurück, also blickte ich mich um. Hinter mir stand meine Schwester und sah mich an. Wie kleine Rehkitze standen wir so eine gefühlte Ewigkeit im Niemandsland zwischen Kriegsgebiet und Kinderzimmer, den Wunsch einzuschreiten im Herzen, die Körper jedoch starr vor Furcht. Irgendwann hörte man einen Schlag, dann nur noch unsere heulende Mutter, die unseren Vater anschrie.

Diese Erinnerung ist, wie so viele Erinnerungen an damals, schwach und konturlos. Meist habe ich nur einzelne Situationen vor Augen, wenn überhaupt. Oft sind es dumpfe, diffuse Gefühle von Angst oder Taubheit, der Rest ist gut verschlossen in Watte gepackt und lagert irgendwo ganz hinten in der Asservatenkammer meines Gehirnes.

Nachdem das Theaterstück endlich vorbei und der letzte Applaus verhallt war, brauchte ich den gesamten Abend, um wieder klarzukommen. Das war’s erst mal für mich mit Theater. Geld ausgeben, um mich in die Einzelteile meiner Kindheit zerlegen zu lassen, das muss wirklich nicht sein.

Keine Aufstiegsgeschichte

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