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Die Pflichten der Gerechtigkeit

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Eine Theorie der Pflichten kann bei Überlegungen zum Welthunger nur dann Sinnvolles beitragen, wenn es möglich ist zu zeigen, welche Pflichten Menschen haben. Die Mühe, dies ohne Rückgriff auf theologische Grundlagen zu tun, hat im 18. Jahrhundert Immanuel Kant auf sich genommen. Kants Arbeit gilt manchen als Menschenrechtstheorie. Das mag daran liegen, dass er seine Argumente auf eine Konstruktion gründet, die analog bei der Einschätzung der Menschenrechte als Ausdruck maximaler menschlicher Freiheit oder Autonomie Anwendung fand. Denn er fragt danach, welche Handlungsmaxime von allen Akteuren geteilt werden kann. Die grundlegenden Handlungsmaximen müssen teilbar sein. Es geht nicht an, dass Prinzipien nur für einige Privilegierte da sind. Kants Methode, die Prinzipien der Pflichten festzulegen, lässt sich nicht auf die oberflächlichen Details des Handelns anwenden: Wir können nicht das Getreide verzehren, das jemand anderer isst, oder alle unter demselben Dach leben. Aber wir können versuchen, darauf zu achten, dass die grundlegendsten Maximen unseres Lebens und unserer Institutionen von allen geteilt werden können, und dann ausarbeiten, was diese Maximen für jeweils einzelne Situationen bedeuten.

Das Kantische Prinzip liefert einige interessante Schlussfolgerungen im Hinblick auf menschliche Verpflichtungen. So gehört zu den Pflichten der Gerechtigkeit, die dieses Prinzip fordert, zum Beispiel die Freiheit von Zwang. Denn ein grundlegendes Prinzip des Zwanges kann nicht von allen geteilt werden, da jene, die gezwungen werden, letztlich am Handeln gehindert werden und daher dieses Prinzip des Handelns nicht teilen können. Zwang, so könnten wir mit Kant sagen, ist nicht universalisierbar. Doch dieses Argument allein sagt uns noch nicht, was die Freiheit von Zwang in bestimmten Situationen erfordert. Offensichtlich schließt es viele Dinge aus, die auch die Beachtung der Freiheitsrechte ausschließt. So schließt das Prinzip der Freiheit von Zwang aus, dass wir andere töten, verletzen, angreifen und bedrohen. Dieses Spektrum von Pflichten, die sich aus dem Prinzip der Freiheit von Zwang ergeben, sind für die Wohlhabenden genauso bedeutsam wie für die Hungernden. Andere Aspekte dieses Prinzips sind hingegen hauptsächlich für die Hungernden von Belang. Wer also auf ein solches Prinzip abzielt, muss sich klar machen, dass es immer vergleichsweise einfach ist, jene zu zwingen, die schwach oder verletzlich sind, und zwar auch durch Aktivitäten, die für die wohlhabenderen oder mächtigeren Menschen keinerlei Zwang bedeuten würden.

Wollen wir Zwang vermeiden, dann geht es dabei nicht um eine kurze Liste von Einmischungen in anderer Leute Tun, wie der Rechte-Ansatz uns dies nahelegt. Zwang zu vermeiden heißt sicherzustellen, dass wir in unserem Umgang mit anderen diesen den Raum lassen, die angebotenen Chancen und Möglichkeiten wahrzunehmen oder auch nicht. Dies zeigt auch, warum die Betonung der Pflicht, keinen Zwang auszuüben, so aussagekräftig ist, wo es um unseren Umgang mit den Armen und Schwachen geht: Sie sind nun einmal leichter zu etwas zu zwingen. Wir können ihnen mit größter Leichtigkeit „Angebote machen, die sie nicht ablehnen können“.27 Chancen, die unter Gleichgestellten durchaus echte Angebote darstellen können, die diese annehmen oder zurückweisen können, sind für die Bedürftigen und Schwachen bedrohlich oder eben nicht abweisbar. Wer verwundbar ist, kann durch ganz normale wirtschaftliche oder gesetzliche Maßnahmen Schaden erfahren: durch Geschäftsabschlüsse, die gefährliche industrielle Prozesse im Lebensraum der Armen installiert; durch massive politische Zugeständnisse, die für Investitionen oder angebliche Entwicklungshilfe gefordert werden; durch brutale wirtschaftliche Auflagen für „Entwicklungshilfe“ wie zum Beispiel unnötige Importe von der „Geber“-Nation.

Arrangements dieser Art üben Zwang aus, selbst wenn sie nach außen hin den Regeln wirtschaftlichen und gesetzlichen Handelns gehorchen. Diese Regeln wurden für Parteien gemacht, die in etwa über dieselbe Machtfülle verfügen. Doch genügen sie unter Umständen nicht, um die Machtlosen zu schützen. Daher müssen sowohl Individuen als auch Institutionen wie Unternehmen und Regierungen (im Norden wie im Süden), aber auch Hilfsorganisationen hohe Standards erfüllen, wenn sie den Schwachen nicht durch ganz normale gesetzliche, diplomatische und wirtschaftliche Maßnahmen schaden wollen. Wirtschaftliche oder materielle Gerechtigkeit kann nicht erzielt werden, ohne darauf zu achten, dass institutionalisierte und individuelle Formen des Zwangs vermieden werden.

Eine zweite grundlegende Pflicht der Gerechtigkeit ist die, auf Täuschung zu verzichten. Auch ein Prinzip der Täuschung wäre nicht universalisierbar, weil die Opfer eines Betrugs – wie die Opfer von Zwang – letztlich daran gehindert werden, das Handlungsprinzip des Täters zu teilen, das ihnen ja verborgen bleibt. Da die Pflicht zur Freiheit von Täuschung jedoch für alles öffentliche und politische Leben von Belang ist und nicht nur für die Armen, die Hungernden und die Schwachen gilt (auch wenn sie am leichtesten zu täuschen sind), werde ich mich mit diesem Prinzip hier nicht weiter beschäftigen.

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