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7.

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Moses steckte das merkwürdige Objekt ein und verließ den Besprechungsraum. Bis Helwig zurückkehrte und sie dieser Hilfsorganisation, bei der sich der Tote engagiert hatte, einen Besuch abstatten konnten, blieb noch Zeit für einen Espresso. Die private Kaffeemaschine gehörte zu den Dingen, die er sich einfach leisten musste, und er freute sich schon den ganzen Morgen darauf, sie endlich in Gang zu setzen. Als er jedoch in freudiger Erwartung die Tür zu seinem Büro aufstieß, hielt er überrascht inne. Sein Adoptivbruder stand am Fenster und hatte die dort stehende Buddhafigur in die Hand genommen. Als die Tür aufflog, fuhr Henning erschrocken herum, wobei ihm beinahe die Figur entglitten wäre.

»Vorsicht!«, schrie Moses. Ihm blieb beinahe das Herz stehen. Der tönerne Buddha war zwar kein Museumsstück, aber er war alt, sehr alt sogar. Henning grinste schief und stellte die Figur zurück auf ihren Platz.

»Moin«, begrüßte er seinen Adoptivbruder.

Dann trat er auf Moses zu, und sie umarmten sich. Auch wenn sie nicht blutsverwandt waren, hatten sie sich schon immer gut verstanden. Sie teilten ihre gemeinsame Jugend, und der Flugzeugabsturz ihrer Eltern hatte ihr Verhältnis nur noch inniger werden lassen. Wobei sie sich nicht allzu häufig sahen, denn Henning hatte nach dem Tod seines Vaters die Familienreederei übernommen. Manchmal fragte sich Moses allerdings, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sein Adoptivbruder das Erbe ausgeschlagen und die Reederei abgestoßen hätte. Die Verantwortung schien ihn förmlich aufzufressen. Obwohl er die kräftige Statur seines Vaters geerbt hatte und schon als Jugendlicher vor Tatendrang stets zu platzen schien, wirkte Henning in der letzten Zeit müde und ausgebrannt. Darüber konnten weder der perfekt sitzende marineblaue Zweireiher noch die Solariumbräune hinwegtäuschen. Das tägliche Ringen mit den Unwägbarkeiten der Weltwirtschaft kostete ihn zweifelsohne nicht nur seine bereits spärlich gewordenen Haare.

»Du siehst schlecht aus«, bemerkte Moses, nachdem er sich aus der Umarmung gelöst hatte. »Und mal abgesehen davon: Wie kommst du überhaupt hier rein?«

»Dein Kollege, so ein Jungspund mit dicker Brille, hat mich mit hoch genommen. Er hat am Empfang zufällig mitbekommen, wie ich nach dir gefragt habe.« Henning biss sich auf die Lippe. »Ich muss dringend mit dir reden!«

Moses ahnte nichts Gutes. Henning hatte ihn in all den Jahren nur selten im Präsidium aufgesucht, denn sein Verhältnis zur Polizei und zu Staatsorganen im Allgemeinen war eher angespannt. In dieser Hinsicht stand er ganz in der Tradition seiner hanseatischen Familie.

»Okay, aber mach es kurz«, sagte Moses. »Ich muss gleich los. Willst du auch einen Espresso?«

Er warf das seltsame Ledersäckchen seiner Zeugin auf den Schreibtisch. Dann machte er sich, ohne eine Antwort abzuwarten, an der Kaffeemaschine zu schaffen.

»Seit wann glaubst du an Geister?«, wunderte sich Henning.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Moses über die Schulter, während er die Menge der Kaffeebohnen abmaß.

»Na, wegen dem Gris-Gris da!«

Moses hielt inne. Er stellte die Dose wieder ab und drehte sich verwundert um.

Henning deutete auf das kleine Ledersäckchen auf dem Schreibtisch. »Ich freue mich, dass du dich endlich für deine afrikanischen Wurzeln interessierst.«

»Wie meinst du das?«, erwiderte Moses irritiert. Im Gegensatz zu Henning, der seine Faszination für den afrikanischen Kontinent und dessen Kulturen von seinen Eltern quasi mit in die Wiege gelegt bekommen hatte, machte er selbst einen großen Bogen um alles, was mit Afrika zu tun hatte. Was er Nacht für Nacht in seinen Träumen sah, reichte ihm voll und ganz.

»Wie hast du das Ding genannt?«, fragte er stirnrunzelnd.

»Gris-Gris«, sagte Henning. »Das ›Ding‹ da ist eine Art Schutzzauber, ein magisches Amulett. Meist sind Haare, Fingernägel oder Zaubersprüche darin eingenäht.« Er nahm das speckige Ledersäckchen neugierig in die Hand. »Woher hast du es?«

»Von einer Zeugin.«

»Afrikanerin?«

»Wissen wir noch nicht«, sagte Moses. »Aber ich vermute es. Sie hat das Ding die ganze Zeit in der Hand gehalten und vor uns versteckt.«

»Dann muss sie vor irgendetwas mächtig Angst haben.« Henning legte das Amulett zurück auf den Schreibtisch. »Was macht der Kaffee?«

»Moment!« Moses hob die Hand. »Was heißt das: Sie muss ›mächtig Angst haben‹? Vor wem?«

Henning zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Zum Beispiel vor den Verwünschungen ihrer Schwiegermutter, vor ihrem Ehemann oder bösen Nachbarn – was weiß ich. Im Alltag gibt es tausend Gründe, weshalb man sich den Beistand der Geisterwelt erhoffen kann.«

»Und woher bekommt man so etwas?«, erkundigte sich Moses. »So ein Gris-Gris, meine ich?«

»Von einem Zauberer natürlich«, erklärte Henning nervös. »Aber deswegen bin ich nicht hier. Darüber können wir später reden. Ich brauche deine Hilfe.«

Moses seufzte. Er hätte gerne mehr erfahren. Andererseits war nicht zu übersehen, dass Henning in Schwierigkeiten steckte. Also hob er sich seine Fragen für später auf.

»Also gut, was hast du auf dem Herzen?«, wollte er wissen. Er deutete auf einen der beiden Stühle. »Aber fass dich bitte kurz!«

Er füllte Wasser in die Kaffeemaschine, schloss den Deckel und drückte den Schalter. Nichts rührte sich. Das Mahlwerk blieb stumm, stattdessen blinkte wieder dieses verfluchte kleine Lämpchen. Irgendetwas schien defekt zu sein, und das nicht zum ersten Mal. Moses ballte die Faust. Was hinderte ihn eigentlich daran, diese angeblich beste Kaffeemaschine der Welt gegen die Wand zu schmeißen?

»Der Kaffee fällt leider aus«, sagte er schlecht gelaunt und setzte sich hinter den Schreibtisch. »Also, schieß los! Was ist so dringend, dass du dich überwindest und mich hier in diesem ›Bullennest‹ besuchst?«

»Das mit den Bullen habe ich nie so gemeint«, beschwerte sich Henning. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Das weißt du genau! Ich …«, er schluckte, »ich habe Mist gebaut. Christa …«

Weiter kam er nicht, denn Moses war sofort alarmiert: »Was ist mit Christa?«, unterbrach er seinen Adoptivbruder. »Ist ihr etwas zugestoßen?«

»Nein, nein!«, beruhigte Henning ihn. »Christa geht es gut. Das heißt, darum geht es nicht. Oder doch.«

Er wich Moses’ Blick aus und spielte verlegen mit seinem Ehering.

»Und worum geht es dann?« Allmählich verlor Moses die Geduld. So verdruckst kannte er Henning gar nicht. Sein gesundes Selbstbewusstsein war schon in Jugendjahren berüchtigt gewesen.

Sein Adoptivbruder holte tief Luft. »Ich habe jemanden kennengelernt«, sagte er schließlich. »Neulich, auf einem Ball der Hamburger Reeder. Ich war allein da. Du weißt ja, dass Christa solche gesellschaftlichen Events nicht ausstehen kann.«

»Ja, und genau das schätze ich an ihr. Aber lass mich raten: Dieser Jemand, den du kennengelernt hast, war jung, vermutlich blond und auf alle Fälle gut gebaut.«

»Brünett«, widersprach Henning kleinlaut. »Sie war brünett. Und so gut gebaut war sie auch nicht.«

»Aha«, stellte Moses trocken fest. »Und was habe ich damit zu tun?«

Henning knetete seine Hände. »Diese, äh, junge Dame hat mir Rosen geschickt. Zu mir nach Hause!«

Er sah Moses empört an, aber der verdrehte nur die Augen. »Ich glaube, ich weiß, was jetzt kommt: Christa hat dich vor die Tür gesetzt!«

»Noch nicht«, berichtigte ihn Henning verzagt. »Aber du kennst sie ja. Zuzutrauen ist es ihr.«

Moses schüttelte ungläubig den Kopf. »Du hast zwei tolle Kinder und eine wunderbare Frau. Warum lässt du dich überhaupt auf so etwas ein? Ich verstehe nicht, wie man so blöd sein kann!«

»Da gibt es nichts zu verstehen«, stöhnte Henning. »Das ist einfach so passiert. Außerdem tu nicht so, als wärst du ein Heiliger. Denk nur an die Abifeier.«

»Das ist lange her«, erwiderte Moses. »Außerdem bin ich nicht verheiratet, und ich habe auch keine zwei süßen Kinder.«

»Ja, ich weiß«, gab Henning zerknirscht zu. »Deshalb musst du mir ja helfen.«

»Und wie?«

»Ganz einfach: Wir sind nach dem Ball noch um die Häuser gezogen. Wir waren die ganze Zeit zusammen. Deshalb kannst du bezeugen, dass nichts passiert ist!«

Moses zog eine Augenbraue hoch. »Nichts passiert? Und wie passen dann die roten Rosen da rein?«

»Wir sagen einfach, dass wir zufällig jemanden in der Bar kennengelernt haben.«

»Du meinst die Brünette?«

»Genau die. Und die hat mich angehimmelt, ohne dass ich etwas dafürkonnte. So wie ein Groupie eben. Dabei haben wir uns nur nett unterhalten.«

Er sah Moses an und lächelte unglücklich.

»Groupie?«, ächzte Moses. »Bist du jetzt ein Rockstar oder so etwas? Stars hängen ihre Privatadresse allerdings meines Wissens nicht an die große Glocke.«

»Ich war eben so blöd, ihr meine private Visitenkarte zu geben«, sagte Henning hoffnungsvoll. »Was übrigens wahr ist!«

Moses musterte ihn. Schließlich winkte er ab. »Das wird nicht funktionieren. Christa kauft uns das niemals ab. Abgesehen davon waren wir an diesem Abend einfach nicht zusammen.«

»Aber du könntest so tun.«

»Du meinst, ich soll lügen?«

»Nur ein bisschen«, druckste Henning herum. »Tu es den Kindern zuliebe.«

Moses legte die Stirn in Falten: »Und natürlich wegen dir …«

»Wegen den Kindern, Christa und mir!« Henning sah ihn händeringend an.

»Das ist unfair«, beschwerte sich Moses.

Er warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Helwig fragte sich sicher schon, wo er blieb. Er seufzte.

»Wenn du willst, kann ich ja mal mit Christa reden«, schlug er vor. »Aber ich werde ihr kein Lügenmärchen auftischen. Das kannst du nicht von mir verlangen.«

Henning schien nicht wirklich glücklich mit dieser Lösung zu sein. Letztendlich blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als die Entscheidung zu akzeptieren.

»Also gut«, sagte er. »Ich habe zwar ein bisschen mehr Solidarität von dir erwartet, aber vielleicht schaffst du es ja, Christa irgendwie zur Vernunft zu bringen.«

In diesem Moment klopfte es, und Helwig steckte den Kopf zur Tür herein. Moses war heilfroh, erlöst zu werden, denn insgeheim verspürte er das Bedürfnis, Henning rechts und links zu ohrfeigen. Dafür, dass er so dämlich war, genau das aufs Spiel zu setzen, um das er ihn schon immer beneidet hatte.

»Ich warte schon eine Ewigkeit«, beschwerte sich Helwig, während sie Moses’ Besuch interessiert musterte. »Ich dachte, wir wollen zu dieser Hilfsorganisation!«

»Ich komme gleich«, erwiderte Moses. Dann wandte er sich an seinen Adoptivbruder: »Ich muss jetzt leider weg. Ich rufe dich an, okay?«

Henning stand auf und fegte ein unsichtbares Staubkorn von seinem Zweireiher. Helwigs plötzliches Auftauchen schien ihm peinlich zu sein.

»Also dann will ich nicht weiter stören«, sagte er betont lässig. Er nickte Moses zu. »Ich wünsche dir viel Glück bei deinem neuen Fall. Wir sehen uns!«

»Das wünsche ich mir auch«, brummte Moses, ohne sich von dem Schreibtisch zu erheben. »Bis später.«

»Äh, ja, tschüss«, sagte Henning. Er lächelte Helwig verlegen an, die noch immer mit der Klinke in der Hand in der Tür dastand und ihn mit strenger Miene beäugte. Mit einem schiefen Grinsen drückte er sich an ihr vorbei und suchte das Weite.

»Wer war das denn?«, wollte Helwig wissen. »Meinte dieser Schnösel etwa unseren Fall?«

»Das war mein Adoptivbruder«, erklärte Moses ausweichend.

»Oh!« Helwig riss überrascht die Augen auf. »Ich wusste gar nicht, dass Sie so etwas wie eine Familie haben.«

»Doch, die habe ich«, räumte Moses widerwillig ein.

Er hielt Arbeit und Privatleben gerne getrennt, deshalb war es ihm gar nicht recht, wenn Henning ihn hier in seinem Büro überfiel. Das würde er ihm bei Gelegenheit klarmachen müssen. So wie einiges andere auch. Moses rieb sich die Augen, dann erhob er sich. Es wurde Zeit, sich wieder auf ihren bizarren Fall zu konzentrieren. Vielleicht konnte ihnen die Hilfsorganisation, bei der sich der Tote offenbar ehrenamtlich engagiert hatte, ja tatsächlich weiterhelfen.

»Was ist das denn für ein Ding?«, fragte Helwig, als er seinen Schreibtisch umrundete. Sie deutete auf das Amulett auf dem Tisch. »Ist das ein Geschenk von Ihrem Bruder?«

Sie trat näher und nahm das Ledersäckchen ungefragt in die Hand, um es neugierig von allen Seiten zu betrachten.

»Seltsames Teil«, meinte sie. »Was ist denn da drin eingenäht?«

»Haare, Fingernägel, weiß Gott was. Das ist ein magisches Amulett.«

Helwig sah ihn mit großen Augen an. »Ernsthaft?«

Sie legte das Gris-Gris hastig zurück auf den Tisch.

»Mattis’ Freundin hat es bei dem Handgemenge mit Ihnen verloren«, erklärte er. »Sie muss es in der Hand gehalten haben.«

»Die ganze Zeit über?« Helwig bedachte das Lederpäckchen auf dem Schreibtisch mit einem argwöhnischen Blick. »Aber warum?«

»Vielleicht hatte sie einfach nur Angst.«

»Vor uns?«

»Vor uns, dem Mörder oder irgendwelchen Dämonen und Geistern.«

Moses fuhr sich über das Gesicht. Mit einem Mal fühlte er sich unendlich müde. Erst abgetrennte Hühnerfüße und jetzt auch noch Dämonen und böse Geister. Wo sollte das nur hinführen? Mit einem mehr als unguten Gefühl nahm er das Amulett wieder an sich und steckte es ein.

Moses und der kalte Engel

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