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2.

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»Ein Hühnerfuß?!«

Oberkommissarin Elvers hielt den Plastikbeutel mit dem abgetrennten Fuß ungläubig gegen das Fenster des Besprechungszimmers. Er war gelblich weiß und besaß vier Glieder mit Krallen.

»Und den hatte er wirklich im Mund?«

»Exakt«, ächzte Helwig. Sie sah müde aus. »Offenbar besitzt der Mörder einen ziemlich eigenwilligen Humor.«

Elvers legte den eingetüteten Hühnerfuß zurück auf den Konferenztisch und schob ihn mit spitzen Fingern weiter. Leitner betrachtete ihn eingehend, rührte ihn aber nicht an.

»Das erinnert mich an meine Kindheit auf dem Bauernhof«, meinte er und griff nach der Tasse mit seinem Morgenkaffee. »An das Schreien der Viecher. Sie haben es immer gewusst, wenn sie geschlachtet wurden. Vor allem die Schweine.«

»Deine Viecher sind wenigstens schnell gestorben. Ganz im Gegensatz zu dem armen Kerl da.« Helwig nickte in Richtung der Fotos, die zwischen ihnen auf dem Tisch lagen. Sie zeigten den nackten, am Dachbalken aufgehängten Leichnam samt seinen Verletzungen. Ein Bild zeigte das Gesicht des toten jungen Mannes in Großaufnahme.

»Zu so etwas ist nur ein echter Psychopath fähig«, meinte Helwig. »Seht euch nur die vielen unterschiedlichen Wunden an. Der Typ ist krank und gefährlich. Ein durchgeknallter Sadist!«

»Und was ist mit dem Hühnerfuß im Mund?«, fragte Leitner. »Machen Sadisten auch so etwas?«

Er nippte mit spitzen Lippen an seinem Kaffee.

»Vielleicht ist er ja auf einem Bauernhof aufgewachsen«, gab Helwig über den Tisch zurück.

Als Leitner ansetzte, um die Spitze seinerseits zu kontern, gebot Moses dem Geplänkel Einhalt, indem er die Hand hob.

»Das reicht!«, sagte er. »Wir sollten uns nicht in Mutmaßungen verlieren. Solange wir keinen abschließenden Bericht aus der Gerichtsmedizin haben, kennen wir nicht einmal die genaue Todesursache oder den Todeszeitpunkt. Also lassen wir die Kirche vorerst im Dorf.«

Weiter kam er nicht, denn Viteri platzte mit einem Computerausdruck in das Besprechungszimmer.

»Bingo«, rief er. »Wir haben ihn! Die Fingerabdrücke des Toten waren im System.«

Rund um den Tisch breitete sich Schweigen aus. Alle sahen ihn erwartungsvoll an.

»Was habt ihr?«, fragte Viteri irritiert. »Warum glotzt ihr so? Hab ich etwas im Gesicht kleben?«

Moses seufzte. »Sagen Sie uns einfach, was Sie gefunden haben.«

»Äh, ja. Natürlich.« Viteri versetzte seiner schwarzen Hornbrille einen Stups und sah auf das Blatt in seiner Hand. »Also, der Tote, der aus dem leeren Haus, heißt Jan Mattis. 28 Jahre. Geboren und aufgewachsen in Lübeck. Mittlere Reife, danach abgebrochene Mechanikerlehre. Zuletzt war er in der Kastanienallee gemeldet.«

»Das ist ja nur drei Gehminuten vom Tatort entfernt!«, warf Elvers ein.

»Genau. Aber es kommt noch besser!« Viteri holte tief Luft: »Laut seiner Akte ist Mattis, äh, war Mattis wegen Drogenbesitz vorbestraft.«

Er reichte den Computerausdruck an Moses weiter, der ihn überflog.

Währenddessen schlug Elvers ihre Beine übereinander und runzelte die Stirn. »Wenn es um Drogen geht, haben wir es unter Umständen mit einem Racheakt innerhalb der Szene zu tun. Vielleicht eine ausländische Gang. Diese Verstümmelungen, das sieht mir nicht nach einem üblichen Streit unter Kleindealern aus.«

»Da könnte etwas dran sein«, pflichtete ihr Helwig bei. »Diese Brutalität könnte auf süd- oder mittelamerikanische Drogenkartelle hinweisen.«

»Na, das sind ja tolle Aussichten«, stöhnte Leitner. »Dann gibt es in der Lüneburger Heide demnächst Massengräber wie in Mexiko. Schönen Dank auch!«

Er verschränkte demonstrativ die Arme, wobei er die Muskeln unter seinem viel zu knappen T-Shirt spielen ließ. Moses fragte sich, ob sein junger Kollege auch an diesem frühen Morgen bereits im Fitnessstudio trainiert und seine Testosterontanks aufgefüllt hatte. Zuzutrauen war es ihm. Er reichte den Computerausdruck an Elvers weiter, die neben ihm am Kopfende des Tisches saß.

»Wir sind nicht in Lateinamerika«, sagte er. »Das ist mir alles zu viel Klischee. Aber ich gebe Ihnen recht: Der Täter wollte mit seinem Vorgehen vielleicht ein Exempel statuieren.«

»Dann könnte der Hühnerfuß in seinem Mund also eine Art Botschaft sein«, folgerte Helwig. »An wen auch immer.«

Moses stimmte ihr zu. »Oder es ging um Informationen. Ich frage mich, ob der Mörder sein Opfer aus reinem Sadismus gefoltert hat …«

»... oder weil sein Opfer etwas wusste, was es nicht verraten wollte«, ergänzte Helwig. »Womit wir wieder bei den Drogenkartellen wären. Vielleicht gibt es auf St. Pauli ja tatsächlich einen neuen Bandenkrieg, von dem wir noch nichts mitbekommen haben.«

»Wundern würde es mich nicht.« Leitner streckte sich. »Bei den riesigen Kokainmengen, die sie mittlerweile regelmäßig im Hafen sicherstellen.«

»Ob das zutrifft, werden wir sehen«, bremste Moses erneut. »Konzentrieren wir uns auf das, was wir bislang wissen.«

Und das ist so gut wie nichts, musste sich Moses eingestehen. Die forensische Untersuchung des Tatorts war zwar noch nicht abgeschlossen, aber der erste Bericht der Kollegen war enttäuschend. Bislang gab es keinerlei verwertbare Hinweise auf den Täter.

»Was ist eigentlich mit den Kippen?«, warf Helwig in die Runde. »Einige der Verletzungen sehen doch eindeutig nach Verbrennungen von Zigaretten aus.« Bevor jemand nachfragen konnte, weshalb sie sich so gut auskannte, fügte sie eilig hinzu: »Das wäre doch ein Ansatz! Wenn wir eine Speichelprobe hätten, kämen wir weiter.«

Moses schüttelte den Kopf. »Sie müssten im vorläufigen Bericht selbst gelesen haben, dass es am Tatort bislang keine konkreten Spuren gibt. Oder zu viele, je nachdem, wie man es nimmt. Es gibt nichts, was sich eindeutig dem Täter zuordnen lässt. Schließlich wird das Haus sowohl von Jugendlichen als auch von Obdachlosen als Unterschlupf genutzt.«

»Wäre auch zu einfach gewesen«, brummte Helwig.

Moses lehnte sich zurück und blickte in die Runde. Die Nacht steckte ihm in den Knochen, und er sehnte sich nach einem richtigen Kaffee und nicht nach dem bitteren, lauwarmen Gebräu aus der Gemeinschaftsmaschine, das Leitner vor seinen Augen trank. Ihm fiel ein, dass in seiner Schreibtischschublade noch ein Rest der jamaikanischen Kaffeebohnen sein musste, die er über das Internet direkt vom Erzeuger, einer kleinen Farm in den Blue Mountains, bezog. Während der Jagd auf einen Serienmörder, den die Presse den »Puppenmacher« getauft hatte, hatte er den Kaffee kennen und schätzen gelernt.

»Eins verstehe ich nicht«, meldete sich Viteri zu Wort. »Das muss doch jemand mitbekommen haben. Diese Folter, meine ich. Die Schreie muss doch jemand gehört haben.«

»Der junge Mann konnte vermutlich gar nicht schreien«, gab Moses zu bedenken. »Es würde mich nicht wundern, wenn im Labor noch Reste von Klebeband oder einem Knebel gefunden würden.«

»Trotzdem«, sprang Leitner seinem jüngeren Kollegen bei. »Er hat recht: Der Täter muss ewig gebraucht haben, um seinem Opfer all diese Verletzungen zuzufügen. So wie ich das mitbekommen habe, sind die drei Jugendlichen, die die Leiche gefunden haben, nicht die Einzigen, die in dieser Bruchbude ein und aus gehen.«

»Stimmt, das ist nicht gerade der perfekte Ort für eine stundenlange Hinrichtung«, sagte Elvers. »Der Mörder muss wirklich Nerven haben.«

»Das bereitet mir ebenfalls Kopfzerbrechen«, gestand Moses. »So nervenstark agiert kein Amateur. Umso wichtiger ist es, dass wir die Zeit nutzen und loslegen. Sie nehmen sich bitte noch einmal die Datenbanken vor«, sagte er an Viteri gewandt. »Auch international. Suchen Sie nach Fällen, die Ähnlichkeiten mit dem unseren aufweisen.«

»Sie meinen den Hühnerfuß?« Viteri nahm seine Brille ab, putzte sie an seinem Pullover und setzte sie wieder auf.

»Den auch«, sagte Moses. »Ansonsten will ich alle zugänglichen Informationen über den jungen Mann. Vielleicht gibt es doch noch irgendwo nähere Angehörige. Außerdem will ich alles über die Eigentümer der Hausruine.« Dann sah er Elvers an. »Und Sie reden bitte mit den Kollegen von der Drogenfahndung. Vielleicht war Mattis ja ihr Informant, und es bahnt sich tatsächlich ein Drogenkrieg an.«

Elvers nickte.

»Und was mache ich?« Leitner reckte sich und gähnte demonstrativ.

»Sie fahren in die Friedrichstraße und hören sich in der Nachbarschaft um. Klingeln Sie an den Haustüren Vielleicht gibt es ja jemanden, der in der letzten Zeit eine Beobachtung gemacht hat.«

»Allein?!«

»Nein, nehmen Sie ein paar Streifenbeamte mit. Außerdem sollten Sie noch einmal mit den Jugendlichen reden, die den Toten gemeldet haben. Und wir«, sagte Moses an Helwig gerichtet, »sehen uns die Wohnung des jungen Mannes an.«

Er ließ den Blick von einem Kommissar zum anderen wandern. »Irgendwelche Fragen?«

Als er keine Reaktion erhielt, löste er die Besprechung auf. »Also gut, gehen wir an die Arbeit!«, sagte er, während er damit begann, die Berichte und Fotos auf dem Tisch zusammenzusuchen. Stühle wurden gerückt, und die Kommissare verließen einer nach dem anderen den Raum. Allein Helwig blieb sitzen.

»Worauf warten Sie?«, fragte Moses verwundert.

Helwig schwieg und spielte mit einem Stift, schließlich hob sie den Kopf und sah ihm in die Augen.

»Glauben Sie, der arme Kerl hat lange gelitten?«, fragte sie ungewohnt zaghaft.

»Der vorläufige Bericht schätzt die Zeit bis zum endgültigen Eintritt des Todes auf etwa zwei Stunden. Eher kürzer.«

»Schöner Trost.« Helwig verzog das Gesicht. »Wenn Sie mich fragen, ist der Täter nicht nur ein brutaler Sadist. Der Typ muss völlig verrückt sein, wenn er das auch noch mitten in der Stadt durchzieht. Als würde er es darauf anlegen, erwischt zu werden.«

Genau das war der Punkt, dachte Moses. Etwas, das ihn – von dem seltsamen Hühnerfuß einmal abgesehen – mehr verwirrte und beunruhigte als alles andere. Weshalb hatte der Mörder ausgerechnet diesen Ort für seine Tat gewählt? Er musste gewusst haben, dass die Jugendlichen des Viertels, Drogensüchtige und Obdachlose in dem leer stehenden Haus ein und aus gingen. Er hätte jederzeit überrascht werden können. Warum war der Täter dieses Risiko eingegangen? Und wenn der langsame Tod des jungen Mannes eine offene Warnung darstellen sollte – an wen war diese Drohung dann gerichtet?

Moses und der kalte Engel

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