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Genauigkeit, Exaktheit und Bedürfnisse
ОглавлениеUnd doch lassen sich anscheinend ungefähre Einschätzungen menschlichen Glücks vornehmen. Vielleicht ist das ja auch ausreichend. Schließlich brauchen wir ja keine hundertprozentige Präzision, sondern nur eine vertretbare (wenn auch vage) Genauigkeit. Wir wissen, dass Hunger und Armut zu Elend führen und dass dieses Elend beendet wird, wenn es genug zu essen gibt. Müssen wir denn wirklich mehr wissen?
Wenn wir Utilitarier sind, müssen wir sehr viel mehr in Erfahrung bringen. Wir müssen nicht nur wissen, welche allgemeinen Resultate wir anstreben sollten, sondern auch, welche Mittel dazu geeignet sind. Da schon winzige Änderungen im Verhalten und in der Politik die Ergebnisse massiv beeinflussen können, müssen wir einen exakten Vergleich vieler Resultate vornehmen. Dies zeigen schon die vielen Beispiele, wie wohltätige Aktivitäten zu nicht erwarteten Ergebnissen geführt haben. Viele Entwicklungshilfemaßnahmen zur Nahrungsversorgung haben denjenigen, denen sie helfen sollten, tatsächlich geschadet und Menschen, die nicht zu den Ärmsten der Armen zählen, genützt. (Damit soll nicht gesagt werden, dass wir auf Nahrungsmittellieferungen verzichten sollten – vor allem nicht in Zeiten von Hungersnöten –, doch sie reichen nicht aus, um das Elend zu beenden, und können, so sie fehlgeleitet werden, auch schaden.) Einige Entwicklungshilfemaßnahmen, die den Lebensstandard durch Anbau von Getreidesorten, die auf den Märkten hohe Preise erzielen, heben sollten, haben die Lebensgrundlage von Subsistenzbauern zerstört und die ärmsten Schichten noch ärmer gemacht. Von Entwicklungshilfe profitieren häufig jene, die Hilfe nicht so dringend benötigen würden, manchmal auch schlicht die Korruptesten im Land. Die Allgegenwart der Korruption zeigt auch, wie wichtig es für Utilitarier ist, exakte Vorhersagen darüber zu treffen, wie sich das menschliche Glück steigern lässt. Gute Absichten sind wohlfeil, aber eine Strategie der Wohltätigkeit lässt sich nicht festlegen, wenn wir die Resultate nicht exakt vorhersagen und vergleichen können.
Um ihre Berechnungen anzustellen, brauchen die Utilitarier nicht nur exakte Messmethoden für Glück, sondern auch exakte Vorhersagen der Resultate, die die einzelnen Maßnahmen bewirken. Sie brauchen jene Art umfassender und vorhersagestarker Sozialwissenschaften, die viele Forscher anstreben, ohne sie aber bis dato erreicht zu haben. Im Moment lassen sich nicht einmal die grundlegendsten Meinungsverschiedenheiten zwischen rivalisierenden Utilitariern lösen. Wir können nicht nachweisen, ob Glück gesteigert wird, indem wir in unserem unmittelbaren Umfeld, wo wir persönlich einschreiten können, Wünsche erfüllen (auch wenn diese Wünsche nicht unbedingt echte Bedürfnisse darstellen). Oder ob wir unsere Hilfeleistungen auf die Bedürftigsten konzentrieren sollten. Tatsächlich wissen wir häufig zu wenig, um auch nur exakt vorhersagen zu können, welche Maßnahmen der öffentlichen Hand den Ärmsten zugutekommen würden.
Und selbst wenn die Utilitarier jene exakten Methoden zur Vorhersage und Kalkulation entwickeln würden, die im Moment noch fehlen, könnte es sein, dass die Resultate den Armen keine Hilfe bringen. Denn utilitaristisches Denken legt keinen sonderlichen Wert auf menschliche Bedürfnisse. Das Glück, das aus der Wunscherfüllung für die Menschen in unserem Umfeld entsteht – selbst wenn dies Wünsche nach Gütern sind, die sie nicht wirklich brauchen –, zählt genauso viel oder mehr als das Glück, das aus der Beendigung echten Leids entsteht. Alles, was zählt, ist die Intensität des Wunsches. Wenn die Bedürftigsten so schwach und apathisch sind, dass sie keine starken Wünsche mehr haben oder sich Dinge wünschen, die in ihre Realität passen, dann könnten im utilitaristischen Kalkül ihre Bedürfnisse sogar eher weniger zählen als mehr. Außerdem wissen wir, dass Wohltätigkeit, die zu Hause anfängt, wo die Wünsche der anderen für uns deutlich sichtbar sind, so viele Empfänger findet, dass sie auch zu Hause endet. Wenn Bedürfnissen im ethischen Denken nicht bestimmte Prioritäten zugewiesen werden, gehen sie möglicherweise unter.
Das utilitaristische Denken lässt also viele Probleme ungeklärt und ungelöst. War es wohltätig, riesige Summen an Entwicklungshilfe als Darlehen zu vergeben, obwohl die steigenden Zinssätze einen Großteil der Exporteinnahmen armer Länder auffressen? Die aktuell reichen Länder haben sich entwickelt zu einer Zeit, als die Zinssätze niedriger und stabiler waren: Heute aber kontrollieren sie die Grundregeln einer Weltwirtschaft, die den armen Ländern nicht dieselben Entwicklungschancen lässt. Hat es das Glück maximiert, den armen Ländern unter diesen Bedingungen Darlehen zu geben? Oder wäre das Glück größer, wenn sie eher kleinteilige Investitionen vor Ort genützt hätten? Oder würden die Kosten des so verlangsamten Wachstums das Elend im Land allgemein vergrößert haben, was sich mit Darlehen, selbst zu höheren Zinssätzen, hätte vermeiden lassen? Das sind bittere Fragen, und ich kenne darauf keine allgemeine Antwort und auch keine länderspezifische Antwort. Ich werfe sie hier nur auf, um die Schwierigkeiten zu veranschaulichen, die sich bei der Entscheidung für richtige oder falsche Handlungsweisen ergeben, wenn man sich auf Vorhersagen und Kalkulationen über maximales Glück verlässt.