Читать книгу Keine Aufstiegsgeschichte - Olivier David - Страница 16
ОглавлениеMittwoch, 5. Dezember 2019 | 14.37 Uhr |
Nach einem Besuch bei einer Freundin, die gerade einen Vertrag an einem süddeutschen Theater unterschrieben hat, sitze ich im Zug auf der Heimfahrt. Viele Monate habe ich kein Tagebuch mehr geschrieben. Ich stecke zwischen der zweiten und dritten richtigen Sitzung meines spät erkannten Therapiebedarfes. Endlich! Endlich kann ich damit anfangen, in professionellem Rahmen an meinen Baustellen zu arbeiten. In der Therapie reden wir vor allem darüber, wie ich es schaffen kann, dass mir die Anspannung bewusst wird. Mir kommt es so vor, als würde sich in mir jedes Mal ein Schalter umlegen: von entspannt auf hundertachtzig in einer Sekunde. Mein Therapeut widerspricht und zeigt mir Übungen zur Achtsamkeit: wahrnehmen, was ist, nicht bewerten. Klingt leichter gesagt als getan, denn irgendetwas in mir zwingt mich, jedem Gedanken eine Stimmung zu geben, jedem Wort eine Bedeutung, jedem Blick einen Wert. Es ist wie ein Selbstschutz, der anspringt, doch anstatt mich damit vor etwas zu schützen, macht mein Drang, alles sofort in eine Schublade einordnen zu wollen, den unverstellten ersten Blick praktisch unmöglich. Als kleiner Junge auf dem Schulhof, in der Nachbarschaft oder später auf dem Skateplatz am Hochhausblock war die Bewertung von Menschen und Situationen wichtig, um nicht auf die Fresse zu bekommen, jetzt steht sie meinem inneren Wachstum im Weg und verhindert meinen Seelenfrieden.
Dabei will ich mir so gern nicht mehr länger im Weg stehen. Lucie und ich, wir haben es verdient, unsere zumindest bronzene Zukunft mit leichtem Gepäck zu beschreiten. Wenigstens dafür muss Ballast abgeworfen werden, wenn schon nicht für mich allein.
Vor ein paar Monaten habe ich eine kleine Wohnung um die Ecke gefunden, jetzt steht der Umzug an. Ich habe ein Volontariat bei einer Tageszeitung begonnen und bereits das erste Jahr überstanden, nun zähle ich die Tage, Wochen und Monate, bis es vorbei ist. Doch der Friede ist brüchig. Vor ein paar Tagen habe ich meinen Mitbewohner am Telefon angeschissen, weil er zum dritten Mal den Kellerschlüssel mitgenommen hat, anstatt ihn wieder in die Wohnung zu legen. Vor Wut legte ich mitten im Schreien auf. Und jetzt sitze ich hier, sehe, wie mein Therapeut nickt, während ich mich kluge Sätze sagen höre wie: »Ich kann nur lernen, meine Wut zu kanalisieren, weiß aber, dass sie immer da sein wird.« Meine Wut. Seit mindestens fünfundzwanzig Jahren renne ich mit ihr herum – und mit vielen weiteren Eigenschaften, die ich nie bestellt habe. Dafür mache ich das ganz okay, finde ich.
Sonntag, 8. Dezember 2019 | 17.45 Uhr |
Die Einschläge kommen näher. Vor etwa zwei Stunden sind wir zum x-ten Mal aus meiner WG zu Lucie geflohen, weil ich es dort nicht mehr aushalten konnte. Es ging genauso los wie beim letzten Mal. Aus dem Nichts kam die Trauer, darauf folgte ein langes, ehrliches Gespräch, an dessen Ende nun die Erkenntnis steht, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Dabei wollten wir uns doch eigentlich einen gemütlichen Abend machen. Ich denke bereits seit Tagen darüber nach, wie ich das Volontariat vorzeitig beenden kann. Mein Körper und Geist brauchen in einem Maße Ruhe, die in einer Vierzigstundenwoche nicht zu bekommen ist. Der Zusammenbruch heute und der erste Anfall dieser Art vor einigen Monaten in Kiel ähneln sich auf beängstigende Art und Weise. Im Herbst waren wir für zwei Tage in einem Ferienappartement direkt am Meer. Gerade angekommen, konnte ich mich nicht länger zusammenreißen, und Lucie musste den Instruktionen unserer Gastgeberin ohne mich folgen, während ich mich auf das Sofa setzte und hoffte, dass sie bald wieder gehen würde. Kaum war sie raus, ließ sich mein erster Zusammenbruch nicht länger unterdrücken: Tränen, schmerzende Schultern und Angst. Zwei Stunden lag ich in Lucies Schoß, unfähig, auch nur einen Muskel zu rühren. Damals verstand ich nicht, was mit mir passierte, und auch jetzt, in der Sicherheit ihrer Wohnung, verstehe ich es nicht. Immer wieder fange ich an zu weinen. Mein Problem ist, dass es mir schwerfällt, Schwäche zu zeigen, Schwäche überhaupt zuzulassen. Nur dass die Schwäche sehr besitzergreifend ist und mir Mittel und Wege fehlen, ihr zu widerstehen.
Am Mittwoch habe ich wieder Therapie, bis dahin muss ich noch durchhalten, irgendwie. Auszeit, ich brauche eine Auszeit. Ich nehme mir vor, meinen Therapeuten darauf anzusprechen.
Tausende Gedanken schwirren in meinem Kopf herum. Gerade habe ich ein Projekt abgesagt, auf das ich mich eigentlich sehr gefreut hatte. Für einen Sammelband hätte ich die Biografie eines Kommunisten recherchieren sollen, der 1945 auf dem Todesmarsch vom KZ Fuhlsbüttel nach Kiel-Hasse erschossen wurde. Mir blutet das Herz, aber ich fühle mich momentan einfach zu nichts imstande. Lucie schreibt für mich auf eBay mit einem Typen, der Laminat verkauft. Bevor wir gehen, packt sie meinen Rucksack, bestellt Essen, kocht Tee. Aktuell schreibe ich neben meiner Arbeit in der Redaktion zwei freie Texte. Mit der Biografie wären es drei gewesen – zu viel. Und diese ganze Erschöpfung und die Schwäche prasseln in einer Zeit auf mich ein, in der ich immer mehr zu mir selbst finde. Kommt das alles erst dadurch ans Tageslicht? In dem knappen Jahr meiner Beziehung mit Lucie habe ich bereits mehr geheult als in den vergangenen Jahrzehnten zuvor. Bei ihr darf ich schwach sein, und auf einmal ist da so viel Schwäche. Bei unseren ersten Dates war sie es, die nicht mitleidig guckte, als ich ihr erzählte, wie ich aufgewachsen bin. Sie hatte zwar nicht die gleichen Erfahrungen gemacht, wusste aber, dass das Leben nicht nur aus Freude und Harmonie besteht. Es war ihr offener, unerschrockener Blick, der mich zu ihr hinzog.
Jetzt spüre ich, wie ich einerseits zugänglicher werde, mich aber andererseits abkapsele: Ich ziehe mich in meine eigenen vier Wände zurück und treffe immer seltener Freund:innen. Zu gern würde ich wissen, ob ich mich in meiner Entwicklung gerade bereits mitten in der Achterbahnfahrt befinde oder ob ich eben erst die Karte gelöst und den Gurt angelegt habe, noch auf dem Weg nach oben, bevor es dann schnell und lange bergab geht.