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Zukunftsgedanken
ОглавлениеNeujahrsnacht 1960.
Mit 4 Freunden bin ich nachts um 22.00 Uhr von Birkenstein aus auf den Schweinsberg gestiegen. Fackeln leuchteten uns den Weg. Der Schweinsberg ist nur ein unbedeutender Buckel zwischen Breitenstein und Wendelstein, aber - der Gipfel bietet freie Sicht hinüber in das Spitzinggebiet. Heuer bin ich das sechste Mal dabei, wenn wir hier oben um Punkt Mitternacht ein kleines Feuerwerk anzünden, das weit über das Leitzachtal bis hinüber zur Rotwand und zum Taubenstein zu sehen sein wird. Auch von anderen Gipfeln werden wir die Feuer sehen. Wir bereiten die Utensilien vor und dann ist es Mitternacht. Die Raketen krachen und zischen funken sprühend und Bilder zeichnend in den Nachthimmel. Im Tal läuten die Kirchenglocken. Wir stoßen an auf das neue Jahr, mit Sekt, wie sich das gehört. 1960, das Ende der 50er Jahre. Der Weg vom Notstand zum bescheidenen Wohlstand liegt hinter uns.
Nachdem die letzte Rakete verglüht ist, räumen wir alle Überbleibsel des Feuerwerks fein säuberlich zusammen, sodass auch nicht das kleinste Fitzelchen übrig bleibt. Lediglich ein klein wenig Ruß von den Fackeln müssen wir auf dem Schnee zurücklassen. Die jetzt beinahe leeren Rucksäcke werden geschultert und die Ski angeschnallt. Diesmal liegt genug Schnee, sodass wir mit den Skiern wieder ganz ins Tal runter fahren können. Auch der Ziehweg, den ein Kleinunternehmer einstens euphorisch zur Bobbahn ausbauen wollte, ist befahrbar. Es geht bis zum Jugend- und Erholungsheim der Industriegewerkschaft Druck und Papier am Ortsende von Birkenstein. Das liegt wunderschön romantisch an einem kleinen Bächlein, das mit seinem sanften Geplätscher, wenn man nachts aufwacht, immer den Eindruck vermittelt, es würde regnen.
Es ist eine herrliche sternklare und eiskalte Nacht. Man sieht die Umrisse der Berggipfel die sich leicht dunkelblau mit vom Schnee hellen Rändern abheben. Während der Abfahrt, die nicht sehr rasant ist, weil die Fackeln nur ein dürftiges Licht geben und uns zwingen, mit nur einem Stock zu fahren, geht mir so einiges durch den Kopf. Dieses Jahr wird sich mein Leben verändern, werde ich mein Leben verändern, ich werde 21 Jahre alt und damit volljährig. Beruflich muss ich mich entscheiden, wie es weiter gehen soll. Buchdruckerbin ich und werde es nicht mehr lange bleiben können. Vor 7 Jahren, als ich meine Lehre begann, wurde diesem Beruf eine glänzende Zukunft vorausgesagt. Noch vor 3 Jahren, als ich mit dem Moped nach Genf zur Fachmesse „Grafix“ fuhr, wurde eine Studie von Shell vorgestellt, die meinen Beruf in den rosigsten Farben schilderte. Mittlerweile weiß ich aber, dass zumindest der Buchdruck auf Bogen technisch längst überholt ist. Zu schwerfällig, zu langsam, zu personal- und materialaufwändig. Ein anderes Druckverfahren, der Offsetdruck konnte verfahrensbedingt die technischen Errungenschaften der letzten Jahre, Fotosatz, maßhaltige Filme und vorbeschichtete Druckplatten weit besser nutzen, als das im Buchdruck jemals möglich sein wird. Der Offsetdruck war bis jetzt nur deshalb noch nicht so weit fortgeschritten, weil viele Druckereibesitzer und auch die Druckmaschinenhersteller die technischen Möglichkeiten, die in diesem Verfahren stecken noch nicht erkannt haben, spürbar war der Trend, weg vom Buchdruck, ausgerechnet beim Bücherdruck, hin zum Offsetdruck schon seit 2, 3 Jahren. Ich habe diese Entwicklung über die Fachzeitschriften sehr aufmerksam und ein wenig besorgt beobachtet.
Meinen Beruf werde ich wechseln müssen, um überhaupt eine Zukunft zu haben, aber was ich genau machen werde, das weiß ich noch überhaupt nicht. Einen neuen, einen anderen Beruf zu erlernen kann ich mir finanziell nicht leisten, meine Eltern würden das nicht mitmachen und auch gar nicht verstehen. Es gibt für mich noch die Möglichkeit über die Gewerkschaft oder die SPD, bei beiden bin ich Mitglied und kleiner, unbedeutender Funktionär, in eine hauptamtliche Laufbahn einzusteigen. Noch habe ich keine Lösung im Kopf, aber bis zu meinem 21. Geburtstag werde ich mich entschieden haben, wie es weiter geht. Dies sind so die Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, aber nicht die Einzigen. Etwas anderes plagt mich noch mehr. Gleich werden wir an der Hütte ankommen und auf eine Gruppe junger Leute stoßen, die heftigst am Tanzen ist - ich kann nicht tanzen!
Zwar war ich noch vor wenigen Jahren als Kind in einer Volkstanzgruppe und dabei nicht einmal schlecht, aber das war eigentlich kein Tanzen, sondern ein exaktes exerzieren verschiedener Schritte und Bewegungen, die durch immer gleiche Musikstücke vorgegeben waren.
Hier auf dieser Neujahrsfeier wird alles Mögliche getanzt, Walzer, Tango, Fox, Samba, Rumba, Tschatschatscha und natürlich ganz akrobatisch Rock ‘n’ Roll. Mädchen sind in der Minderheit, deshalb haben nur gute Tänzer eine Chance. Ich habe gar keine, sitze am runden Tisch ganz hinten in der Ecke und kann nur zuschauen, ein bisschen belustigt, ob der Verrenkungen und der Annäherungsversuche, die manche Burschen wagen, und ein bisschen traurig, weil ich selbst nicht mittanzen kann.
Nach einer Stunde reicht's mir, es ist halb Zwei, ich gehe ins Bett. Schlafen werde ich so schnell nicht können, weil die Musik auch im Schlafraum noch laut zu hören ist, weil mich meine Gedanken nicht ruhen lassen und weil nach und nach die Burschen alle mehr oder weniger geräuschvoll den Schlafsaal mit seinen Stockbetten aufsuchen. Um 5.00 Uhr findet der Letzte seine Liegestatt.
Morgens um 7.00 Uhr bin ich der Erste beim Frühstück und wieder bester Laune. Nach und nach kommen noch ein paar hinzu. Der große Rest scheut noch das Tageslicht, hat noch Probleme, die Nachwirkungen von Lärm und Alkohol zu überwinden. Mit noch drei Burschen und einem Mädel machen wir uns auf, den schönen Neujahrstag zur körperlichen Ertüchtigung zu nutzen. Wir wollen über die Aiblinger Hütte zum Wendelstein, falls eine Trittspur vorhanden ist, denn Steigfelle haben nicht alle. Glücklicherweise ist der ganze Weg gespurt und in weniger als 2 Stunden sind wir an der Endstation der Zahnradbahn von Brannenburg zum Wendelstein. Hier machen wir zunächst einmal Brotzeit mit Erbswurstsuppe, Würstl und Skiwasser. Dann geht’s über den Gleishang hinunter zur Mitteralm. Dort sehe ich das erste Mal in meinem Leben einen Schlepplift mit Holzbügel. Wenn ich in den letzten Jahren Skifahren war, dann meistens ganz ohne Lift und Seilbahn, höchstens einmal mit dem Sessellift aufs Mittlere Sudelfeld. Sonst immer mit den Skiern auf dem Rücken oder mit Steigfellen drunter, bergauf und nur selten auf eingefahrenen Pisten bergab, fast immer auf wenig befahrenen Hängen. Keine ganz großen Touren, dazu reichten weder Zeit noch Können und Erfahrung, aber rund um Spitzingsee, Lenggries und Herzogstand gibt es genügend Touren und Abfahrten, die noch nicht durch Seilbahnen und Lifte erschlossen sind und nach dem anstrengenden Aufstieg eine schöne Bergkulisse und eine genussvolle Abfahrt bieten können. Das ist billiger, bringt mehr Kondition und ist ein ganz anderes Naturerlebnis, als in der Schlange am Lift zu stehen, inmitten Hunderter anderer Skifahrer, glattgebügelte Pisten herunterzubrettern und dafür auch noch viel Geld bezahlen zu müssen.
Am Mittleren Sudelfeld bei der Grafenherberge gab es mal einen Schlepplift, da stellten sich immer 10 Leute in die Reihe und jeder fasste mit den Händen einen Holzgriff am Drahtseil, die Skistöcke baumelten in den Schlaufen an den Handgelenken hängend, herunter. Dann fuhr der Lift an. Wenn der Liftbursche gut drauf war, ging das ganz sanft und die ganze Kolonne glitt rasch nach oben. War er schlecht gelaunt, oder die Kupplung schon ein wenig ausgeschlagen, dann gings mit einem Ruck los, irgendeiner von den 10 Leuten packte das nicht und fiel hin und alle die dahinter standen auch. Danach folgte der nächste Versuch und vielleicht auch noch der Übernächste, bis endlich alle in die Höhe gezogen wurden und das Ziel erreichten. Das Spiel machte ich nur ein einziges Mal mit, dann ging ich lieber zu Fuß den Hang hinauf, damals gab es noch an jedem Rand eines Hanges ordentliche Trittspuren, und immer war ich am Ende genauso schnell oben, als wenn ich mich mit dem Lift rumgeärgert hätte.
Jetzt war das etwas anderes, alle wollen mit dem Schlepplift fahren, jeder außer mir kannte das Verfahren. Und die Gruppe will beisammenbleiben, da sich nur einer in dem Gebiet wirklich gut auskennt. Mein Bügelpartner ist ausgerechnet das einzige Mädel in der Gruppe. Der Bügel kommt, ich greife ihn und will mich draufsetzen, und liege auch schon im Schnee. Das Mädel neben mir wackelt ein bisschen und fährt ohne mich weiter. Der Liftbursch schreit mich an: "Du Depp, Du derfsd di do ned draufsitzn, ooloana muaßd de, vaschdähsd!" (Du Trottel, du darfst dich doch nicht draufsetzen, anlehnen musst du dich, verstehst du) Das hab ich dann auch kapiert, rappele mich auf, und nachdem drei weitere Bügel leer durchgefahren sind, und das Gelächter der Wartenden in ein Gemurmel mit schlechten Wünschen für mich, übergegangen ist, greife ich mir den Vierten und komme endlich damit weiter. Jetzt habe ich aber keinen Beifahrer für den Gewichtsausgleich auf der anderen Seite. Im Laufe der Fahrt zieht der Bügel immer mehr nach rechts und ich habe jede Mühe, nicht abzurutschen und erneut zu stürzen, endlich bin ich oben. Die anderen warten schon und haben den ganzen Nachmittag etwas zu lachen über mich. Du kannst die besten Witze erzählen und die anderen grinsen höchstens, wenn's dich aber auf den Arsch haut, da lachen alle. Noch ein paar Mal fahren wir diesen Hang und mit dem Lifteln geht es mir immer besser. Allmählich wird es Zeit, den Rückweg nach Birkenstein anzutreten, um 16.00 Uhr wird’s schon dunkel. Mit der nächsten Zahnradbahn von der Mitteralm kommen wir nicht mehr mit, sie fährt uns vor der Nase davon. Jetzt wird die Zeit knapp für den Heimweg. Der Weg zurück wieder über die Aiblinger Hütte ist uns zu lang und auch zu langweilig. Wir beschließen den Steilhang an der Westseite beim Hotel runter zu fahren, dann einfach geradewegs im Tiefschnee durch den Wald, bis wir wieder auf den Weg nach Birkenstein treffen. Genug Schnee ist da, aber gewaltig steil ist der Starthang und nicht eine einzige Spur ist zu sehen. Demnach hat es in den letzten Tagen noch niemand vor uns probiert. Wir sind wagemutig und riskieren es einfach mal; wer stürzt, fällt den ganzen Hang runter, bevor er zum Stehen kommt, das ist uns klar. Der Beste fährt vor und legt eine Spur, der wir anderen folgen ihm. Immer wenn einer heil unten angekommen ist, fährt der Nächste los. Es klappt, niemand stürzt, kein Schneebrett rutscht nach. Der Rest ist ein Kinderspiel. Mit dem wirklich allerletzten Tageslicht sind wir wieder gut im Heim angekommen.
Nach dem Abendessen, ist die ganze Gruppe, auch die Daheimgebliebenen, die sich die Zeit mit Rodeln, Schlittschuhlaufen oder Stockschießen auf dem Wolfsee vertrieben haben so weit erholt, dass sie erneut das Verlangen nach Musik und Tanz packt. Es haben sich auch schon einige wenige Pärchen gebildet. Der Plattenspieler läuft und die Lautsprecher dröhnen. Die Tanzfläche ist gut gefüllt und die Mädels voll ausgelastet, kaum haben sie Zeit, sich ein wenig zu verschnaufen, werden sie auch schon vom nächsten Burschen geholt. Einzig bei der "Münchener Française" darf und muss auch ich mitmachen. Das ist aber nicht schwierig, es sind nur Dreher und einfache Schritte, die vom Tanzmeister angesagt werden. Der anschließende Wiener Walzer mit einer Partnerin, die mich zum Glück fest im Griff hat, macht mir größere Mühe und ich bin froh, dass ich dem hübschen Mädel nicht mit meinen Hüttenschuhen auf die Zehen getrampelt bin.
Es ist schön, die Wärme einer Frau zu spüren, dazu ihre weiche Taille in der Hand und den leichten Druck der Brust, den Duft nach frischer junger Haut und zartem Parfüm zu empfinden. Leider kann ich mich dem nicht uneingeschränkt hingeben, weil ich zu sehr auf die Bewegungen meiner Beine achten muss.
Auch der längste Walzer geht vorbei und ich führe das Mädel auf ihren Platz zurück, bedanke mich, wage aber überhaupt nicht um den nächsten Tanz zu bitten. Ich glaube fast, sie ist ein wenig eingeschnappt deswegen. Bloß kein Risiko eingehen und mich als schlechter, genau genommen eigentlich als absoluter Nichttänzer blamieren. Sicher hätte mir das Mädel gefallen und die Eine oder Andere auch, aber grundsätzlich habe ich mir vorgenommen, mit keinem Mädel aus unserer Gruppe anzubandeln. Ich bin einer der Jugendleiter und wurde sogar im vergangenen Herbst mit den meisten Stimmen gewählt, schon aus diesem Grunde will ich immer neutral bleiben.