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Die wilden Siebziger

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Meine Eltern lernten sich irgendwann im Laufe des Jahres 1979 in einer Eimsbütteler Eisdiele kennen, in der es neben verschiedenen Eissorten und Kaffee auf Nachfrage auch harte Drogen zu kaufen gab. Michel, der kleine Franzose mit dem braunen Lockenkopf aus einem Pariser Vorort, und Petra, das Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen vom östlichen Stadtrand Hamburgs. Nachdem Petra und Michel sich über gemeinsame Freunde schon ein paarmal begegnet waren, kam es zu einem ersten Deal. Petra hatte von ihrem letzten Trip nach Berlin hundert LSD-Pillen im Gepäck, und in Michel fand sie einen nervösen, aber willigen Käufer.

Mit siebzehn war Petra von zu Hause abgehauen. Die Schläge ihres Vaters, der ständige Psychoterror, die ewigen Lügen, um sich auch nur kleinste Freiheiten zu erkämpfen, das alles wurde zu viel. Als Kind eines Haustyrannen, den Folter und KZ-Haft während der Nazizeit hart gemacht hatten, und einer Mutter, die es nicht vermochte, Widerworte zu geben, lebte sie ein richtiges Hundeleben. Dann lieber arm und frei als arm und gefangen in einem Korsett aus sozialer Kälte und Angst vor dem nächsten Wutausbruch des unberechenbaren Vaters.

Nach ihrer Flucht kam Petra zunächst bei Freund:innen unter, die ein wenig älter waren als sie, und in den kommenden Jahren wohnte sie mal hier, mal dort. Die Ausbildung in einer Anwaltskanzlei brach sie ab, ebenso wie Jahre später eine Ausbildung zur Erzieherin. Die Ausbildungen durchzustehen, dazu fehlte ihr schlicht die Kraft. Früher war die Schule eine Flucht von zu Hause gewesen, weshalb sie gern hingegangen war. Jetzt aber, da das Chaos in ihr herrschte und sie alle paar Monate umzog, verfügte sie nicht über das notwendige Durchhaltevermögen, um wenigstens den Hauch einer Chance zu haben.

Je prekärer ein Mensch lebt, desto kürzer wird der Zeitraum, in dem er die Kontrolle über seine Ziele und sein Handeln hat. Die Umstände, in denen sie aufgewachsen war, erzeugten einen hohen Leidensdruck, der ihr die Energie und Kraft raubte, sich langfristig aus ihrer Situation zu befreien. Wäre es nach dem Willen ihrer Eltern gegangen, sie hätte ihre Schullaufbahn bereits nach der Hauptschule beendet. »Du heiratest ja doch, wozu brauchst du dann den Realschulabschluss«, hatte ihre Mutter einmal zu ihr gesagt. Der Realschulabschluss, den sie sich erstritt, war also schon eine kleine Revolution. Weiter ging es nicht, zumindest nicht linear. Dafür sammelte sie in jungen Jahren allerhand Erfahrungen, von denen ihre Eltern nichts ahnten. Sie probierte sich aus: Haschisch, Pilze, LSD – nur Alkohol war nie wirklich ihr Ding.

Mit Michel hatte sie bald einen charmanten und experimentierfreudigen Abenteurer an ihrer Seite. Kaum eine Droge, die er noch nicht ausprobiert hatte. Das, was noch fehlte, holte er nach, als er und Petra ein Paar wurden. Über mehrere Wochen hinweg spritze sich Michel Kokain direkt in die Venen, anstatt es zu schniefen. So war die Wirkung stärker. An Schlaf war in dieser Zeit nicht zu denken, so heftig ballerte das Koks durch seinen kleinen Körper, an dem vieles auffallend groß war: die Nase, die Ohren, die Stirn. Michel rauchte täglich Hasch, zwischendurch experimentierte er ein wenig mit Heroin, später auch mit Opium. Und er dealte. Hauptsächlich mit Hasch, in Spitzenzeiten wurde er mehrere Hundert Gramm am Tag los, als Stammdealer im Café Falke. Und wenn es mal ein paar Pillen zu verscheuern gab, warum nicht? Schon mit Anfang zwanzig hatte er mehr von der großen weiten Welt gesehen als seine Mutter, die vier Kinder geboren und die deutsche Besatzung überlebt hatte.

Anders als Petras Vater, der als Hilfsarbeiter jobbte und nachts auf die Felder der Umgebung schlich, um Gemüse zu stehlen, hatte es Michels Vater auf die Universität geschafft. Als Ingenieur war er die meiste Zeit außer Haus, oft auf Reisen in Europa und Asien. Da er aber vier Söhne und eine Frau zu versorgen hatte, war das Portemonnaie am Ende des Monats trotzdem oft leer. Obwohl es bei beiden Familien häufig nicht reichte, war es die vorhandene Bildung von Michels Vater Jacques, die den Unterschied zwischen beiden Familien machte. Aufgrund seiner Reisen und durch den Beruf begriff Jacques sich als Mann von Welt. Die Konsequenz, die sich daraus ergab, nämlich, dass Michel sich, abgestoßen von der ewigen Besserwisserei seines Vaters, nach einer anderen Lebensrealität umguckte, war allerdings dieselbe wie bei Petra. Beide wurden sie erdrückt durch die Enge des elterlichen Heimes.

Mit jedem Mist, den Michel baute, wuchs der Abstand zu seinem Vater. Also sorgte Michel konstant für Aufregung. Im Alter von sechzehn Jahren band er eines Morgens eine dicke Kette um das Schultor. Als sich die Schüler:innen vor dem Eingang stauten, lief er umher und verteilte anarchistische Flaggen. Ein Jahr später wurde er von seinen Eltern auf ein Internat nach Rouen geschickt. Lange hielt Michel es dort nicht aus, nach einem halben Jahr haute er ab. Damit seine Flucht nicht auffiel, schlich er sich eine Zeit lang frühmorgens vor seinem Elternhaus in Mantes-la-Jolie herum und wartete darauf, dass der Postbote die Nachricht aus dem Internat über sein Fernbleiben ablieferte, um sie aus dem Briefkasten zu fischen, bevor seine Eltern sie lasen.

Als er zwanzig war, unternahm Michel mit einem Freund eine Reise nach Wiesbaden. Dort machten die beiden die Bekanntschaft mit einem G. I., der ihnen ein Geschäft vorschlug: Michel sollte nach Hamburg fahren und dort von dem Geld des G. I. LSD kaufen, das dieser dann in der Kaserne unter seinen Kameraden verkaufen wollte. Am Ende würden alle davon profitieren. Michel fuhr also nach Hamburg, doch irgendwie blieb er in der Hansestadt hängen, und der G. I. sah sein Geld nie wieder. Nach ein paar Monaten wurde Michel schließlich mit einer ALDI-Tüte voll Hasch bei einer Kontrolle im Café Falke festgenommen, es folgten drei Wochen in der Untersuchungshaftanstalt am Dammtor. Die beiden Menschen, die später einmal meine Eltern werden würden, kannten sich zu dem Zeitpunkt schon, und wer schickte Michel einen Anwalt? Meine Mutter natürlich.

Für ihn ging es damals nicht zum letzten Mal in den Knast. Ein paar Monate nachdem er freikam, fuhr er erneut ein, diesmal gleich für mehrere Monate. Einer seiner Kunden hatte ihn verpfiffen, nachdem dieser von der Polizei erwischt worden war.

Es sollte noch einige Jahre dauern, bis Petra und Michel Eltern wurden. Nach dem zweiten Mal im Gefängnis betrieb Michel sein Bisnes zwar weiter, aber er wurde vorsichtiger. Auf keinen Fall wollte er ein drittes Mal ins Gefängnis.

In einem Teeladen begann Michel eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Auch Petra, die seit ihrer Flucht von zu Hause nie zur Ruhe gekommen war – erst schloss sie sich einem politischen Lesezirkel vom Kommunistischen Bund an, in dem sie ihren Durst nach Bildung zu stillen versuchte, später landete sie in der Drogenszene –, fand durch die Beziehung mehr zu sich selbst. Von einem auf den anderen Tag hörte sie mit dem Rauchen, dem Kiffen, ja, mit allen anderen Drogen auf. Über einen Freund lernten sie und Michel die Hare-Krishna-Bewegung kennen, eine Sekte, die durch Beten und Askese ihrem Gott Krishna näherkommen will. Doch wie das so ist, wenn die Psyche erst einmal ins Ungleichgewicht geraten ist, die Probleme, die sie über all die Jahre aufzulösen versucht hatte, kamen genau in dem Moment zum Vorschein, in dem sich ihnen der Raum dafür bot. Mit dem Umzug in eine gemeinsame Wohnung etwas außerhalb ihres Viertels schlidderte sie in eine handfeste Depression.

Keine Aufstiegsgeschichte

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