Читать книгу Die Metamorphose des Herrn Fuchs - Otto W. Bringer - Страница 5
Оглавление27. März 1956
Sankt Petersburg. In der «Großen Kathedral-Synagoge» nur ein einziger Mensch. Inmitten unzähliger Säulen, die Gewölbe stützen mit schwingenden Rippen. Klein die Fenster, lassen nur wenig vom Tageslicht herein. Damit die sieben Lichter der Menora umso heller leuchten den Frommen. Der Mensch entpuppt sich als Mann. Den weiten Mantel aufgeschlagen, die Arme ausgebreitet, das Haupt bedeckt mit einer Kippa.
Liegt auf dem marmornen Boden wie tot. Bluttat im heiligen Raum? Eine junge Frau nähert sich ihm: „Steh auf Vater, Deine Gedanken müssen sich wieder dem Heute zuwenden. Und Du in Dein Haus zurückkehren. Die schöne Villa, die Du am Rande von Düsseldorf bauen ließest. Ich werde Dich begleiten und so lange bei Dir bleiben, wie Du willst. Gemeinsam ein neues Leben beginnen, auch ohne Aviva, Deine Frau.
Konnte nicht glauben, als Du mir schriebst, sie sei auf der Baustelle dieser Villa von der Leiter gestürzt und kurz danach gestorben. Du musst sie sehr geliebt haben, wie auch ich sie liebte. Mamas lockere Art, Probleme aus der Welt zu schaffen. Sie verstand und tröstete mich, hatte ich eine Klassenarbeit verpatzt. Lobte mich, weil ich runde Deckchen häkeln konnte, sie völlig unbegabt in Handarbeit. Zum ersten Mal verliebt und todtraurig, als Rudi mich einer anderen wegen verließ. Mama mit mir Ins Kino, Dick und Doof gesehen und herzhaft gelacht. Zuletzt mir noch 500 Mark geschickt für ein neues Kleid. Mit dem ich meinen neuen Freund Fernando beeindrucken wollte.“
Reicht die Hand, ihrem Vater aufzuhelfen, da steht er schon. Knöpft seinen Mantel zu, richtet Krawatte, die Kippa: „Du hast Recht, der Ärzte-Kongress war ein Erfolg. Das Leben wartet, nach so viel rückwärts gewendeten Jahren. Wir nehmen den nächsten Flug nach Düsseldorf. Ein letzter Blick auf die Synagoge noch.“
Vor ihnen das breit hingelagerte Bauwerk. „Zar Alexander II. gab sie in Auftrag, weil immer mehr Juden in Sankt Petersburg leben wollten. Hier fühlte sich auch der Adel Europas zuhause, Künstler und Gelehrte. Damals hieß die Stadt noch wie bei der Gründung durch Zar «Peter der Große». Die Synagoge überstand alle Zeiten, auch die Zwangsherrschaft des Genossen Stalin. 1880 im damals beliebten maurischen Stil erbaut.
„Sie scheint den letzten Krieg gut überstanden zu haben.“
»Ein Wunder ist es, wahrlich, blieb während der deutschen Belagerung 1941-1944 bis auf ein paar Kratzer heil. Dreiviertel aller Gebäude der Stadt aber von Deutscher Artillerie und Sturzkampfbombern zerstört. Du kamst im letzten Jahr auf die Welt. Es gab praktisch nichts zu essen. Hunde geschlachtet, Katzen und das letzte Pferd. Wohin auch sollten wir fahren, alles zerstört. Einige sollen auch Leichen gegessen, sich Finger der linken Hand abgeschnitten haben. So groß der Hunger. Mehl von Tag zu Tag knapper, die letzten Reserven verbraucht. Liegen gebliebene Ähren mit Körnern auf Feldern aufgesammelt. Mit Knüppeln Gedroschen, zwischen Steinen gemahlen. Mehl für winzig kleine Küchlein oder einen Brei für Dich.
Immer mussten wir mit diesen Angst und Schrecken verbreitenden Sturzkampfbombern der Nazis rechnen. Die in der Luft schon heulten, Unheil ankündigend. Bevor ihre Bomben Häuser und Verkehrswege in der Stadt zerstörten. Hunderte Menschen bei jedem Angriff verwundeten oder töteten.“
Der Vater der jungen Frau ein Professor. Gewohnt, ein Thema zu Ende zu bringen, auch im Gespräch mit seiner Tochter nicht zu bremsen. Der Gedanke an Petersburg muss ihn sehr beschäftigen:
„Über eine Million Menschen verhungerten, weil sie nichts zu essen hatten. Eingeschlossen in den Trümmern ihrer Häuser. Nicht wenige klammerten sich mit knöchernen Fingern an eine Ikone. Aber kein Heiliger, keine Madonna half. Gott selbst schien uns verlassen zu haben. Wir fanden in einem unbeschädigten Keller Unterkunft. Geschützt vor Granaten und herumfliegenden Trümmern. Zum Glück kam eine Hebamme bei Deiner Geburt. Mama nährte Dich, solange es ging. Presste ihre Brüste, bis ein wenig Milch kam, Dich kleinen Schreihals zu beruhigen.“
„Wie Du siehst, ist trotzdem aus dem kleinen Schreihals eine gut proportionierte Frau geworden.“ „Aber immer noch nicht kann ich mit Enkeln spielen. Ihnen beibringen, bis sieben zu zählen. Die Tora zu verstehen. Du hast seit Jahren einen Freund. Wollt Ihr nicht heiraten, wie sich ’s gehört?“
„Da kommt ein Taxi, wir müssen, Papa.“
Der Flug verläuft schweigend. Jeder in Gedanken, mit sich selbst beschäftigt. Vater Joshua David Johanson, Professor für Psychiatrie im Ruhestand. Erinnert sich an Einzelheiten des überraschenderweise positiv verlaufenen internationalen Ärzte-Kongresses. Trotz Überwachung durch den K.G.B. Denkt an sein Versprechen im Jahr 1944, der Befreiung Petersburgs. Nach Kriegsende als Teilhaber einer Kerzenfabrik jedem eine Kerze zu schenken, der anderen in diesen schweren Jahren geholfen. Symbol des ewigen Lichts, Jahwe. Dank seiner Gnade einer Frau begegnet, eine Tochter bekommen. Sie gaben ihr den Namen ihrer Mutter, Aviva, Frühling. In Zeiten des Krieges ein Zeichen der Hoffnung zu setzen.
Kein halbes Jahr später endlich vorbei das jahrelange Morden und Hungern. Die ersten Hilfsgüter auf Zügen herbeigeschafft. Brot gab es wieder, Eier und Mehl, Brot und Kuchen zu backen. Sauberes Wasser in Flaschen. Die Kerzenfabrik arbeitete wieder. Sonne schien wie vorher über gute und böse Menschen. Wie jetzt durchs ovale Fenster der russischen Aeroflot neben ihren Sitzen.
Aviva nippt Kaffee aus dem Plastikbecher, denkt an Fernando, ihren Freund. Papa hat Recht, ich möchte schon heiraten. Er aber schiebt immer wieder dasselbe Argument vor: Will erst promovieren, sich an einer Klinik bewerben. Später dann genug verdient, als Urologe eine eigene Praxis eröffnen. Läuft die gut, hat er nichts dagegen, einen Sohn zu zeugen. Bisher hat sie klein beigegeben. Als Jüdin dem Manne gefolgt. Vor Schwangerschaft geschützt. Jetzt aber entschlossen, ihn zur Rede zu stellen. Entweder oder.
Zwischen-Stopp in Berlin-Tempelhof. „Ob es im Restaurant «Der Berliner» noch die berühmten Pfannkuchen gibt? «Berliner» oder «Berliner Ballen» genannt. Hätte große Lust, einen oder zwei zu verdrücken. Dazu ein Kännchen frisch gebrühten Kaffees.“ Joshua schließt die Augen, mit der Zunge Erinnertes auf den Lippen zu schmecken. Alle Geschmackspapillen im Mund aktiv.
„Schade, nur eine halbe Stunde Zeit bis zum Weiterflug mit der Lufthansa nach Düsseldorf. Zu knapp, mich in aller Ruhe einem luftigen Berliner zu widmen. Hineinbeißen, bis Himbeermus im Innern das Glück vollkommen macht. Den heißen Kaffee, wie gewohnt, unter der Sahnehaube schlürfen. Schluck für Schluck. Den typischen Berlin-Geschmack im Mund, alles um mich herum vergessen.“
„Berliner gibt es auch bei uns in Konditoreien, kenne sie und mag sie wie Du.“
„Hier in Berlin schmecken sie aber besser. Wo sie erfunden, zum ersten Mal gebacken wurden. Original wie alles, was am Ursprungsort entsteht. Vielleicht ist es die Berliner Luft, die sie im Laden einatmen.“
„Mag sein, Du empfindest es so, weil Berlin Dich an damals erinnert. Mir schmecken sie so gut, weil sie in Düsseldorf gebacken. Einer Stadt, in der ich immer schon leben wollte. Bis ich Paris kennenlernte.“
In der Halle nur Bänke mit Wartenden. Lediglich ein mobiler Eiswagen, Grün, Weiß, Rot lackiert. Eine gut geölte Tenor-Stimme singt: «Gelato Italiano – meglio d’el mondo». Italienisches Eis, bestes der Welt. Drängt Vorbeieilenden einen Becher mit drei Kugeln auf: Minze, Vanille und Erdbeere. Grün, Weiß, Rot, die Farben der Fahne des geeinten Italien seit 1861.
Joshua mit seinen Gedanken beim Pessachfest. An dem erinnern Juden das Ende ihres Exils in Babylon 539 v. Chr. Auch 1933, als Nazis die Macht an sich gerissen, drohten Haft und Enteignung. Er und seine Frau flohen freiwillig, um der Gefahr einer Verschleppung oder dem Tod zu entkommen. Die Nürnberger Rassengesetze gerade erlassen. „Aviva, setzen wir uns und plaudern ein bisschen.
Muss unausgesetzt an das letzte Pessachfest hier in Berlin denken. Dort hatten Deine Mutter und ich uns 1934 in einem Café kennengelernt. Wollten nach Russland auswandern, den Nazis entfliehen. Nachdem mir die Leningrader Universität eine Professur angeboten. Leningrad hieß früher Sankt Petersburg. Ich kannte die Stadt, bevor Stalin sie in Leningrad umbenennen ließ. Stadt des kommunistischen Politikers Wladimir Iljitsch Lenin. 1917 aus der Schweiz angereist, verkündete in allen Großstädten Russlands die kommunistische Idee. Die vom Adel zur Leibeigenschaft gezwungenen Menschen folgten ihm. Wählten Lenin zum ersten Premier der UDSSR.“ Schweigt eine Zeit, von Erinnerungen bewegt.
„Erinnere das Menue in Berlin, als wäre es gestern gewesen. Familie und Freunde um einen großen Tisch versammelt. Ein junger Mann kochte damals für uns, was wir noch nie gegessen. Am Pessachfest übliche Lebensmittel gab es nicht, außer Lamm, Salat und Nüssen, die an bestimmte Ereignisse nach der Babylonischen Gefangenschaft erinnern. Trotzdem kam es mir vor wie vom Himmel gefallenes Manna. So anders, animierend geradezu. Schmeckte, wie es dem Volk der Juden bei ihrem Auszug aus Babylon geschmeckt haben muss. Als Manna vom Himmel regnete. Sie in der heißen, menschenfeindlichen Wüste vor dem Verhungern bewahrte. Rettung in höchster Not.
Orthodoxe Juden glauben immer noch, Manna fiel vom Himmel. Obwohl Wissenschaftler entdeckten, dass Schildläuse auf Tamarisken-Bäumen herbsüßen Saft absondern. Der an der Luft fest wird wie das Fruchtfleisch von Datteln. Lässt sich leicht abpflücken und schmeckt fast wie Honig. Wäre der Boden in Sankt Petersburg trocken und nicht moorig, könnten auch dort Tamarisken wachsen. Während der Hunger-Jahre abertausende Menschen am Leben geblieben.
Jetzt zum Menue. Eine ungewöhnliche Mischung von Fleisch, Gemüse, Früchten und Nüssen. Regelrechter Schmaus für Augen und Gaumen, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Mag sein, dass es Erinnerung ist, die mich heute noch begeistert:
Als Vorspeise in Öl gebratene Rotebete mit Äpfeln, Frisée-Salat, Pekan-Nüssen, Salatherzen und knusprig gebratene Schwarzwurzeln.
Der Hauptgang bestand aus zwei gebratenen Lammkoteletts mit frischen Feigen und Chiccorée, dazu Pfeffersoße mit Mandeln. Zum Nachtisch Honigsorbet mit grünen Äpfeln. Alles koscher, wie in der Tora vorgeschrieben.“
Aviva beeindruckt: „Ungewöhnlich finde ich wie Du. Aber ist diese seltsame Mixtur typisch für die jüdische Küche? Kann mich nicht erinnern, bei Euch so etwas gegessen zu haben. Nur an Deine Äußerung, das Essen vor Eurer Flucht wäre ein Abschiedsessen gewesen. Jetzt weiß ich, es war das, was Du mir jetzt so begeistert beschrieben hast. Warum aber war es ein Abschiedsessen?“
»Du musst wissen, das Essen an Pessach ist seit Jahrtausenden Tradition. Jedes einzelne Teil des Menues erinnert an einen psychischen Zustand der Juden oder ein Ereignis, damals beim Aufbruch aus Babylon in Richtung Jerusalem. Alle Juden glaubten damals, Jahwe habe sie gerettet. Nun zu Deiner Frage:
Wir waren damals einige Tage in Berlin, bevor wir nach Sankt-Petersburg weiter reisen durften. Das Pessachfest am letzten Tag. Der Koch ein Jude, der sich damals schon verstecken musste. Der Rasengesetze wegen und der daraus folgenden antijüdischen Stimmung. Ließ sich liefern, was in der Umgebung wächst. Notgedrungen zauberte er daraus, was nicht in allen Teilen der Tradition entsprach. Zubereitet aber mit dem Einfallsreichtum jüdischer Kochkünstler. Schöpfen Ideen aus überlieferten Rezeptbüchern, wie Rabbiner Glaubenswahrheiten aus der Tora. Vermute, Fleisch und Gemüse von judenfreundlichen Landwirten bekommen. Feigen, Mandeln und Pekan-Nüsse bei einem der wenigen noch existierenden Hinterhof-Importeure. Wie mir ein Freund schrieb, haben die Nazis ihn bald danach erwischt und ins KZ Oranienburg gesteckt. Da wurde mir klar, wir sind noch mal davon gekommen. Ein Essen, bei dem wir Abschied genommen. Von Berlin und einem Leben, das wir nun hinter uns lassen mussten.“
„Das kann ich gut verstehen. Aber während des Krieges und danach haben auch Millionen Deutsche von ihrem gewohnten Leben Abschied nehmen müssen. Tote beweint, gehungert, bald aber durch Fleiß wieder nachgeholt, was sie lange vermisst. Bist Du sicher, die Zutaten Deines Menues gibt es auch bei uns? In einem Land, in dem kaum noch Juden leben. Ganz andere Essgewohnheiten gepflegt werden. Gerade jetzt, als alles wieder zu kaufen ist.“
„Ich weiß es nicht, aber die Feinkostläden sind voll mit Früchten aus wärmeren Ländern.“
„Glaubst Du, Anna, Deine Haushälterin, kann es auch so lecker zubereiten, gäbe es alles? Dann würde ich es Dir zum achtzigsten Geburtstag schenken. Einem der zahllosen Nachfahren Abrahams, der das Glück hatte, zwei Diktaturen zu überleben.“
„Keine Ahnung, ob sie überhaupt jüdische Gerichte kennt und kochen kann. Nie daran gedacht, sie zu fragen. Es hat uns immer geschmeckt, was sie kochte.
Du weißt, wir halten uns nicht streng an jüdische Gebräuche. Zutaten für das Berliner Gericht aber hatte ich dort sofort aufgeschrieben. Für den Fall, dass wir nach dem Krieg wieder nach Deutschland kommen. Ich werde ihr meine Notizen geben und wir erleben, ob sie alles beschaffen kann, um es am 12. Mai, meinem Achtzigsten zuzubereiten. Übrigens: bevor wir uns trafen, um gemeinsam nach Sankt Petersburg zu reisen, bat ich Anna, in der Villa zu bleiben, während Arbeiter den Wintergarten bauen. Gespannt, ob alles gut gegangen ist.“