Читать книгу Die Metamorphose des Herrn Fuchs - Otto W. Bringer - Страница 6

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1. April 1956

Ferdis zweiwöchige Ägyptenreise im Flug vergangen, eins nach dem anderen passiert, sodass es unmöglich ist, die Tage auseinander zu halten. Kein Aprilscherz, liebe Leserinnen und Leser. Sie werden auf nichts verzichten müssen. Reisepass, mit Foto gestempelt, in Ferdis Hosentasche. Als Beruf Handwerker angegeben. Was bei einer Überprüfung der Tatsache entsprochen hätte. Arbeitet er doch mit Händen, womit sonst? Kein Kontrolleur muss wissen, dass er nur ein ungelernter Gehilfe ist. Er würde ihn nie so respektvoll wie einen Uniformierten oder einen Pfarrer um seinen Pass bitten.

Von Düsseldorf erst nach Köln, umgestiegen in den Zug nach Marseille. Auf dem Bahnsteig drängen sich Menschen. Gruppen von jüngeren, Pfadfinder erkannt an bunten Halstüchern, die ein Ring mit einem Symbol zusammenbindet. Spielen Gitarre, singen laut und ausgelassen, winken mir zu. Winke zurück und fühle mich wie einer von ihnen. Froh, die neue Cordhose, das weiße Hemd angezogen zu haben. Einen guten Eindruck zu machen. Wer weiß, wem ich unterwegs oder in Ägypten begegne.

Unsere Reisegruppe kommandiert ein sogenannter Reiseleiter. Erinnert mich an die Zeit im Waisenhaus. Der hier sorgt dafür, dass die zwölf beisammen bleiben, niemand in den falschen Zug steigt. Ruft alle Nase lang: „Nicht weggehen, stehen bleiben. Unser Zug wird schon kommen.“ Als er verspätet einläuft, kaum die Türen geöffnet, dränge ich mich als erster ins erstbeste, freie Abteil.

Koffer brauche ich keinen zu verstauen. Zuletzt noch im Kaufhof einen Handbeutel günstig gekauft. Für Waschlappen, Seife, Kamm, Zahnpasta und Bürste. Cordhose mit Portemonnaie, Reisepass und das Hemd am Leib. Sandalen an den Füßen. Alles wird die zwei Wochen überstehen. Außerdem soll es so heiß sein, dass man nackt baden kann. Wäsche, Hemd, Hose und Sandalen, nur zum Essen im Restaurant angezogen, bleiben sauber. Hier allein im Abteil mit einer jungen Frau. Ihr Gesicht von einem Kopftuch halb verdeckt.

„Wollen Sie auch nach Ägypten? In diesem Zug nach Marseille? Dann auf dem Schiff weiter bis Alexandria, mit dem Bus nach Kairo? Zwei Wochen Ferien wie ich? Es würde mich freuen, wenn wir uns unterhalten, Meinungen austauschen könnten.“

Das Kopftuch beiseitegeschoben, zwei schwarze Augen sehen mich an, blutrot geschminkt die Lippen: „Ai kahnt änderständ ju, Ssör. Du ju spiek Inglisch?“ Es hört sich Englisch an. Bevor ich sorry sagen kann, wird die Abteiltür aufgerissen: „Herr Baron, Sie sind im falschen Abteil. Bitte folgen Sie mir.“

Die Frau sieht mich an, doch leider muss ich weg. Einem anderen folgen, wie immer in meinem bisherigen Leben. Stottere: „Sorry“, das einzige englische Wort, das ich behalten. Ob es hier richtig ist? Aber in ihrem Gesicht geht die Sonne auf. Lächelt und nickt, als wollte sie mich wiedersehen.

Die Fahrt dauert und dauert. Zähle die Stunden nicht mehr. Schon elf Stunden unterwegs. Vom vielen Lesen schläfrig geworden, und dem monotonen Geräusch der Räder auf dem Gleis. Taktet unentwegt, wenn Schienenstöße überfahren. Gerüttelt, geschüttelt auf Weichen, in Kurven. Über schwindelerregend hohe Brücken gefahren, in den Abgrund unter mir geschaut und gedacht: Was, wenn sie jetzt einstürzt? Vorbei an Straßen und Flüssen. Sonne blendet, in Tunneln schwarz wie die Nacht, bis Lampen im Zug aufglimmen. Das Fahrgeräusch lauter als vorher und nachher.

Die Landschaft interessiert mich nicht mehr, zu schnell vorbei. Aber groß das Bedürfnis, in frischer Luft die Beine zu vertreten. Leider nur den Gang zur Toilette hin- und zurückgegangen. Vorbei an Menschen mit Gepäck, die keinen Platz gefunden. Oder lieber im zugigen Gang mit anderen überfüllte Züge beklagen als im Abteil sitzen und sich stundenlang anschweigen.

Erneut unterwegs zum WC. Jeder Bahnfahrer weiß, wie das ist, sich durch Massen von Menschen und Koffern zu schlängeln. Halt suchen an was auch immer. Um nicht in einer Kurve an eine fremde Frau geworfen, sich an ihr festhalten müssen. Schaffe es trotzdem, heil im Speisewagen anzukommen. Appetit auf eine Suppe. Mit letztem Lohn und den hundert übrig geblieben Mark des Gewinns mehr als genug für zehn Pfadfinder.

Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich an einem Tisch essen und gleichzeitig weiterkommen. Die Tür zum Speisewagen geöffnet, wen sehe ich? Die Frau aus dem ersten Abteil. Eile auf sie zu, da bremst der Zug. Mich schleudert es direkt an den festgeschraubten Tisch. Der verhindert, dass ich ihr um den Hals falle, um nicht zu stürzen. Die Frau, deren Gesicht ich im Abteil nur zur Hälfte wahrgenommen, hatte das Kopftuch abgelegt, lächelt mich an. „Sorry“ bringe ich heraus, nur sorry. „Nicht ich wissen, wie soll sagen, Sie mich verstehen, verstehen Sie?“

Da steht sie auf wie eine gut erzogene Tochter, ihre Hand deutet auf den Platz ihr gegenüber, lächelt: „Bitte.“

Jetzt sehe ich, sie ist klein. Nicht größer als ich. Aber sicher doppelt so dick. Ein richtiges Pummelchen, zum Schmusen ideal, denke ich. Setze mich und schau sie an. Rosige Bäckchen, die Lippen rot, kastanienrot ihr Haar. Bubischnitt die Mode von gestern. Ob sie auch von gestern ist, oder von heute? Mich lieben könnte, einen, der von morgen sein möchte. Ein Herr, der eine Dame bittet, die seine zu werden.

Frage mich jetzt, ob sie auf Deutsch nur bitte sagen kann wie ich auf Englisch nur sorry? Es wird sich zeigen. Zeit genug noch bis Marseille. Sicher auch Anlässe, es auszuprobieren. Ein Glück, dass Kellner in diesem Zug auch Deutsch sprechen: „Bringen Sie mir bitte die Suppe, die hier auf der Karte als Mittagessen angeboten wird.“

„Leider, leider ist sie ausverkauft, drei Reisegruppen wollten sie haben. Biete Ihnen stattdessen Haferbrei an, original Ägyptisches Rezept, gewürzt mit Kurkuma. Kostprobe eines Landes, in dem seit kurzem dieses aus Indien stammende Gewürz angebaut wird. Weil es Touristen beim Verzehr heimischer, also ungewohnter Speisen, vor Magenschmerzen schützt.“

Mein Gegenüber rasch: „Ei nau Kurkuma, wont it.“ Sieht mich an und lächelt. Nickt, als forderte sie mich auf, auch Kurkuma zu essen. Nichts lieber als das: „Bringen Sie uns eine doppelte Portion von diesem Kurkumabrei in einer Schüssel. Einen Schopflöffel dazu und zwei tiefe Teller.“ „Ganz wie Sie wünschen, mein Herr.“ „Baron.“ „Wie Sie wünschen, Herr Baron.“

Fünf Minuten später die dampfende Terrine auf dem Tisch. Teller, Löffel und Servietten schon bereit auf allen Plätzen. Bevor einer von uns zugreift, hatte der Kellner den Deckel bereits abgehoben. Die Kelle in der Rechten, den Teller vor der Frau bis zur Hälfte gefüllt: „Okay, Madame? Sie nickt, winkt ab. Sieht mich erstaunt an, als ihn nicht daran hindere, meinen Teller bis oben an den Rand zu füllen.

„Oh, ju ar hangri, gutt äppetait, Baron!“

Könnte guten Appetit heißen, nicke ihr zu: „Gutt Äppetait auch Ihnen.“ Was soll ich sonst sagen? Seit heute früh nichts mehr gegessen? Sie würde es nicht verstehen, spräche ich Deutsch. Wir beide sitzen an einem Tisch. Löffeln den Brei, der nicht nur gelb aussieht, auch gelb schmeckt. Mein Inneres färbt, so fühlt es sich an. Denken an Gott weiß was und sagen kein einziges Wort. Versuche es nochmal: „Sorry“ und sehe sie an. Und wieder nur blutrotes Lächeln. Lächelt und sagt: „Bitte.“

In ihrem Abteil ein Platz frei, setze mich ihr wieder gegenüber, wie im Speisewagen. Sie anzuschauen. Vom Schauen, nichts sagen und nichts tun können müde geworden. In der Ecke des Abteils am Fenster eingenickt und die ganze Zeit kein Wort gesprochen. Immer mal wieder aufgewacht, Pummelchen vor mir angesehen. So gerne mit ihr geschmust. Sie scheint zu schlafen. Sehe ihren Busen und denke an Mama. Nie erlebt und erfahren, wie sich eine Mama anfühlt. Warm muss sie sein wie die Sonne. Mich aufgehoben fühlen und beschützt vor allem Bösen in der Welt. Wie Mütter ihre Kinder erziehen, habe ich in Romanen gelesen, aber selbst nie so erlebt. Einmal nur, ein einziges Mal, möchte ich mich am Busen einer Mama kuscheln. Zugleich beruhigt und unternehmungslustig. Erinnere mich an einen Gast, der im «Ürigen», Düsseldorfs bekanntester Altstadtkneipe, viel Beifall bekam. Als er nach fünf Bier und sechs Schnäpsen eine Opern-Arie sang:

«Als Büblein klein an der Mutter Brust, hopp heißa bei Regen und Wind».

Durchsage Gottseidank auch in Deutsch. Ich wäre vielleicht sitzengeblieben, wenn Pummelchen nicht ausgestiegen: „Marseille, Hauptbahnhof in wenigen Minuten.“ Muss also aufstehen und auszusteigen. Springe auf, das Abteil zu verlassen. Im selben Moment erhebt sich auch mein Gegenüber ebenso schwungvoll. Wir prallen aufeinander. Für ein oder zwei Sekunden am Busen des Pummelchens. Vereint wie ein Paar. Halte inne, dieses Gefühl bewusst zu genießen. Ihre Wärme durchs Hemd auf der Haut zu spüren:

„Sorry, Mama.“ „Bitte, mai beibi.“ Sie scheint auch nur das Wort Bitte zu kennen und nicht wissen, was es auf Deutsch bedeutet. Erinnere während der Besatzungszeit riefen englische Soldaten: Hällo Beibi. Begegneten sie jungen Mädchen. Frage mich, ob Pummelchen auch mich mit Beibi angeredet, weil ich wie ein Mädchen noch unrasiert und schüchtern bin. Egal, ich habe so etwas wie Mama gespürt. Schöner kann ein Urlaub nicht beginnen.

Im Bus bis an den Kai, an dem ein Dampfer dampft. Was soll er anders tun? Sonst käme niemand mehr über seinen Tellerrand hinaus. Jedes Land, jede Stadt, jedes Dorf, ja selbst jeder Mensch bliebe allein. Müsste verkümmern, ohne den Horizont zu erreichen, der hoffen lässt auf Besseres, Schöneres. Jenseits der erfahrbaren Welt auf alle wartet, die ihren Gefühlen folgen. Nicht nur ihrem Verstand.

Man mag nicht glauben, dass einem Waisenkind solche Gedanken kommen. Aber Jupps Ratschlag im Kopf, seinen Gefühlen zu folgen nicht nur dem Verstand. Wissen könne man eh nicht alles. Was er nicht wusste: Aloysia Kuhlenberg, Rektorin einer Schule für geistig behinderte Kinders schrieb in ihrem Buch mit dem Titel «Erziehen heißt lassen»: In jedem Kind steckt mehr als man ihm ansieht. Als er den Titel in einer Buchhandlung sah, wollte Ferdi es kaufen. Neugierig zu erfahren, was sie unter lassen versteht. Gehen, springen lassen, werden lassen, was ein Kind möchte? Nicht zu allem gezwungen wie ein Kind in einem Waisenhaus. Leider war das Buch ausverkauft.

Die Überfahrt nach Alexandria, Ägyptens größtem Überseehafen, verschlafen. Müde und abgespannt. Den Roman vom unbekannten Vater zu Ende gelesen und den Rest der Zeit mehr oder weniger gedöst, an nichts Bestimmtes gedacht. Vielleicht lag es an der höheren Temperatur. Auch nachts 30 °C. Dazu zwei Wochen vor mir, auf die ich innerlich nicht genug vorbereitet bin. Hoffe sehr, es wird so, wie ich es mir gewünscht. Freundlichen Menschen begegne, auch wenn ich ihre Sprache nicht verstehe.

Pummelchen aus den Augen verloren. Schade. Hätte sie gerne in meiner Kabine begrüßt. In der zweiten Koje ein alter Mann, einen dicken Wälzer in der Hand. In dem er während der ganzen Überfahrt blättert und liest. Den Kopf nicht hebt, kein Wort mit mir spricht. Auch nicht beim Essen, bei dem er weiter liest. Kenne das, weil auch ich unbedingt wissen will, ob zwei. die sich lieben, auch heiraten. Aber dieser Mann scheint, je mehr Papier er umblättert, umso glücklicher zu werden.

Ich aber werde dank Lotto-Gewinn zum ersten Mal wissen, was es heißt, wirklich glücklich zu sein. In den Tag hinein zu leben. Zwei Wochen nicht arbeiten, keinem Befehl folgen zu müssen. Genießen, was mir begegnet, wie Pummelchen im Zug. Hier auf dem Schiff das Frühstück serviert bekommen. Danach auf allen Decks spazieren gehen. Treppen rauf und runter. Leute begrüßen, die mich wieder grüßen. So könnte es weiter gehen ein Leben lang. Kann mir leisten, von oben hinunter aufs tiefblaue Wasser zu schauen und nichts zu tun. Nur beobachten, wie Fische sich raufen, aufbäumen und wieder untertauchen. Als spielten sie Räuber und Gendarm, wie wir als Kinder. Rund um das Schiff jede Menge Möwen, die die Route zu kennen scheinen. Wo Köche und Gäste ihnen Essensreste zuwerfen. Wäre ich eine Möwe, brauchte ich nie mehr zu hungern. Nie mehr Geld verdienen, um Brot, Wurst und Gemüse zu kaufen. Begleitete jedes Schiff.

Jetzt aber bin ich ein reicher Mann: Baron Fernando von Fuchs. Vergessen die arbeitsfreien Ferien im Grafenberger Wald bei Düsseldorf. Mir vom Gesparten das billigste Gericht im Restaurant gegönnt oder einen Kinobesuch extra. Jetzt leiste ich mir eine Reise für 2900 Mark.

Nach Ankunft in Alexandria im Bus vier Stunden bis Kairo in einen Sitz gepresst, ohne mich frei bewegen zu können. Nicht umhergehen wie im Zug, einer schönen Frau Komplimente machen. Vorausgesetzt, sie versteht Deutsch. Sie nach ihren Plänen fragen und meine danach richten, wenn ’s im Reisepreis enthalten. Sehne mich nach einem Freund, dem ich vertrauen kann. Zulange gehänselt, das dumme Waisenkind gewesen. Es kann auch eine Frau sein. Freundin werden, Geliebte oder Ehefrau.

Wir wohnen im «Arabian Night Hotel». Nicht weit zu Kairos Sehenswürdigkeiten. Man spricht Englisch, auch Deutsch, zum Glück. Werde mir trotzdem ein kleines Wörterbuch für Touristen kaufen, Deutsch-Englisch-Englisch-Deutsch. Und endlich wissen, was sorry bedeutet. Gespannt auf Sehenswürdigkeiten, von denen ich noch nie gehört, geschweige gesehen. Nur ein paar kleine Fotos im Reise-Prospekt.

Als erstes acht Geh-Minuten zum weltberühmten Basar «Khan el-Kalili.» Ein Markt mit allem, was der Orient bietet. Mindestens zehnmal so groß wie der in Düsseldorf. Eine Stadt in der Stadt. Beeindruckt von Farben, Gerüchen und jaulenden Tönen taumele ich durch Massen von Menschen, verlor den Anschluss an meine Gruppe. Suche verzweifelt den Eingang, durch den wir in den Markt gingen. Da spricht mich ein Ägypter an: „Can I help you?“ Verstehe nicht, muss ein dummes Gesicht gemacht haben: „Sind Sie ein Deutscher?“ Überrascht nicke ich nur. „Wir können gerne Deutsch reden. Habe zwei Jahre in Deutschland bei Blohm & Voss in Hamburg gearbeitet, Deutsch gelernt. Wenn Sie wollen, begleite ich Sie jetzt durch Ägyptens berühmtesten Basar.“

Glücklich, als mir klar wird: Jetzt befielt mir keiner, was ich tun oder lassen soll. Im Gegenteil, er fragt mich, ob ich Lust habe, mich führen lassen will oder nicht. Jetzt bin ich ein Herr. Einer, der sich geschmeichelt fühlt und antworte: „Ja, gerne.“ Erklärt mir, was Ägypter lieben und warum, beidseits der schmalen Gänge kreuz und quer durch den Markt. Obst, Gemüse, lebende Hühner, Enten und Küken, sogar Schlangen und Kröten in engmaschigen Gitterkörben. Geschlachtet Teile von Schwein, Rind, Kamel und Gazelle. Würste, Schinken. Es duftet nach Gebratenem, da nach Fleisch, dort nach Fisch. Aus dem Meer Fische aller Art und Muscheln, Krebse und Kraken, die ich noch nie gesehen. Frisch gefangen für anspruchsvolle Köche und Hausfrauen. Ungezählte Körbe mit Kräutern, Gewürzen, Farben, Gerüche aus Tausend und einer Nacht. Stände mit Gebäck, Berge von Süßigkeiten. Da und dort kleine Mahlzeiten. Aber auch Gold- und Silber-Werkstätten. Lampenbauer, Teppich-Knüpfer. Stoffe in allen Farben des Regenbogens. Von der Decke herunter gehängte farbige Bahnen aus Wolle, Seide und Damast. Teppiche in verschiedenen Größen mit Mustern aus vielen Ländern des Orients.

Sogar ein Schneider, der Besuchern einen Djellaba anmisst. Am selben Tag fertig zum Mitnehmen. Gewand aller Männer in Ägypten, knöchellang. Weiß und weit geschnitten, damit in der Hitze des Tages stets ein Windzug den Körper kühlt. Wäre es bei uns das ganze Jahr so heiß wie hier, würde ich die 30 Mark ausgeben, mir einen nähen lassen. Ginge auch in einem solchen Gewand zur Arbeit. Ha, würden die Augen machen!

Überall kleine Tischchen, an denen Tee serviert, kleine Leckereien. Teils unter Dach und teils im Freien, weiße Markisen über uns kühlen Plätze, wo Menschen sich niederlassen. An einem runden Tischchen bleibt mein Begleiter stehen: „Darf ich Ihnen einen Malventee anbieten?“ Noch nie so leuchtendes Rot aus gläsernen Bechern getrunken. Noch nie so frisch geröstete Mandeln geschmeckt. Noch nie hat mir ein Fremder sein Herz ausgeschüttet. Glücklich nach Jahren in Hamburg wieder in Kairo, seiner Heimat zu sein.

Plötzlich erlischt die elektrische Beleuchtung. Im selben Augenblick leuchten aberhundert Petroleum-Lampen auf. Auch er hat rasch auf unserem Tischchen eine hübsch geformte angezündet:

„Entschuldigen Sie, der Strom fällt öfter als einmal am Tag aus. Das Licht der Öllampe aber seit Tausenden von Jahren hell genug, zu erkennen, was wirklich wichtig ist.“ Bittet mich in sein kleines Lädchen gegenüber, die Lampe in der Hand. Zeigt mir eine Auswahl silberner Teelöffel als Souvenir. Acht Mark war der schönste mir wert. Sein Griff schmückt ein Skarabäus. Kleiner Käfer, als Symbol der Fruchtbarkeit wie ein Gott verehrt. Hätte ich einen Sohn, ich würde ihn Skarabäus nennen. Mit der Aussicht, viele Enkel zu bekommen. Die Zeit vergeht mit Staunen über das alte und neue Ägypten. Die anderen sicher längst wieder im Hotel. Der Mann ohne Namen fährt mich im Korb seines Dreirads zurück. Fühle mich wie der Pharao von Ägypten.

Am nächsten Vormittag einen Vortrag gehört über die Bedeutung einer Moschee bei Muslimen. Das Bauwerk ein Ort, Allah, ihrem Gott zu danken. Zum ersten Mal eine Kirche in Pantoffeln betreten. Auf den zwei Stufen vor dem Eingang in die «Aqsunqur-Moschee» jede Menge Filz-Pantoffeln zur Auswahl. Große für Männer, kleinere für Frauen. Alle ziehen die Schuhe aus, schlüpfen in Pantoffel. Heiligen Boden darf man nicht mit dem Schmutz der Straße verunreinigen. Schlürfen weiß Gott gewöhnungsbedürftig. Sich flach auf den Boden zu werfen bleibt uns erspart. Touristen erlaubt man aufrecht zu gehen, sich alles anzusehen. Bringen sie doch dringend notwendige Devisen ins Land. So nennt man fremdes, eingeführtes Geld.

Langsam schreiten wir durch alle Räume der riesigen Halle, sehen uns um und staunen. In der Kaaba, dem heiligen Raum liegen Männer auf dem Boden, höre sie Gebete murmeln. Alle exakt ausgerichtet in Richtung Mekka. Für Anhänger Mohammeds das, was Jerusalem für Christen ist. Orte, an denen der Gründer ihrer Religion in den Himmel aufgefahren sein soll. In der weiträumigen Moschee mit goldglänzenden Mosaiken überfällt mich plötzlich ein Gefühl, das ich als Kind kennengelernt.

Auch hier denke ich an Gott. Obwohl kein Bild von Allah oder seinem Propheten Mohamed zu sehen ist. Ihre Religion verbietet Abbildungen von Menschen generell. Von Allah, dem Allerhöchsten, Unsichtbaren erst recht. Im Gegensatz zu unseren Kirchen, die voll sind mit Bildern von Christus am Kreuz und vielen Heiligen. Gottvater und Heiliger Geist gemalt oder aus Holz oder Gips geschnitzt, obwohl sie wie Allah ebenso unsichtbar sind. Und keiner weiß, wie sie aussehen.

Schmuck aber sollte sein. Allah zu danken und zu ehren. Deshalb entwickelten Künstler im Laufe der Jahrhunderte hinreißend schöne Kaligraphien. Schrift, die wie Ornamente aussehen. Aus Gips geschnitten Decken und Gewölbe, wirken hier wie Strickmuster im schräg einfallenden Tageslicht. Wände und Gebets-Nischen in Moscheen, Burgen und Herrensitzen mit Mosaiken geschmückt. Auch hier in der Aqsunqur-Moschee immer wieder hingeschaut und es nicht fassen können. Schöneres sah ich nie. Baute ich jemals ein Haus, holte ich einen ägyptischen Künstler und ließ ihn Decken wie Gewölbe in Stuck schneiden, die Wände mit Mosaiken schmücken.

Meine Schuhe fand ich wieder, wo ich sie hingestellt. Kein Dieb hatte sie gestohlen. Obwohl westliche Schuhmodelle in Sandalen-Ländern begehrt sind. Aus echtem Leder in Form gebracht. Früher soll man Diebe hingerichtet haben, die Straßenschuhe von Besuchern vor einer Moschee mitgenommen, konnte man sie überführen.

Nächsten Tages im Bus zu den drei Pyramiden. Habe mir alles gemerkt, was der Reiseführer uns vorher erzählt. Bis dahin noch nie so viel von Königen gehört und gelesen, die schon 5000 Jahre tot sind. Ließen Pyramiden schon zu Lebzeiten bauen, in denen sie nach ihrem Tod bestattet wurden. Großartiger als Burgen früherer Herzöge am Rhein. Schlösser von Kaisern überall in Europa. Dome mit den Reliquien katholischer Heiligen. Christliche Kirchen überstanden Jahrhunderte. Pyramiden aber über vier Jahrtausende, wie ich jetzt weiß.

Frage mich: wer müsste ich sein, damit man für mich später auch so viel Aufwand macht? Müsste schon ein Pharao sein, kein Baron. Ein Handlanger schon gar nicht. So reich werde ich nie sein, um schon zu Lebzeiten ein so riesiges Grabmal bauen zu lassen, das nach 5000 Jahren an mich erinnert, Pilgerströme anlockt. Wer muss ich sein, um ein Pharao zu werden? Baron dagegen ein Leichtes. Nie habe ich mich so klein gefühlt wie hier vor der Pyramide des Cheops. Aber nicht das von anderen gedemütigte Waisenkind.

Viel mehr wie befreit und glücklich, wahre Größe zu erleben. Die Großmut eines Pharao, der mich nicht verjagen oder einsperren lässt, weil ich heiliges Gelände mit schmutzigen Sandalen betreten. Damals als Kind drei Tage kein Mittagessen bekommen. Weil Hemd und Hose nach Schweinestall stanken, den ich säubern musste. Anschießend zum Beichten in die Hauskapelle ging. Den Beichtvater muss es gestört haben, meldete es der Heimleitung. Muslime kennen keine Beichte, ob ich die Religion wechsle und an Allah glaube?

Die größte der drei Pyramiden in Gizeh nahe Kairo. Pharao Cheops ließ sie vor 4500 Jahren errichten. Um in der obersten von vier Kammern im Innern bestattet zu werden, den Göttern nahe. Seine Leiche gewaschen, mit speziellen Ölen einbalsamiert und mit Binden aus Leinen fest umwickelt. Vorher schon alle Eingeweide heraus operiert, weil sie schnell verwesen. Alles Innere anstecken, das dann schnell verfault. Die wichtigsten Organe, Gehirn, Herz und Lunge einzeln in sogenannten Kanopen-Gefäßen in die Grabkammer gestellt. Die leeren Stellen im Körper des Toten mit duftenden Heilkräutern ausgestopft. Damit bleibt, der er war: ein lebender Pharao.

Dem Leichnam im Sarkophag brachten Angehörige jede Woche Nahrung und Getränke. Damit er nicht verhungerte, verdurstete, am Leben bleibt. Bis die Seele, die ihn beim Tod verlassen, wieder in seinen Körper zurückgekehrt. Seele, auf Ägyptisch «Ka», ist unsterblich. Wie in allen Religionen der Welt. Hölle und Fegefeuer kennen sie nicht. Nur unterschiedlich lange Abwesenheit der Seele, die der Totengott «Anubis» bestimmt. Abhängig vom Bemühen des Menschen, auf Erden ein den Göttern gefälliges Leben zu führen. Für alles, was sichtbar, gab es einen Gott. Für jeden einen eigenen Tempel. So stand es im Prospekt.

Gewaltig die Maße der Cheops-Pyramide. Stehe ich davor, komme mir noch viel kleiner vor als ich schon bin. Nur noch winziger Marienkäfer vor dem 146 m hohen Bauwerk. Mehr als 4000 Jahre war es das höchste der Welt. 230 m lang jede der vier Seiten seines quadratischen Grundrisses. Außer mir nur noch zwei unserer Gruppe, die sehen wollen, wie es innen aussieht. Klettern außen steinerne Stufen bis vor den Eingang in fünfzehn Metern Höhe. Hinein in einen niedrigen, schmalen Gang, aufwärts wie alle Gänge zu den drei Kammern. Dürfen nur bis zur ersten Kammer gehen. Dort Skulpturen und vergoldetes königliches Gerät bewundert.

In der obersten der Pharao Cheops, den Göttern nah. Sein Leichnam hat die Jahrtausende leider nicht so erkennbar überdauert wie der des Pharao Ramses II. Schon gar kein Abbild seines Gesichtes erhalten. Wie das des Pharao Tut ench Amun. Dessen goldene Mumien-Maske dem Gesicht des 19jährigen Knaben abgeformt wurde. Cheop nur auf Wandmalereien in seiner Grabkammer. Sein Leichnam im innersten mehrerer ineinander geschachtelter Särge vermutlich auf seidenen Kissen gebettet. Der äußerste Sarg aus massivem Stein. Die inneren aus Bronze oder hartem Holz der Libanonzeder.

Ein Sarkophag, in dem Pharaonen Jahrtausende überlebten. Umgeben von Kanopen mit Innereien, goldenen Gefäßen und kleinen Statuen des Pharao. Kein Sterblicher durfte die Kammer betreten. Seit dem 19. Jahrhundert ist es Archäologen erlaubt, das Innere zu erforschen. Präparierte, noch erkennbare Gesichter von Pharaonen mit erhaltenen Bildern und Plastiken aus ihrer Zeit zu vergleichen.

Nach einer guten halben Stunde endlich wieder an der frischen LuGrell das Tageslicht, Sonnenbrille vergessen, verflixt. Vor den Bussen, die Besucher wieder zum Hotel bringen sollten, eine große Anzahl von Männern im Djellaba. Gestikulieren und reden unaufhörlich. In einer Hand ein Bündel Ägyptische Pfundnoten. Man hatte uns vor Geldwechslern gewarnt, sie böten angeblich mehr als man in Banken bekäme. De facto wechselt man schlechter als beim offiziellen Kurs. Der Profit geht an die Geldwechsler.

Leider soll dieses Geschäft in Deutschland verboten sein. Sonst könnte mich die Idee reizen, den nächsten Lotto-Gewinn am Düsseldorfer Hauptbahnhof zu wechseln, dass mehr für mich übrig bleibt. Das Geld Reisender aus Frankreich oder der Schweiz gegen Deutsche Mark tauschen. Für Franc und Franken von einer Bank mehr Mark bekommen als ich eingetauscht.

Noch nicht in den Bus gestiegen, spricht mich einer der Geldwechsler an. Einer, der anders aussieht. Größer als alle, ein Riese, dem ich bis an die Brust reiche. Schwarz, kein Haarwuchs entstellt das Gesicht. Kein Schal verdeckt den krausgelockten Kopf. Dunkler die Haut als die der anderen. Beugt sich zu mir herunter, nimmt die Sonnenbrille ab. Zwei dunkle Augensterne suchen die meinen, flüstert: „Ju will better cheinsch jur mani?“ Es kam mir formelhaft vor, wie auswendig gelernt. Verstanden nix.

Zum Glück hatte ich mein Wörterbüchlein dabei. Er sieht mir aufmerksam zu, wartet geduldig, bis ich weiß, was er gesagt. Aber nichts gefunden, kein Ju, kein cheinsch, nur better. Könnte besser heißen. Sehe ein Geldbündel in seiner Hand und andere unserer Gruppe ihres tauschen. Aha, das will der bei mir sicher auch. Sieht sich ständig um, als dürfte keiner sehen, was alle tun. Weniger Ägyptische Pfundnoten zahlen als der offizielle Wechselkurs vorgibt.

Weshalb ich sicher bin, dieser Mann betrügt mich nicht, weiß ich nicht. Nur so ein Gefühl, als kennten wir uns schon lange. Nehme einen 10-Mark-Schein aus dem Portemonnaie. Im Wörterbuch gefunden: „Pleace change it.“ Weiß nicht, wie man es ausspricht. Spreche aus, so wie es gedruckt ist.

Er lacht laut und blättert mir Scheine im Wert von 90 Ägyptischen Pfund in die Hand. Steckt, zufrieden grinsend, meinen Zehner in die Hosentasche. In der Hand ein Bündel Ägyptische Pfunde für den nächsten Reisenden. Winkt: „Bai, bai nikusalinu Dschörmeny, ai lave it.“

Suche im Wörterbuch, kein bai, bai, kein nikulasinu, Dschörmeny, könnte Germany, Deutschland heißen, am Ende mit Ypsilon. Lave klingt ähnlich wie love, lieben. „Moment“ sage ich und blättere: „Why love jou Germany?“ Warum lieben Sie Deutschland? Er reibt Daumen an Zeigefinger: „Pata pesa niyngi in Dchörmeny.“ Aha, könnte heißen: viel Geld verdienen in Deutschland.“ Jetzt will ich noch wissen, wie er heißt. Blättere: „Jur name?

„Abebi änd ju?“ Meint er mich? „Ferdi Fuchs.“ Rausgerutscht, den Baron vergessen, egal. Spontan gewünscht, ihn wiederzusehen und geblättert. Gerufen: „Büe, büe, Abebi!“ Der Bus schon abgefahren, ihn noch winken gesehen. Bis eine mächtige Sandwolke ihn verschluckt. Aufgewirbelt von den Hufen einer Gruppe vorbei galoppierender Araber. Auf ihren Rücken wehende Djellabas.

Am nächsten Vormittag in Karnak am Nil die größte erhaltene Tempelanlage Ägyptens besichtigt. Auch die so gewaltig, dass ich mir klein vorkomme. Winzig wie eine Maus zwischen hundertvierunddreißig fast zwei Meter dicken und vierzig Meter hohen Säulen. Von unten bis oben Schriftzeichen, Hieroglyphen genannt. Erzählen, wie Wandbilder in unseren Kirchen, von Ereignissen der Religionsgeschichte. Ein deutsch sprechender Ägypter klärt uns auf: Am Neujahrstag wurde dort elf Tage lang der Höhepunkt des Jahres gefeiert: Ihr Pharao wie ein Gott verehrt. Ob er wie unser Gott hoch über allen Säulen thront? Da, wo einstmals auskragende Kapitelle das Dach getragen, über das sich unendlich blauer Himmel wölbt.

Die Nacht in einem Hotel in Luxor verbracht, auf der anderen Seite des Nil. Die berühmte Sphingen-Allee besichtigt. Entlang gegangen, die steinernen Köpfe gestreichelt als wäre es das Fell lebender Widder. Wie mag es sich bei einem lebendigen anfühlen? Farbige Bilder von schönen Frauen bewundert auf noch gut erhaltenen Wänden des Amun-Tempels. Zum nahe gelegenen Tal der Könige gefahren, wo viele Pharaonen in Felsengräbern bestattet wurden. Auch Königin «Hatschepsut», eine der wenigen Frauen auf dem Thron. «Tut Ench Amun», der mit 19 Jahren gestorbene Pharao, dessen Grab der Brite Howard Carter 1922 entdeckte. Das einzige, das nicht geplündert, unerhörte, noch nie gesehene Schätze freilegte.

Anlass für uns, das Museum in Kairo zu besuchen. Kann es nicht erwarten, den zu sehen, von dem ich gelesen. Stehe vor seiner goldenen Mumienmaske und kann mich nicht rühren. Gefesselt von so viel Schönheit und geweint. Ein Junge noch wie ich. Vergoldet, weil er ein König war und schon mit 19 Jahren gestorben. Kann nicht mehr mit ihm reden, seine Meinung über andere Menschen hören. Er soll sogar seine Mama gesiezt haben, und alle, die älter waren. Ob sie ihn geliebt hat, umarmt und gestreichelt?

Den nächsten Tag dann am Schwimmbad unterm Sonnenschirm vertrödelt. Andere in die Stadt gegangen, Andenken kaufen, Leckereien. Ich fühle mich allein, in Unterhose geschwommen, nackt geduscht. Nackt auf einer Liege Zeitung gelesen. Zwei aufgeschlagene Seiten der FAZ über mich haltend, geschützt vor Sonnenbrand und fremden Blicken. Gelesen, dass 70000 Ungarn vor der kommunistischen Regierung nach Österreich geflohen. Mir geht es gut, frei und mein eigener Herr. Habe Lust auf Bier.

An der Bar im Wörterbuch unter Redensarten gefunden: „I wont to have a beer.“ Der am Tresen lächelt nachsichtig, schenkt ein. Ägyptisches Bier schmeckt fad, obwohl sie schon 3000 Jahre Erfahrung im Bierbrauen haben. Las in einem mehrsprachigen Prospekt: Damals gebraut aus Wasser und zerriebenen Gerstenkörnern, klein geschnittene Datteln für den Gärprozess hinzugegeben. Soll aber schon am selben Abend nicht mehr genießbar gewesen sein. Kein Wunder, nach drei Gläsern bin ich kein bisschen beschwipst. Sehne mich nach einem Glas Düssel-Alt, frisch vom Fass gezapft.

Ausflug im Bus zur Pyramide von Sakkara. Der ersten Grabstätte eines Königs dieser Art in Ägypten. Pharao Djoser ihr Erbauer. Ihre Außenhaut nicht glatt wie die des Cheops, sondern abgestuft, treppenförmig. Nicht 146,5 m, sondern nur 62,5 m hoch. Nur wenige Mauern einer riesigen Anlage herum erhalten. Es sollen neben Andachtsräumen mit Altären auch Nebengräber gegeben haben. In denen die gesamte Dienerschaft bestattet, ihren König ins Jenseits zu begleiten. Stelle mir vor, ich würde als Gärtner eines Grafen nach dem Tod meines Herrn tief in der Erde lebendig vergraben. Keine Luft mehr kriegen und ersticken. Lieber nicht daran denken. Ein Glück, dass das bei uns verboten ist.

Nahe der Anlage einige Ägypter mit Pferden. Rassigen arabischen Vollblütern, wie ich las. Touristen können für 20 Ägyptische Pfund auf ihnen spazieren reiten. Für gut zwei Mark versuche ich auf einem der wibbeligen Vierbeiner sitzen zu bleiben. Der Mann ständig neben mir, die Zügel in der Hand. Klammere mich an den Hals des Pferdes und lasse mich transportieren. Gut, dass mich keiner meiner Kumpels in Düsseldorf sieht. Sie hätten noch einen Grund mehr, mich zu hänseln. Erleichtert, als die Viertelstunde vorüber und keiner mich fotografiert hat.

Am letzten Urlaubstag die Segeltour auf dem Nil. Überrascht, Abebi wiederzusehen. Der kein Geld gewechselt, auch keine Andenken verkauft. Mit denen viele ihren Lebensunterhalt verdienen. Sondern als Helfer in der Not. Nicht beim Roten Kreuz, sondern beim Ausflug an Bord einer Fellache auf dem Nil.

Der Steuermann ein Ägypter, bereits an seinem Platz. Das dreieckige Segel am kurzen Mast flattert im Wind. Zehn unserer Gruppe wollten das letzte Vergnügen auf dem Wasser erleben und genießen. Zwei meinten, sie würden seekrank. Blieben lieber am Schwimmbecken des Hotels unterm Sonnenschirm und tränken Champagner.

Nicht weiter nachgedacht, geglaubt, es ist wie in Düsseldorf. Man geht bequem und risikolos über eine klappbare Brücke auf die Fähre. Will man nach Oberkassel auf der anderen Rheinseite. Besteigt den Dampfer nach Königswinter oder Koblenz. Hier weit und breit kein Hafen zu sehen. Kein gemauerter Kai, keine Brücke, über die man aufs Boot geht. Schon gar kein Geländer, an dem man sich festhalten kann. Wird einem schwindelig, sieht man es unter sich unentwegt strömen. Je näher ich komme, nur Steine. Kleinere und größere, granitdunkle, flache Blöcke. Vor Urzeiten herausgeschleudert und liegen geblieben. Der äußerste Block bereits im strömenden Wasser des Nil. An ihm das schaukelnde Boot. Von zwei Männern festgehalten. Bis an die Knie im Wasser, den Djellaba hochgerafft. Nix Brücke mit Geländer.

Gezwungen, den Weg zum Boot von Stein zu Stein zu springen, wie Kinder auf Platten eines Bürgersteigs. Hier aber passt das Wort balancieren besser. Denn Erwachsene fürchten zu stürzen, Kinder nie. Einigen jedoch gelingt ein Sprung von Stein zu Stein. Andere beide Arme ausgebreitet wie Flügel, Balance zu halten. Fast allen scheint es Spaß zu machen, zurückversetzt in ihre Zeit als Kind. Ich aber fühle mich unsicher bei jedem Schritt, den ich gehe. Nähere mich dem ersten Steinblock. Fünf, sechs, sieben vor mir. In den Sandalen Sand vom langen Weg hierher. Wie geschmirgelt die Fußsohlen und zwischen den Zehen. Hoffentlich schaffe ich es, vom letzten Basaltblock heil ins schaukelnde Boot zu kommen. Und nicht auszurutschen. Zehn Meter lang das hölzerne Boot, mit Brettern quer. Auf die sich rasch alle setzen, denen das Steine-Springen gelungen. Keiner der neun zuletzt noch im schaukelnden Boot die Balance verloren. Und ins Wasser gefallen.

Abebi am Anfang des steinigen Weges. Zu helfen den wenigen, denen man ansah, sie fürchten zu stürzen. Führt sie an der Hand, hebt sie ins schwankende Boot. Begleitet sie, bis sie Platz genommen. Mich sofort wiedererkannt. „Hello Ferdi, hau du ju du?“ Was heißt das denn wieder? Schon hebt er mich hoch mit seinen kräftigen Armen, springt von Stein zu Stein wie ein Zirkus-Akrobat bis ans Boot. Setzt mich auf eines der Bretter, auf dem ein Opa mit seiner Frau schon Platz genommen. Beide in kurzen Hosen, weiten Hemden. Ihre Gesichter kaum erkennbar im Schatten großer, riesengroßer Sonnenhüte. Überdimensionale Sonnengläser vor den Augen.

Als hätte ich jetzt erst begriffen: bin schutzlos der Sonne ausgesetzt. Mir scheint, das Wasser ringsum reflektiert ihre Strahlen nur auf mich. Erhitzt die ohnehin warme Cordhose um ein Vielfaches. Zum ersten Mal hasse ich, auf was ich so stolz war. Glühend heiß Kopf, Körper, Arme und Beine. Als säße ich in einem Backofen. Das weiße Hemd verschwitzt, klebt am Körper. Schweiß rinnt und rinnt und hört nicht auf. Sitze auf trockenem Holz und fühle mich nasser als nass. Neben mir, um mich herum viel nacktes Fleisch, ölig glänzend, vor Sonnenbrand geschützt.

Warum hat mir das Reisebüro nichts gesagt? Warum ich im Hotel das Angebot am Empfang übersehen? Alle sich auf dem Boot zum wiederholten Mal eingekremt, und nichts dabei gedacht? Bin ich doch ein dummes Waisenkind, kein Baron. Einer, der noch nicht mal weiß, dass man in heißen Ländern anderes braucht als daheim. Helle und leichte Kleidung. Ägypter wissen, warum sie einen Djellaba tragen. Europäer sich mit Sonnenöl oder -creme vor Sonnenbrand schützen, eine Sonnenbrille auf der Nase.

Der Opa neben mir sieht mich bedauernd an: „Hatten Sie keine Zeit mehr, sich umzuziehen? Sie müssen bei dieser Hitze doch schrecklich schwitzen. Hätte ich es aus irgendeinem Grund vergessen, würde ich sofort in den Nil springen. Das Wasser soll traumhaft sein. Nicht zu kalt, nicht zu warm. Kommen Sie!“

Reißt sich Hemd und Hose vom Leib, küsst seine Frau und springt über Bord. Im Wasser kraulend, winkt er ihr zu und lacht. Es muss der Himmel sein. Also Hemd und Sandalen aus, Hose runter. Aber so leicht wie gewollt, klappt es nicht. Alles Stoffliche klebt aneinander, als wäre es aus einem Stück gewebt. Nackt, wie ich zur Welt gekommen sein soll, springe ich ins erlösende Nass. Den Aufschrei der Frauen an Bord noch zur Kenntnis genommen.

Genieße die angenehme Kühle des Wassers, das mich treibt. Ohne mich selber anzustrengen, Arme und Beine entspannt. Merke zu spät, dass sich das Boot immer weiter entfernt. Von der Strömung getrieben plötzlich Angst. Wende mich und versuche, gegen die Strömung zu schwimmen. Das Boot zu erreichen und wieder hinein. Kraulen nicht gelernt, strample mit Armen und Beinen. Es hilft nicht, treibt mich weiter stromab. Bin schon an der Stelle, wo wir abgesegelt. Da, ein Mann, erkenne Abebi, der mir zuwinkt. Als hätte er dem sich entfernenden Boot nachgeblickt, mich flussabwärts treiben gesehen.

Springt ins strömende Wasser. Ein paar kräftige Schwimmzüge und schon hält er mich am Arm. Schleppt mich ans Ufer, legt mich in den Schatten eines Felsens: „Weit hier minit“, zeigt die zehn Finger seiner Hände. „Kufika kurudi.“

Was hat er gesagt? Völlig fremde Worte, nicht nur englische. Kein Wörterbuch dabei, mit Portemonnaie und Reisepass in der Hose. Minit aber könnte Minute heißen. Tröste mich, bald wird er zurück sein. Ob er mir weiter hilft? Als Kind im Waisenhaus mussten wir zum Heiligen Antonius beten, wenn eines der Kinder sich verlaufen hatte. Der Heilige würde alles Verlorene wiederbringen. Aber total vergessen, ob Antonius ein Weißer oder ein Schwarzer war. Wie hieß noch mal das Gebet?

Lärmendes Motorgeräusch verdrängt fromme Gedanken. Als sich der aufgewirbelte Staub verzogen, erkenne ich ein Motorrad. Abebi steigt ab, kommt auf mich zu. In Hemd und Hose, statt Djellaba. Im Beiwagen ein verschnürter Karton. Auf dem Arm einen Djellaba: „For ju.“ Hilft mir beim Anziehen. Zwei Männer, die verschiedener nicht sein können. Habe trotzdem das gute Gefühl, wir gehören zusammen. Der große schwarze und der kleine weiße Mann. Bevor ich weiß, was jetzt, hat er mich schon in den Beiwagen des Motorrads gesetzt. Kenne ihn aus Zeitungsberichten mit Fotos von Rennen auf dem Hockenheim-Ring. Der Motor rattert, Abebi auf dem Sitz, redet auf mich ein. Doch ich höre vor lauter Lärm nur einzelne Worte. Sieht mich an, als ich ihn verständnislos anblicke:

„Ju hävent änderständ?“ Rätsele, was das wieder bedeutet. In seinem langen Satz vorher nur einmal Protest verstanden und am Ende Dschörmeny, was Deutschland heißt. Aber nichts, was für mich Sinn macht. Hätte Englisch sicher verstanden, wenn ich es übersetzen könnte. Aber die fremden Wörter nicht kapiert. Das Wörterbuch unterwegs, weit weg auf dem Segelboot. Ob die anderen an Bord mich vermissen, sich sorgen, wo ich abgeblieben bin?

Plötzlich die Idee, wie würde Abebi reagieren, wenn ich kauderwelsche? Sodass es sich anhört wie Wortfetzen aus Deutsch und behaltenem englischen sorry. Ihn dabei ansehe wie ein Fragezeichen? Umgeben von lauter Fragezeichen. Wieder das arme Waisenkind. Nie könnte er mir auf ein solches Kauderwelsch antworten. Fühle mich momentan allein gelassen. Nicht wohl, diesem Abebi ausgeliefert zu sein. Auch wenn ich ihm dankbar sein müsste. Hat er mich doch vor dem Ertrinken im Nil bewahrt. Könnte er doch wenigstens ein bisschen Deutsch verstehen. Damit ich ihm schnell noch das Wichtigste beibringe.

Noch ist er nicht abgefahren. Was aber ist jetzt das Wichtigste für mich? Ja das, an was ich unausgesetzt denke, seit ich das Boot in der Ferne verschwinden sah: Heute Abend muss ich mit den anderen in Kairo sein. Hemd, Hose und Sandalen wieder haben. Mein Portemonnaie und den Pass, das Wörterbuch. Vor allem, die Heimreise nicht verpassen.

Tippe auf seinen rechten Oberschenkel, der unter dem Stoff seiner stramm sitzenden Hose gespannt wie das Fell einer Trommel. Als er mich ansieht, sein dunkles Gesicht ein einziges Grinsen, versuche ich es:

Zeige auf mich und dann dahin, wo ich Kairo vermute: „Ich muss sein abends in Kairo.“ Da lacht er lauthals, als hätte ich einen Witz erzählt:

„Du musst sein in Kairo this evening.“ Ivening kann ich nur raten, aber Du musst sein in Kairo kommt mir irgendwie bekannt vor. Mir einfach nur nachgeplappert. Da packt mich der Zorn:

„Du fiese Möpp, tust so, als könnste nur Englisch und dann sagste auf Deutsch: Du musst sein abends in Kairo.“ Ihn die ganze Zeit geduzt, fällt mir ein, egal.

Abebi sieht mich an, ernst und gar nicht zu Scherzen aufgelegt, sodass ich den Ärger vergesse, auf seltsame Weise beruhigt bin. Er scheint begriffen zu haben, ich muss heute noch in Kairo sein. Das will ich wie jede Abmachung mit einem Handschlag bestätigen. Zeige auf meine Hand: „Meine Hand.“ Ergreife seine Rechte: „Deine Hand in meiner Hand und jetzt Du drücken meine.“

Keine Reaktion, versuche mit meiner kleinen weißen die große Pranke eines schwarzen Riesen zu umfassen: „Einverstanden Abebi, Du mich bringen nach Kairo?“

„Scheikhänd Ferdi“ – „versprochen. Ich Dich bringen nach Kairo.“ „Gut, dass Du verstanden, was ich gesagt. Jetzt aber muss ich alles ganz genau wissen: Bist Du ganz sicher, dass ich heute zum Abendessen im Arabian-Night-Hotel bin?“

Abebi macht ein Gesicht, als dächte er nach. Seine Mundwinkel zucken, sagt aber kein Wort. Ob er nur so getan, als spräche er Deutsch? Diesen einen Satz mir einfach nur nachgesprochen? Was, wenn er mich doch nicht oder falsch versteht? Zeige mit der Hand nach vorn, winke verzweifelt in die Richtung, wo ich Kairo vermute:

„Kennst Du die Straße nach Kairo genau? Kennst Dich aus in der Stadt? Nicht weit vom Bazar el Kallili unser Hotel. Meine Reisegruppe kommt heute Abend zurück. Ich darf sie nicht verpassen, sonst verliere ich meinen Job. Morgen geht es wieder heim nach Deutschland. Schlimm genug, dass ich das Huhn, im Erdofen gebacken, verpasst habe. Leider nicht weiß, wie es schmeckt, um es selbst zu braten. Also, raus mit der Sprache: Sind wir pünktlich am Hotel?“

Mich in Rage geredet und gebangt. Da sieht er mich an, ernst sein Gesicht: „Sorry my dear Ferdi, spreche und verstehe nicht viel Deutsch. Von Touristen nur ein paar Worte gelernt, a little more Englisch. Von Kind an gelernt, sprechen Swahili perfekt, Sprache meiner Heimat Tansania.“

Der Versuch, Deutsch mit Abebi zu reden, gescheitert. Scheint aber zu wissen, dass ich heute noch in Kairo sein muss. Bevor ich mich für die lange Fahrt bequem gesetzt, spüre ich seine Hand auf meinem Kopf. Sanft streichelt er mein zerzaustes, noch nasses Haar. Schließe die Augen und denke: noch nie streichelte mich einer, wie schön. Noch nie beruhigte mich eine warme Stimme wie seine. Alles, was jetzt wichtig ist, will ich verstehen:

„Du nicht haben Angst, ai will bi jetzt immer bei Dir. Begleiten Dich. Ai lav ju, meik, wot ju wont. Finde Hotel in Kairo. Unataka nach Dschörmeny. Because ai will lörn better Deutsche Sprache. Na matuanaini, Arbeit finden in Dschörmeny äs brickleer, Steine mauern.“

Abebi ein Maurer! Am liebsten wäre ich sofort aufgesprungen und ihn umarmt. Aber zu tief in diesen Beiwagen versunken, wie ein Zweijähriger Bub im Kinderwagen. Auch noch eingehüllt in meterlangen Stoff will es nicht gelingen. Nehme mir vor, bei Albert für meinen Freund ein Wort einzulegen. Ein kräftiger Mann im Team fehlt uns noch. Ganz sicher wird er auch mir helfen, wenn ich allein nicht weiter komme.

Die Metamorphose des Herrn Fuchs

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