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Die Liebe meines Lebens?

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Leicht setzt schon die Dämmerung ein, die schönste Zeit des Tages, die blaue Stunde, nicht mehr Tag, aber noch nicht Nacht. Wir gehen im Hofgarten unter den Arkaden spazieren, schauen in die Schaufenster von Mode- und Accessoireläden und Gemäldegalerien. Sie hakt sich unter und drückt sich leicht an mich. In einer dunklen Ecke nehme ich sie fest in die Arme, küsse ich sie zum ersten Mal. Ganz fest schlingt auch sie ihre Arme um mich. Es war ihr erster Kuss von einem Mann, ich glaube, sie hat schon darauf gewartet.

Wir setzen uns noch auf eine Parkbank, eng umschlungen und lauschen dem Vogelgezwitscher und schauen nach den ersten Sternen der herankommenden Nacht. Nach diesem ersten Kuss ist es plötzlich ganz anders zwischen uns, wir fühlen uns zusammengehörig, mehr als nur Freundschaft verbindet uns.

Dann ist es höchste Zeit, den Heimweg anzutreten. Diesmal fahre ich mit ihr im Bus nach Ottobrunn und begleite sie auf dem Fußweg noch bis zu ihrer Haustüre. Noch ein kurzer Kuss, und schon muss ich mich arg beeilen, den wirklich allerletzten Bus nach München zurück noch zu bekommen, mit dem Taxi wär's mir entschieden zu teuer. Vom Isartor weg laufe ich zu Fuß nach Thalkirchen, den Kopf voller Gedanken, aufgeregt, froh, hoffnungsvoll und doch ein wenig Bange. Wird aus der Geschichte wirklich einmal die große Liebe werden, oder doch wieder nur eine Enttäuschung mehr wie bei den bisherigen Mädchenbekanntschaften? Ich hoffe, Ulla wird die Liebe meines Lebens werden, sicher bin ich mir nicht, noch nicht.

In diesen Wochen sehen wir uns öfter, auch außerhalb der Tanzstunden. Ich arbeite in der Kreuzstraße, kurz hinter dem Sendliger Tor und ihre Filiale ist in der Salvatorstraße, zu Fuß gar nicht so weit weg. Mit dem Auto braucht man fast länger und dann gibt es nirgends eine Parkmöglichkeit. Wenn ich früher Feierabend habe als sie, dann besuche ich sie in ihrer Arbeitsstelle. Ihre Firma vertreibt Vervielfältigungsmaschinen und auch schon Schnelldruckmaschinen. Sie kann an allen Maschinen, die dort stehen selbstständig drucken. Das erstaunt mich, denn eigentlich hat sie ja Groß- und Einzelhandelskaufmann gelernt und ist erst seit einem knappen Jahr in dieser Filiale als Mädchen für alles, von Buchführung bis Schablonen schreiben und eben auch bis zum Selbstständigen drucken.

Wenn ihre Arbeitszeit vorbei ist, gehen wir durch die Altstadt bis zum Parkplatz meines Autos. Ohne einen besonderen Anlass darf sie nicht zu spät nach Hause kommen. Bei Ulla geht es weit strenger zu als bei mir. Wir, mein älterer Bruder Harry und ich haben uns in langen Kämpfen mit den Eltern unsere Freiheiten erobert. Lediglich am Sonntagabend muss ich spätestens um 23.00 Uhr einpassieren.

Die verbummelte Zeit holen wir dadurch herein, dass Ulla nicht mit dem Bus fährt, sondern von mir mit meinem kleinen Autolein bis zur Kreuzung Putzbrunner/Josef-Seliger-Straße gebracht wird.

Das Verlangen, uns so oft als möglich zu sehen und beisammen zu sein wird immer stärker. Für die Pfingstfeiertage planen wir einen Ausflug nach Fischbachau mit Übernachtung im Zelt! Ein Ausflug über Nacht, das geht nicht ohne die Zustimmung ihrer Mutter. Dazu muss ich mich erst einmal dort vorstellen. So etwas habe ich noch nie getan. Wie macht man das eigentlich richtig. Klar Anzug und Krawatte, höflich sein sowieso. Blumen mitbringen für die eventuell künftige Schwiegermutter, was aber für Ullas Tante. Vorsichtshalber frage ich den Tanzlehrer, was man in einem solchen Fall richtig macht. Auch er musste erst nachdenken, bis er dann zu dem Schluss kam. "Das erste Mal nur für die Mutter Ihrer Angebeteten, was später kommt, müssen Sie selbst herausfinden". Blumen für die Dame das war klar, aber welche Blumen. Rosen sind nicht angebracht. Nelken sind Herrenblumen. Was sind denn ihre Lieblingsblumen, will ich von Ulla wissen. "Das errätst Du nie, Margeriten und roter Klee". Ich kann doch nicht einfach von einer Wiese Blumen pflücken, wie schaut denn das aus, außerdem sind die Margeriten noch nicht so weit, das dauert vielleicht noch 2 Wochen. Was kommt den Margeriten am nächsten? Gerbera! Diese margeritenähnliche Blume aus Israel ist gerade groß in Mode gekommen, es gibt sie praktisch das ganze Jahr über und in allen Farben zu kaufen. Weiße und rote Gerbera, meine ich. Nein Weiß und Rot geht überhaupt nicht, das bedeutet Blut und Tränen. Dann nur Weiße, das sieht langweilig aus, was nun, Weiß und Orange, das ist die endgültige Lösung.

Am Sonntag bin ich zum Kaffe eingeladen, Nachmittag um 15.00 Uhr. Wenn die Frage des Pfingstausflugs kommt, erwähnen wir nicht, dass nur wir beide fahren und im Zelt nebeneinander, miteinander schlafen wollen. Das Zelt leihen wir uns von meinen Eltern aus. Offiziell fahren wir mit der Jugendgruppe nach Birkenstein, da sind die Schlafräume streng nach Geschlechtern getrennt. Wir üben das ein wenig ein, spielen alle möglichen Fragen, die kommen, könnten durch, damit wir auch ganz sicher sind, uns nicht zu verplappern. So ganz gelogen ist unser Reiseziel auch nicht. Vom Campingplatz am Wolfsee sind es nur 10 Minuten zu Fuß nach Birkenstein.

Mit Ulla treffe ich mich schon 2 Stunden vor meinem Antrittsbesuch in Ottobrunn. Sie führt mich durch den Ort, zeigt mir die Schule, das Krankenhaus der Inneren Mission, in dem sie nach der Vertreibung aus Eger und den Zwischenstationen Thüringen und Piding bei Reichenhall bis kurz vor dem Tod ihres Vaters aufgewachsen ist. Zum Schluss streifen wir noch ein wenig durch den Wald, bis wir pünktlich wie die Maurer um 5 Minuten nach der vereinbarten Zeit, auch das habe ich in der Tanzschule gelernt, vor der erwartungsvoll neugierigen Familie stehen. Schnell die Blumen ausgepackt und der Dame überreicht, meinen Namen genannt, ein wenig hölzern verbeugt, dann warten, bis sie mir die Hand gibt. Sie lächelt nur ganz zaghaft und reicht mir die Hand. Jetzt das Gleiche noch mit der Tante Rosa. Beim Josef gibt’s nur ein gegenseitiges Servus. Gleich werden wir an den Tisch geführt. Kaffe und Kuchen, Wiener Apfelstrudel, stehen schon bereit. Ulla trinkt keinen Kaffee, obwohl sie jeden Tag für ihre Kollegen große Mengen davon kocht. Er schmeckt ihr nicht. Sie trinkt nie Kaffee, immer nur Tee, den sie sich selbst auf traditionelle Art mit Tee-Ei und Warmhaltekanne, die nur ausgeschwenkt, nie ausgespült wird, zubereitet. Teebeutel sind tabu, höchstens bei Husten- oder Kamillentee geduldet.

Meine künftige Schwiegermutter, ich gehe sehr, sehr voreilig in meinen Gedanken schon davon aus, dass sie es wahrscheinlich eines Tages wird, ist eine große, schlanke, elegante Dame, die sich das viele Leid, das hinter ihr liegt und die harte Arbeit, die sie täglich 9 Stunden lang in einer Aluminium-Spritzgießerei verrichtet, nicht anmerken lässt. Nur ihre etwas melancholischen Augen lassen ihr hartes Schicksal durchscheinen. Sie ist ganz Dame, zurückhaltend, ihre Gefühle immer im Zaume haltend - ein wenig unnahbar. Mich beeindruckt sie vom ersten Augenblick an, wir werden ein gutes, ein respektvolles Verhältnis zueinander haben denke ich, herzlich wird es nicht sein, das fühle ich bereits beim ersten Händedruck. Diese Frau kann nicht mehr lachen, fröhlich sein, sie hat es verlernt, es ist ihr vergangen, vom Schicksal ausgerieben worden.

Ganz anders dagegen ist die Tante Rosa. Klein, einen ganzen Kopf kleiner als ihre Schwester, mit einem leichten Rundrücken und immer in Bewegung, ihre Augen sind überall, kommen keine Sekunde zur Ruhe. Von ihr geht Herzlichkeit aus, dafür ist sie auch viel direkter, nimmt kein Blatt vor den Mund und vertritt ihre Meinung mit Bestimmtheit. Und - sie raucht, am liebsten Filterzigaretten der Marke Astor.

Zögernd und skeptisch werde ich von den beiden Damen ausgefragt. Über meine Familie, über mich, meinen Beruf, meine Zukunftserwartungen. Jede Antwort überlege ich mir ganz genau, dabei spüre ich förmlich die Distanz meiner "Schwiegermutter". Später erfahre ich warum.

Sie hat sich bereits einen Schwiegersohn ausgesucht. Den Sohn des besten Freundes ihres Mannes. Der junge Mann, er studiert Medizin, lebt mit seiner Mutter (auch sein Vater ist bereits gestorben) in Würzburg. Im letzten Spätsommer war sie schon mit der völlig ahnungslosen Ulla dort. Umgekehrt war auch er schon für ein langes Wochenende hier in Ottobrunn. Es hat aber nicht gefunkt zwischen den beiden. Nur Fotos hat er von Ulla gemacht und die, das muss ich neidlos anerkennen, sind nicht einmal schlecht geworden. Es sollte also ein "Vermächtnis" der verstorbenen Väter erfüllt werden. Dass sich trotz aller Mühen der Mütter nichts ergab, wollten die Damen nicht ganz kampflos hinnehmen. Außerdem wäre dieses von den Müttern ausgesuchte Paar als Egerländer Landsleute gewesen, und ich bin ein Fremder, ein "Bojer".

Ulla und ich kennen uns noch nicht lange, sind uns trotzdem ziemlich sicher, dass wir zusammengehören, zusammenbleiben wollen ob für immer, wissen wir noch nicht, wollen das einfach auf uns zukommen lassen. Wir sind ja noch jung, sie ist 17 und ich bin 20 Jahre alt und haben noch kein einziges Mal miteinander geschlafen, nicht einmal ein "Petting" ergab sich zwischen uns. Aber auf gar keinen Fall will Ulla sich ihren Bräutigam von der Mutter vorsetzen lassen, den sucht sie sich schon selber aus. Es ist ja ein Aberglaube, dass die Männer immer meinen, sie würden sich die Frauen aussuchen, es ist genau umgekehrt. Die Frauen wählen uns aus, aber sodass wir das gar nicht merken.

Das alles wird an diesem Nachmittag nicht direkt angesprochen, schimmert nur ganz sachte immer wieder durch. So gut es geht, versuche ich unbeeindruckt und unbefangen zu bleiben. Was habe ich denn erwartet? Dass ich empfangen werde mit Hurra, endlich ein Freund für meine Tochter? Sicher nicht, die Vorsicht der Mutter ist aus ihrer Sicht auf jeden Fall angebracht. Je länger das Gespräch dauert, umso mehr erkennt sie schließlich, dass zwischen Ulla und mir mehr dahinter steckt als nur eine kleine Verliebtheit oder ein kleines Abenteuer. Einige Fragen zu unserer Jugendgruppe und zu dem Ausflugsprogramm muss ich auch noch, nicht alle ganz wahrheitsgetreu, beantworten, bevor Ulla endgültig die Erlaubnis erhält mitzufahren.

Zum Schluss kommt die alles entscheidende Frage, die ich, von Ulla vorgewarnt, schon lange erwartet habe: "Sind Sie katholisch?"

Hier bleibt mir keine Wahl, wenn ich unnötige Komplikationen vermeiden will, muss ich knapp an der Wahrheit vorbei antworten. Ich sage ja, ich bin katholisch getauft, zur Kommunion gegangen und gefirmt worden. Zumindest das entsprach der reinen Wahrheit. Dass der Vater mit uns 4 Kindern vor 7 Jahren aus der Kirche ausgetreten ist, verschweige ich. Die Frage der Religion und des Glaubens war von mir längst beiseitegeschoben, als nicht vordringlich und für später einmal betrachtet worden. Da habe ich mir wohl selbst etwas vorgemacht. Als Kommunionkind wollte ich einstens unbedingt ein Heiliger werden, nachdem mir aber die Schuhe für den Ministrantenunterricht fehlten, schob der Kaplan diesem Weg einen Riegel vor. Später trat mein Glaube immer mehr in Vergessenheit, obwohl ich eigentlich ein Anhänger von Jesus Christus bin. Die Bergpredigt, das ist das, woran ich gerne glauben möchte. In ihr werden die Benachteiligten in den Mittelpunkt der Anerkennung durch Gott gestellt, über die Reichen und Mächtigen. Ich fühlte mich immer als Benachteiligter, von und durch Geburt an.

Ich werde mich nun in nächster Zeit intensiv mit katholischem Christentum, Glaube und Religion befassen müssen, denn ich gerate in eine Familie, die nach den vielen schweren Schicksalsschlägen, die sie erlitten hat, ihren Halt in der katholischen Religion sucht und findet.

Wie katholisch ist eigentlich Ulla selbst?

An die Gerechtigkeit Gottes glaubt sie nach dem Tod ihres geliebten Vaters nicht mehr. Wie soll ein Mädel mit nicht ganz 14 Jahren dieses Ereignis überhaupt verarbeiten. Da kann man nicht einfach einen Schlussstrich ziehen und sagen: Aus, Vorbei! Woran sie aber ganz fest glaubt, ist ein Wiedersehen mit ihrem Vater nach dem Tode. Den Satz aus dem Credo: "Auferstehung von dem Tode und das ewige Leben" glaubt sie aus voller Überzeugung. Das ist ihre große Hoffnung. Der Vater war nicht nur ein geliebter Mensch, den sie verloren hat, er war auch das Gegengewicht zu der Liebe zwischen ihrer Mutter und ihrem Bruder. Jeder Elternteil hatte seinen Liebling. Jetzt war aber ihr Elternteil nicht mehr da und sie fühlte sich, obwohl sie das nicht wirklich ist, hinten angesetzt in der Familie. Dass die Mutter ihren Sohn bevorzugte, ist eigentlich ganz leicht zu verstehen, wenn man die extrem schwierigen Umstände kennt, unter denen sie das Baby durch die ersten Lebensjahre brachte. Der Josef war erst 14 Tage alt, als die Familie aus der Heimat vertrieben wurde. Sie konnte ihn nicht stillen, die Sorge um die Beschaffung von geeigneter Nahrung unter den Umständen von Vertreibung, Transport im Viehwaggon und Aufnahme in ein überfülltes Lager war unermesslich groß. Das prägte sich tief in das Seelenleben von Mutter und Kind ein. Damals stand ihr mit den 2 Kindern kein Mann zur Seite, nur die Tante Rosa. Ihr Mann war in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, ohne dass sie wusste, wo. Das waren nun die Hintergründe, die mich zwingen, in den kommenden Wochen und Monaten mein Verhältnis zum eigenen Glauben und zur katholischen Religion zu finden. Doch zunächst bin ich froh, den ersten, unangenehmsten und schwierigsten Nachmittag bei Ullas Familie überstanden zu haben und freue mich auf das lange Wochenende an Pfingsten. Hoffentlich haben wir gutes Wetter an den ersten Tagen, die wir nur mit uns alleine verbringen.

Der Tanzkurs

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