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6.

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Moses stürmte auf den Flur des Fachkommissariats 41, Tötungsdelikte und Todesermittlungen. Als er Oberkommissarin Elvers mit einem Stapel Akten aus ihrem Büro kommen sah, rief er ihr zu. Sie blieb stehen und wartete auf ihn.

»Wo?«, fragte Moses ohne Umschweife.

»Im Besprechungsraum.«

»Allein?«

»Nein, mit Helwig. Ihr geht es wieder besser.«

Moses stutzte. »Wieso ›besser‹?«

»Es ist nur eine leichte Gehirnerschütterung. Wenn Sie mich fragen, hat sie wirklich Glück gehabt. In der Tasche waren auch Konservendosen.« Sie sah Moses prüfend an. »Wo waren Sie überhaupt? Ich habe mehrmals versucht Sie zu erreichen.«

»Ich war beschäftigt«, rief Moses über die Schulter. Er war bereits auf dem Weg in den Besprechungsraum. Als er dort ankam, trat er ohne anzuklopfen ein.

Eine junge schwarze Frau saß zusammengesunken am großen Tisch. Helwig saß ihr mit aufgestützten Ellbogen gegenüber. Offenbar hatte Moses sie mitten im Satz unterbrochen, denn seine Kollegin drehte sich mit geöffnetem Mund zu ihm um. Die junge Frau hielt ihren Kopf gesenkt und würdigte ihn keines Blickes. Es war die gleiche Frau, die aus Jan Mattis’ Haus gekommen war und vor ihnen die Flucht ergriffen hatte.

»Da sind Sie ja endlich«, stöhnte Helwig. Sie rückte ihren Stuhl und erhob sich.

Moses starrte ihr erschrocken ins Gesicht. »Sollten Sie das nicht besser kühlen?«

Der Bluterguss auf Helwigs linker Gesichtshälfte zog sich über ihre gesamte Wange bis ans Ohr. Er begann bereits in allen Farben zu leuchten.

»Das verdanke ich ihr!« Helwig deutete auf die junge Frau, die noch immer mit gesenktem Kopf dasaß. »Ich habe sie in Mattis’ Wohnung überrascht, und bei der Gelegenheit hat sie mir ihre Einkaufstasche ins Gesicht geknallt. Sie dachte offenbar, wir wären weg.«

Moses musterte die Frau. Das Alter schätzte er auf höchstens Anfang zwanzig, und obwohl sie das Kinn auf ihre Brust presste, war nicht zu übersehen, dass sie auffallend hübsch war. Ihre Kleidung war dagegen eher unauffällig. Eine schwarze Jeans und ein grauer Rollkragenpullover. Schmuck trug sie nicht. Auch ihre gekräuselten Haare waren zweckmäßig kurz, was ihren fein geschnittenen Gesichtszügen etwas Jungenhaftes verlieh.

Moses öffnete den Knopf seines Jacketts, zog einen Stuhl heran und setzte sich der jungen Frau gegenüber an den Tisch.

»Ich bin Hauptkommissar Moses«, sagte er in einem freundlichen Ton. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Verstehen Sie, was ich sage?«

Die junge Frau zeigte keinerlei Reaktion.

»Sie redet nicht«, warf Helwig ein, die hinter ihm stand. »Wir wissen nicht einmal, ob sie überhaupt Deutsch versteht.«

»Was ist mit Englisch oder Französisch?«, fragte Moses über die Schulter.

»Haben wir alles probiert. Sogar Portugiesisch. In der Kantine arbeitet ein Koch aus Portugal.« Helwig verschränkte die Arme. Ihrer Miene nach zu urteilen hatte sie der jungen Frau den Schlag ins Gesicht nicht verziehen. »Mit anderen Worten: Wir wissen nicht, woher sie stammt oder welche Sprache sie spricht. Einen Ausweis oder irgendwelche Papiere haben wir nicht gefunden. Auch nicht in der Wohnung.«

»Wie sieht es mit Fingerabdrücken aus?«, erkundigte sich Moses. »Haben Sie die schon abnehmen lassen?«

»Ja, aber das Ergebnis steht noch aus.« Helwig zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, warum das immer so lange dauert.«

Moses stieß insgeheim einen Fluch aus. Dann wandte er sich wieder der jungen Frau zu. Es behagte ihm nicht, über einen Menschen zu reden, als sei er nicht anwesend. Dabei kam es ihm so vor, als sei sein Gegenüber genau das. Nicht anwesend. Zumindest geistig nicht. Sie hatte ihre Hände in ihrem Schoß verschränkt und starrte auf ihre Finger, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken.

»Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen«, sagte er. Er bemühte sich erneut um einen freundlichen Ton. »Wir wollen uns nur mit Ihnen unterhalten. Über Ihren Freund, Jan Mattis. Wenn Sie einen Schlüssel zu seiner Wohnung haben, müssen Sie ihn kennen.«

Er beobachtete die junge Frau, die weiterhin unbewegt auf ihre Hände starrte. Bei der Erwähnung des Namens des Toten glaubte er dennoch, eine kaum sichtbare Reaktion wahrgenommen zu haben. Verstand sie, was er sagte, oder hatte sie nur den Namen wiedererkannt? Und wovor hatte sie Angst? Vor einer Abschiebung in ihr Heimatland oder etwas anderem? Denn dass die junge Frau vor lauter Furcht geradezu paralysiert war, daran hatte er inzwischen keinen Zweifel. Ihr Schweigen war kein Trotz. Diese Sprachlosigkeit kannte er aus seinen eigenen Albträumen. Sie war Ausdruck nackter Panik.

»Es hat keinen Sinn«, meinte Helwig. »Aus der kriegen wir nichts raus. Deshalb …«

Sie wurde unterbrochen, denn es klopfte, und Viteri steckte den Kopf zur Tür herein. »Ich muss Sie mal kurz sprechen«, sagte er zu Moses. »Ich glaube, ich habe da was, das könnte interessant sein.«

Moses warf Helwig einen Blick zu. Dann erhob er sich und folgte Viteri auf den Flur hinaus.

»Und, was gibt es?«, wollte er wissen, nachdem er die Tür zum Besprechungszimmer hinter sich geschlossen hatte.

Viteri holte tief Luft. »Also, dieser Mattis, ich meine, das Opfer, der war seit mehr als zwei Jahren arbeitslos gemeldet.« Viteri sah ihn an und nestelte an seiner Brille herum. Moses zwang sich zur Geduld und wartete darauf, dass er endlich fortfuhr.

»Äh, ja.« Viteri sammelte sich. »Was ich eigentlich sagen wollte: Obwohl er arbeitslos war, hat er nicht zu Hause auf der Couch gesessen. Er hat bei einer Hilfsorganisation gejobbt. Ehrenamtlich.«

»Und weiter?«

Viteri sah auf seinen Notizzettel. »Der Name des Vereins ist ProAid.« Er rückte seine schwarze Brille zurecht und sah Moses an. »Laut der Homepage vermitteln sie in Deutschland gestrandeten Flüchtlingen medizinische Hilfe. Ist als gemeinnützig anerkannt. Alles ganz seriös, zumindest der Homepage nach zu urteilen.«

Moses legte die Stirn in Falten. »Wie sind Sie denn darauf gestoßen, dass Mattis dort beschäftigt war?«

»Das war ganz einfach!« Viteri grinste. »Ich habe Mattis’ Namen in die Suchmaschine eingegeben, und da ist er auf den Internetseiten des Vereins aufgetaucht. In einer Bildunterschrift der ehrenamtlichen Helfer. Also habe ich da mal angerufen und mich als Mitarbeiter vom Jobcenter ausgegeben. Wegen Nebeneinkünften und so. Schließlich war er ja arbeitslos gemeldet.«

Er verstummte erneut, als wartete er auf eine Reaktion.

»Verdammt«, schimpfte Moses, dem der Geduldsfaden riss. »Jetzt lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen! Was haben Sie erfahren?«

Viteri zuckte ein wenig zusammen. »Äh, nichts weiter«, fuhr er hastig fort. »Die haben mir am Telefon nur bestätigt, dass Mattis sich dort engagiert hat. Ohne Geld dafür zu bekommen. Sein, äh, Ableben habe ich aber nicht erwähnt.«

Moses war erleichtert, denn wenn Mattis sich in dem Verein engagiert hatte, wollte er der Erste sein, der die Nachricht von seinem Tod überbrachte. Die spontane Reaktion auf eine Todesnachricht sprach meist Bände.

»Das haben Sie ausgezeichnet gemacht!«, lobte er Viteri. »Besorgen Sie mir bitte alles, was Sie noch über diese Hilfsorganisation finden können. Sagen Sie mir Bescheid, sobald Sie was haben.«

Nachdem Viteri sich mit einem Nicken an seinen Schreibtisch zurückbegeben hatte, betrat Moses wieder den Besprechungsraum. Keine Sekunde zu früh, denn Helwig stützte sich mit beiden Händen auf die Tischplatte und fuhr die nun weinende junge Frau wütend an: »Ihr Freund ist tot, ermordet! Verstehen Sie das? Ermordet!«

»Katja!«, platzte es aus Moses heraus. Er wusste nicht, warum er seine Kollegin spontan beim Vornamen genannt hatte. Er duzte grundsätzlich keine Untergebenen. Auch Helwig schien überrascht, denn sie hielt inne und drehte sich mit großen Augen zu ihm um.

»Kann ich Sie mal sprechen?« Moses führte seine Kollegin aus dem Raum.

»Was denken Sie sich?«, zischte er leise.

»Glauben Sie mir, die spielt uns was vor«, erregte sich Helwig. »Sie versteht genau, was ich sage!«

»Und wenn schon! Das gibt Ihnen nicht das Recht, sich derart gehen zu lassen!«

Helwig deutete erbost auf ihre blutunterlaufene Wange. »Und was ist damit?«

»Sie wissen, was ich meine!«, sagte Moses mit gedämpfter Stimme. »Abgesehen davon bin ich immer noch Ihr Vorgesetzter. Vergessen Sie das nicht!«

»Schon kapiert.« Helwig reckte trotzig ihr Kinn. »Ohne Ihre Fürsprache wäre ich nicht hier – vermutlich muss ich mir das jetzt bis zu meiner Pension anhören.«

Moses und Helwig standen sich dicht gegenüber und starrten sich herausfordernd an. Schließlich war es Moses, der nachgab und die Situation auflöste, indem er abwinkte und sich müde streckte.

»Lassen wir das«, sagte er. »Wir haben Besseres zu tun.«

»Ganz meine Meinung!« Helwig stand weiterhin mit verschränkten Armen vor ihm. Sie nickte in Richtung Tür. »Und was machen wir jetzt mit ihr? Wenn die hier rausgeht, dann sehen wir sie nie wieder. Darauf verwette ich meinen Hintern!«

Moses fuhr sich über den Nacken. Ihm war bewusst, dass er eine Entscheidung fällen musste. Helwig hatte natürlich recht. Bei der jungen Frau bestand akute Fluchtgefahr, und wenn sie erst einmal im Migrantenmilieu untergetaucht war, wurde es schwer sie wiederzufinden.

»Aber aus welchem Grund sollten wir sie festhalten?«, gab er zu bedenken. »Sie ist – wenn überhaupt – lediglich eine Zeugin, keine Verdächtige.«

»Wie wär’s mit Angriff auf eine Polizeibeamtin?« Helwig zeigte auf ihr verunstaltetes Gesicht.

Moses wusste, dass ihm letztendlich keine Wahl blieb, als die junge Frau unter einem Vorwand vorläufig festzuhalten. Bislang war sie der einzige konkrete Ansatzpunkt, den sie in diesem bizarren Mordfall hatten. Er konnte sie unmöglich ohne eine Aussage einfach so gehen lassen. Was er brauchte, war Zeit, um mehr über sie herauszufinden.

»Also gut«, entschied er. »Ich übernehme die Verantwortung. Sorgen Sie dafür, dass man ihr die Fingerabdrücke abnimmt und sie gut unterbringt.«

»Mit welcher Begründung? Was soll ich den Kollegen sagen?«

»Denken Sie sich was aus!«

Helwig nickte. An ihrem leisen Lächeln konnte Moses ablesen, dass sie ihren kleinen Triumph genoss. Während sie zusammen in das Besprechungszimmer zurückkehrten, sah Moses auf seine Armbanduhr. Inzwischen musste Juliane längst im Flieger sitzen. Auf dem Weg ins Nirgendwo. Warum er ausgerechnet jetzt daran dachte, war ihm schleierhaft. Schließlich hatte er im Moment wirklich andere Probleme. Wie auf ein Stichwort hin ließ ihn ein schriller Schrei aufblicken.

Offenbar hatte Helwig ihre Hand auf die Schulter der jungen Frau gelegt, um sie zum Aufstehen aufzufordern, woraufhin diese mit einem Schrei aufgesprungen war. Jetzt schlug sie wie von Sinnen auf seine Kollegin ein. Helwig wurde von der heftigen Reaktion völlig überrascht. Sie wich einen Schritt zurück und riss instinktiv die Arme hoch. Moses sprang hinzu, doch bevor er einschreiten konnte, bekam Helwig ein Handgelenk der Angreiferin zu fassen. Sie wirbelte herum, drehte ihr den Arm auf den Rücken und knallte ihren Oberkörper hart auf den Tisch.

»Tu das nie wieder«, zischte sie der jungen Frau ins Ohr, während sie mit ihrem ganzen Gewicht auf ihr lag und ihr die Luft aus der Lunge presste.

Moses berührte sie am Arm. »Es reicht«, sagte er scharf. »Ich glaube, sie hat verstanden!«

Helwig schien ihn nicht zu hören. Die junge Frau unter ihr keuchte und stöhnte vor Schmerzen. Schließlich entspannte Helwig sich. Sie lockerte ihren Griff und gab der jungen Frau wieder mehr Luft zum Atmen.

Moses war erleichtert. Für einen abscheulichen Moment hatte er befürchtet, seine Kollegin würde ihrer Zeugin den Arm brechen.

»Bringen Sie sie weg«, sagte er, nur um seine Entscheidung sofort wieder zu korrigieren. »Nein, warten Sie! Vielleicht ist es besser, wenn Elvers sich darum kümmert.«

Helwig gab einen Laut von sich, den er weder als Zustimmung noch als Widerspruch zu deuten vermochte. Seine Kollegin musste dringend lernen, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, wie er fand. Emotionen machten in ihrem Job alles nur noch schlimmer, wie er nur allzu gut wusste. Als Helwig mit der jungen Frau den Raum bereits verlassen hatte und er ebenfalls gehen wollte, bemerkte er etwas auf dem Boden. Moses bückte sich und hob es auf. Es handelte sich um ein kleines, rechteckiges Päckchen aus speckigem Leder. So etwas hatte er noch nie gesehen. Das Ganze war mit grobem Zwirn zusammengenäht und besaß etwa die Größe einer Visitenkarte. Die junge Frau musste das Lederpäckchen bei dem Handgemenge mit Helwig verloren haben. Nachdenklich betrachtete er den seltsamen Gegenstand von allen Seiten. Er fragte sich, was in dem Lederpäckchen eingenäht war. Und wozu diente es?

Moses und der kalte Engel

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