Читать книгу Gerechtigkeit über Grenzen - Onora O'Neill - Страница 32
Schlussfolgerungen und nachträgliche Einfälle
ОглавлениеDie Theorie der Pflichten, die ich hier kurz skizziert habe, ist den meisten von uns erstaunlich vertraut. Sie unterscheidet sich nur wenig von den menschlichen Pflichten, die man im christlichen oder einem anderen religiösen Umfeld antrifft. Und sie hat ihren Weg in die Welt der Sprichwörter gefunden. Viele Entwicklungshilfeorganisationen haben sich ein chinesisches Sprichwort zum Motto gewählt: „Gib einem Menschen einen Fisch, und du ernährst ihn für einen Tag. Bring ihm das Fischen bei, und du ernährst ihn für das ganze Leben.“ Obwohl diese Position traditionell und vertraut ist, wird sie von heutzutage favorisierten ethischen Theorien kaum unterstützt. Utilitaristische Positionen verfolgen das Streben nach Glück, ohne sich um die Erfüllung von Bedürfnissen zu bemühen. Die Menschenrechtsperspektive versäumt es, eine Pflicht zur Unterstützung der Bedürftigen zu begründen. Daher möchte ich diese kurze Skizze mit einigen polemischen Fragen abschließen und nicht mit einem Gefühl der Gewissheit. Wie und warum haben wir es möglich gemacht, dass vage Bilder von maximalem Glück und selbstbezogene Visionen von der Einforderung von Menschenrechten unser Verständnis für so zentrale ethische Elemente wie Gerechtigkeit, Wohltätigkeit und Respekt für die Autonomie des Menschen trüben? Warum sind so viele Menschen sich sicher, dass unsere Verpflichtung dem Anderen gegenüber sich darin erschöpft, dass wir uns nicht in ihre Angelegenheiten einmischen – und letztlich nichts tun?
Wenn menschliche Pflichten sich auf die Forderung nach Achtung vor und Sorge für die Autonomie der anderen gründen, dann finden wir vielleicht eine weitere Aussage von Simone Weil interessant:
Diese Verpflichtung ist dann erfüllt, wenn die Achtung einen tatsächlich und nicht nur vorgeblich wirksamen Ausdruck findet; was nur auf dem Wege über die irdischen Bedürfnisse des Menschen geschehen kann. Das menschliche Gewissen hat diesbezüglich immer unveränderlich gleich geurteilt. Schon die Ägypter vor Tausenden von Jahren glaubten, eine Seele könne nach dem Tode keine Rechtfertigung erlangen, wenn sie nicht sagen könnte: „Ich habe niemand Hunger leiden lassen.“ Alle Christen müssen befürchten, eines Tages aus Christi eigenem Munde die Worte zu vernehmen: „Ich habe Hunger gehabt, und du hast mir nicht zu essen gegeben.“ Jeder stellt sich den Fortschritt in erster Linie als den Übergang zu einem gesellschaftlichen Zustand vor, in welchem die Menschen nicht mehr Hunger leiden.28
Um diesen Sprung zu vollziehen, reicht es tatsächlich nicht aus, dem Bettler am Tor eine Mahlzeit zu geben. Die Chancen in der Moderne sind vielfältiger. Daher ist politisches Handeln ebenso – ja vielleicht noch mehr – gefragt als ein rein individuelles. Natürlich kann kein Mensch alles tun. Doch das wird ohnehin nur jene treffen, die sich eine ausschließlich individuelle Konzeption von menschlichem Bemühen und Erfolg zueigen gemacht haben. Wenn wir im Hinterkopf behalten, dass viele menschliche Bemühungen und Erfolge nicht individuell sind, werden wir das weiter nicht problematisch finden. Wir dürfen also schlussfolgern, dass kein Individuum und keine Institution daran gehindert werden kann, Entscheidungen, die in ihrer Macht stehen, so zu treffen, dass sie die Pflichten gegenüber den Hungernden erfüllen helfen, statt sie zurückzuweisen.