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Kapitel 4: Maiah

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Jedes Mitglied der Gemeinschaft erfüllt eine Aufgabe. Sie soll helfen, den eigenen Tag zu strukturieren und die Gewissheit verdeutlichen, dass der Einzelne einen Beitrag für das Wohl aller leistet. Ich arbeite in der zum Anwesen zählenden Konditorei und verbringe nach dem Frühstück bis in den späten Nachmittag die Zeit damit, Kuchen und Torten zu backen, Rezepte auszuprobieren und den Eingang der bestellten Zutaten zu überprüfen. Vor meiner Aufnahme in der Gemeinschaft hatte ich kaum Zeit in der Küche verbracht, weder zum Kochen noch zum Backen. Mein früheres Leben ließ hierfür keinen Freiraum. Erstaunt darüber, dass ich offensichtlich ein Talent verfüge, von dem ich selbst nichts wusste, versuche ich mich immer wieder an neuen Kreationen mit Obst, Quark oder Schokolade.

In den zur Gemeinschaft gehörenden Manufakturen wird unter anderem auch Spielzeug hergestellt, Uhren und Schmuck repariert, Gemüse angebaut und zu verschiedenen Produkten wie Aufstrichen oder Babynahrung verarbeitet. Jeder findet seine Rolle, in der er schöpferisch tätig sein kann.

Die in der Konditorei gebackenen Kuchen werden an mehrere Cafés im Umkreis ausgeliefert und haben bisher zahlreiche positive Rückmeldungen eingebracht. Durch die Außenwirksamkeit der unterschiedlichen Erzeugnisse und Dienstleistungen genießt Constantins Einrichtung inzwischen in der Umgebung ein beträchtliches Ansehen. Wohl wissend um die Klientel, das seine Gemeinschaft aufnimmt, erachten es viele für besonders erstaunlich, welch hervorragende Arbeit hier geleistet wird.

Ich bin gerade damit fertig, meinen Arbeitsplatz zu säubern, als mir auf dem Flur Nicoletta begegnet. Sie strahlt bis über beide Ohren.

„Ist etwas passiert?", frage ich neugierig und Nicoletta nimmt meine Hände in die ihren.

„Ich bin einfach nur glücklich", gibt sie zu. „Durch meinen Aufenthalt und all die zahlreichen lieben Menschen, die ich hier kennen lernen durfte, hat sich in mir etwas verändert. Ich fühle mich stärker als je zuvor und das erste Mal dazu fähig, mein Leben selbst zu gestalten."

Ihre Euphorie entlockt auch mir ein Lächeln. „Das hast du verdient", versichere ich ihr, wenn ich auch noch nicht begreife, was sie zu solch einem Hoch beflügelt.

„Vorhin kam Constantin zu mir in die Kräutergärten. Er sagte, er sei stolz auf mich. Sein Geständnis hat mich sehr berührt."

Daher weht also der Wind, denke ich mir. Ich mustere die Ärmel meines grauen Longsleeves und kann dadurch verhindern, dass meine Gesichtszüge entgleisen. Niemand darf auch nur ahnen, welchen Hass ich gegen Constantin Saarfeld schüre. Was meine eigentliche Absicht ist. Wenn ich ihn töte, werde ich damit die Gemeinschaft zerstören und all jene ins Verderben stürzen, die sich hier ihrer Vergangenheit entledigen und ein neues Leben errichten wollen. So jemanden wie Nicoletta. Obwohl ich um das große Unheil weiß, dass ich anrichten werde, gibt es für mich kein Zurück. Keine Alternative.

„Glaub mir, ich bin auch stolz auf dich. Dein Mitgefühl für andere schenkt vielen Zuversicht", finde ich zu einer Antwort.

„Das ist sehr nett von dir", bedankt sich Nicoletta. „Wie schön, dass wir uns kennen lernen durften."

„Geht mir genauso", versichere ich ihr.

„Maiah", ruft jemand meinen Namen über den Flur. Wir wenden uns der Person entgegen. Es ist Gerard Fenrich; Constantins langjähriger Mitarbeiter. Er war selbst einst Mitglied der Gemeinschaft und nach den kursierenden Geschichten hat ihn Constantin als einen Obdachlosen auf der Straße aufgesammelt und ihm ein neues Zuhause - ein neues Leben - geboten. Gerard zeigt, so bin ich mir sicher, seinem Retter gegenüber blinde Loyalität. Wenn der Moment kommt, an dem ich Constantins Leben auslösche, werden wir - sollte Gerard ihn beschützen - zu erbitterten Feinden.

„Constantin bat mich, dich zu ihm zu rufen. Er wollte persönlich vorbeischauen, doch dauert ein Telefonat mit den Geschäftsführern der Firma länger als erwartet. Du kannst zu ihm ins helle Zimmer."

„Danke Gerard", bestätige ich und verabschiede mich von Nicoletta. „Wir sehen uns nachher beim Abendessen."

Ich möchte gehen, da spüre ich Nicolettas Hand auf meinem Arm. Ich wende mich ihr noch einmal zu und plötzlich wirkt ihr Blick wehmütig. Hinter der Hülle aus Heiterkeit und überschwänglicher Freude verbirgt sie etwas. Aus einem mir nicht greifbaren Grund wandert plötzlich an meinen Armen eine Gänsehaut hinab und Angst beginnt mein Herz zu umspannen, so als würde mich die üble Vorahnung, irgend etwas Fürchterliches werde geschehen, beschleichen.

„Ist alles…", setzte ich an.

„Pass auf dich auf", bittet sie mich. Es klingt wie ein Lebewohl. Bevor ich reagieren kann, verschwindet sie in Richtung der Kräutergärten.

Ein langer Moment vergeht, bis ich dazu fähig bin, Nicolettas letzte Worte beiseite zu schieben. Ich nehme mir vor, unser Gespräch nach dem Abendessen unter vier Augen fortzuführen.

Vorerst muss ich mich für mein Treffen mit Constantin wappnen. Über den Flur erreiche ich die Haupthalle des riesigen Anwesens, in dem die Gemeinschaft untergebracht ist. Ich folge der breiten Treppe hinauf ins zweite Obergeschoss und nehme den in den Westflügel abzweigenden Gang. Am Ende liegt - hinter einer breiten, bis fast unter die Decke reichenden, weißen Tür - das helle Zimmer; Constantins Raum, in dem er sich mit den Mitgliedern der Gemeinschaft ungestört über deren Vergangenheit unterhält. Constantin Saarfeld hat, bevor er zum Leiter des Familienimperiums wurde, einen Abschluss in klinischer Psychologie und Psychotherapie erreicht. Seiner ursprünglichen Profession scheint er also nicht völlig zu entsagen. Wohl wissend hierum hoffe ich inständig, dass er mich dennoch nicht durchschaut. Mit jedem Gespräch, zu dem er mich einlädt, erwacht in mir die Panik, Constantin wird mich des Lügens bezichtigen und von mir verlangen, die Wahrheit über meine Vergangenheit zu erfahren. Mich vor ihm zu verschließen, wird ihn genauso misstrauisch machen, wie eine erfundene Geschichte zu präsentieren. Also wähle ich einen Mittelweg und lasse ihn an der dunklen Seite meines Lebens - an all den Ereignissen und Personen, die mich zu ihm in das helle Zimmer führen - Teil haben. Ich brauche jedoch keinen von Constantins Ratschlägen, denn ich habe die Antwort, wie ich Frieden erhalten kann, in mir bereits gefunden. Constantin Saarfeld wird durch meine Hand sterben.

Behutsam klopfe ich an und höre durch das massive Holz der Tür hindurch, wie mich Constantin darum bittet, einzutreten. Mit einem behutsamen Ruck verschaffe ich mir Zugang und finde ihn an seinem Schreibtisch. Durch die Glasfront hinter Constantins Arbeitsplatz dringt das goldene Licht des Spätnachmittages in das quadratisch geschnittene Zimmer. Sowohl der abgeschliffene, edle Holzboden wie auch die Wände und die antik wirkenden Möbel sind allesamt in weiß gehalten. Etwa in der Mitte des Raumes steht ein aus Kristall, Marmor und Sandstein geschaffener Brunnen, der mich an eine einsame Insel im Ozean erinnert. Der leise, konstante Klang fließenden Wassers erfüllt das helle Zimmer, einen Ort der tiefen Reinheit und des inneren Friedens.

Constantin sieht zu mir auf, klappt seinen Terminkalender, in dem er gerade handschriftlich etwas vermerkt hat, zu und lächelt mich einladend an.

„Maiah", sagt er erfreut. „Komm, lass uns Platz nehmen." Er deutet auf die beiden Sessel, die gleich hinter dem Brunnen stehen und durch einen flachen Glastisch voneinander getrennt werden. Auf dem Tisch steht eine Karaffe mit Wasser und zwei Gläsern.

„Möchtest du etwas trinken? Wenn mich nicht alles täuscht, kommst du gerade aus der Konditorei zu mir und hast sicherlich Durst?"

Ich nicke, bedanke mich für sein Angebot und fülle mir eines der Gläser bis zur Hälfte mit Wasser. Nach einem kleinen Schluck versuche ich in dem Sessel eine möglichst entspannte Haltung einzunehmen. Constantin hat es sich mir gegenüber bequem gemacht. Er trägt einen weißen, dünnen Rollkragenpullover und eine ebenso helle Stoffhose. Seine Erscheinung wirkt wie immer elegant und einladend, sich im anzuvertrauen. Es reichen wenige seiner Gesten und Worte, um die Bereitschaft zu wecken, ihn an den eigenen Geheimnissen Teil haben zu lassen; fast als wären sie Ballast und er die Schulter, die einem diese Last abnehmen kann. Mit seinen Fragen und seinem Interesse ermutigt einen regelrecht dazu, ihn in all die dunklen Episoden des eigenen Lebens einzuweihen. Ich kann mich seiner Wirkung nur durch den lodernden Hass in meinem Herzen entziehen. Wieder kreist eine Überlegung durch meine Gedanken: Ahnt er, was ich plane? Sieht er die Finsternis in mir?

„Es ist schön, dass wir beide endlich wieder Gelegenheit finden, uns deiner Geschichte zu widmen", beginnt Constantin meine Psychoanalyse. Mit einem gespielt schüchternen Nicken signalisiere ich ihm meine Aufmerksamkeit.

„Bei der letzten Unterhaltung, die wir hier führten, erwähntest du zum ersten Mal deine Eltern. Vielleicht sollten wir hier anknüpfen?"

„Es gibt nicht viel über sie zu sagen", gebe ich beinahe entschuldigend zu. „Ich habe sie nie kennen gelernt. Meine Mutter starb, als ich ein Säugling war und mein Vater ist - sollte er noch am Leben sein - ein Unbekannter. Ich kenne nur seinen Namen."

„Verstehe", pflichtet Constantin meinem Gemisch aus Wahrheit und Lüge bei. Ich habe jede Einzelheit davon verinnerlicht. Immer und immer wieder. Fast glaube ich die Geschichte schon selbst. Ich spüre, wie das dünne Eis unter meinen Füßen zu knirschen beginnt, während Constantin mich eingehend mustert.

„Bei wem bist du aufgewachsen, Maiah? Hattest du Bezugspersonen in deinem Leben? Jemanden, der die Rolle deiner Eltern eingenommen hat?"

„Meine Erziehung verdanke ich den grausamen und gefühlskalten Nonnen eines christlichen Waisenhauses. Wenn ich auch keine Bezugspersonen hatte, so waren die strengen Regeln des Glaubens und die Mittel der Züchtigung bei Verstoß gegen diese der prägende Rahmen meiner Kindheit." Ich weiche Constantins scheinbar mitfühlenden Augen aus und mache ihm dadurch deutlich, dass ich nicht gerne über meine Kindheit sprechen möchte. Ich hoffe innständig, dass er meine Worte nicht hinterfragt. Unsere Blicken treffen sich zufällig und er wirkt plötzlich in Gedanken. Kannte er jemanden mit einem ähnlichen Schicksal? Oder haben meine Äußerungen bei ihm eine verdrängte Erinnerung heraufbeschworen?

„Als du hier ankamst", wechselt er das Thema „warst du auf der Flucht vor deinem gewalttätigen Freund. Die Narbe in deinem Gesicht muss dich jeden Tag an ihn erinnern."

Ruckartig tasten meine Finger nach der Narbe. Sie scheint kurz aufzubrennen und meine Wangen rot zu färben.

„Ich glaube, dass zwischen deinen Erlebnissen im Waisenhaus und in der Beziehung zu diesem brutalen Mann eine Verbindung besteht. Und sie ist es, die dich quält und es dir nicht ermöglicht, dein Leben nach deinen Wünschen zu gestalten."

„Ich sehe darin keinen Zusammenhang", wende ich ein. Constantin beugt sich leicht zu mir nach vorne. „Es gibt einen Weg, durch den du dich deinen Schatten stellen und sie verbannen kannst. Ich habe dadurch bisher jedem helfen können, der sich darauf eingelassen hat."

Ich schaue Constantin unsicher an. Was hat er mit mir vor? Mein Herzschlag beschleunigt sich und ich spüre, wie mich jeder Muskel meines Körpers dazu drängt, aus dem hellen Zimmer zu fliehen.

„Ich spreche von Hypnose."

Nein, auf keinen Fall. Dadurch wird er mich durchschauen. Und ich wäre ihm ausgeliefert.

„Es tut mir leid, aber ich habe mich schon einmal durch einen anderen derart lenken lassen. Ich…"

„Maiah", unterbricht mich Constantin eindringlich. „Hierbei geht es um Vertrauen. Ich weiß, dass es dir sehr schwer fällt, dich auf andere einzulassen und sie an deiner Geschichte teilhaben zu lassen. Bei deinen Erfahrungen ist das absolut verständlich. Meine Bitte, mir zu vertrauen, wird nur Worte bleiben, wenn ich dir keinen Beweis dafür gebe, dass ich keine finsteren Absichten hege. Im Gegenteil. Ich meine es gut mit dir. Vielleicht wirst du deine Mauern fallen lassen können, wenn…" Er greift hinter sich und zieht etwas hervor.

„Was ist das?", frage ich irritiert, als er mir den Gegenstand - eine kleine, rechteckige Karte - überreicht.

„Mit dieser Schlüsselkarte erhältst du Zugang zu jedem Bereich der Gemeinschaft. Nur wenigen gebe ich sie. Aber bei dir, so bin ich mir sicher, ist sie in den richtigen Händen. Ich sehe, welche Rolle du hier übernimmst und wie wichtig du trotz deines Misstrauens gegenüber Fremden für die anderen Mitglieder bist. Denn sie alle vertrauen dir. Und ich tue es auch."

„Das ist…", fehlen mir die Worte. Entweder stellt er mich auf die Probe oder Constantin spricht tatsächlich die Wahrheit. Eine Woge der Euphorie durchfährt mich, denn ich bin mir um die Macht bewusst, die mir diese Schlüsselkarte verleiht. Doch wenn ich sie annehme, wird er mich zur Hypnose drängen. Was also soll ich tun?

„Ich kann das nicht", sage ich und lege die Schlüsselkarte auf den Glastisch. „Ich vertraue mir nicht einmal selbst."

Constantins Blick fixiert mich und ich warte nervös auf seine Antwort.

„Habe ich dir schon einmal von der Geschichte dieses Hauses erzählt?", fragt er mich plötzlich und in meinem Gesicht zeichnet sich deutlich die Irritation hierüber ab.

„Bevor ich das Grundstück mit dem Herrenhaus erworben habe, war es einige Jahre im Eigentum der Familie Belfort. Luis Belfort gehörten zahlreiche Fabriken, in denen Möbel produziert und international verkauft wurden. Da er ein raffinierter Kaufmann war, hatte er sich mit dem wenigen Geld seines verstorbenen Vaters ein beträchtliches Vermögen erwirtschaft. Seiner Frau, eine Französin namens Fleur, und ihren gemeinsamen vier Kindern fehlte es an nichts. Die Belforts lebten in diesem traumhaften Herrenhaus und führten ein behütetes, sorgenfreies Leben - zumindest glaubte das jeder, der sie kennen lernen durfte. Was hinter den geschlossenen Toren des Hauses vorging, bleibt vermutlich bis in alle Ewigkeit ein blutiges Geheimnis. Denn in einer einzigen, schicksalhaften Nacht verloren sie alle ihr Leben. Es gab kein Zeichen für einen gewaltsamen Einbruch, der auf das Erscheinen eines Mörders hätte hinweisen können. Aber irgend etwas Schreckliches hatte sich ereignet. Zahlreiche Spekulationen, was der Familie widerfahren sein musste, machten die Runde und aus den aufkeimenden Gerüchten rührte der Verdacht, dass Luis Belfort zuerst seine Angehörigen und dann sich in einem Anflug des Wahnsinns getötet hatte.

Doch es erhoben sich auch noch andere Stimmen - weitaus ältere - die davon berichteten, dass dieses Grundstück verflucht sei. Schon bevor die Belforts das Herrenhaus bewohnten, sei dieses Land verdorben gewesen. Verdorben. So hatten sie es genannt und mir mehrmals eindringlich davon abgeraten, es zu erwerben. Angeblich werde es von teuflischen Kräften heimgesucht, die nach Blut dürsten. Und so waren immer wieder Personen verschwunden oder getötet worden, die hier lebten oder mit dem Anwesen in Berührung kamen. Zu diesen Anschuldigungen gab es keine Beweise; sie wollten mir anfangs nicht einmal die Namen derjenigen nennen, die hier auf unerklärliche Weise ihr Leben verloren haben sollen.

Ich habe mir meine Vision - den tiefen Wunsch, eine Zuflucht für die Orientierungslosen zu schaffen und ihnen eine neue Perspektive zu ermöglichen - nicht zerstören lassen und genau hier die Gemeinschaft errichtet. Egal, was in der Vergangenheit auch geschehen sein mag, für mich zählt das Heute. Wir können das Erlebte nicht ungeschehen machen oder die Geschichte neu schreiben, die wir bereits durchlebt haben. Aber wir sind dazu fähig, uns von den Bürden und all dem Schlimmen, das uns auf so schreckliche Weise zugesetzt hat, zu befreien und unseren Weg selbst zu wählen. Daran glaube ich. Und das solltest du auch, Maiah."

Ich habe meinen Weg bereits gewählt, denke ich mir, während ich Constantins Rat auf mich wirken lasse.

„Ich werde dich zu nichts drängen, aber nimm die Schlüsselkarte als ein Zeichen meiner Wertschätzung dir gegenüber."

Meine Augen betrachten das kleine rechteckige Stück Plastik und wieder verdeutlichen sich mir die Möglichkeiten, welche die Karte gewährt. Ich kann nicht anders und nehme sie an mich.

„Danke", erwidere ich.

Constantin sieht mich zufrieden an. „Wir befinden uns in der richtigen Richtung. Du wirst dein Ziel erreichen, davon bin ich überzeugt."

In der Tat. Mein Instinkt sagt mir, dass ich ihm gerade einen großen Schritt nähergekommen bin.

Nicoletta fehlt. Beim Abendessen ist ihr Platz mir gegenüber leer. Das beängstigende Gefühl, welches mich am Nachmittag während meiner Begegnung mit ihr beschlichen hat, manifestiert sich erneut in mir. Ich kämpfe gegen den Impuls an aufzuspringen, zu ihrem Zimmer zu rennen und nachzuschauen, warum Nicoletta nicht bei uns ist.

„Nico lässt sich entschuldigen. Sie fühlt sich nicht wohl und möchte lieber früh zu Bett gehen", schildert mir Jonah, der zu meiner linken sitzt und scheinbar den Grund meiner Unruhe erkannt hat.

„Es sieht ihr gar nicht ähnlich", gebe ich zu und versuche, eine Gabel voll Nudeln zu mir zu nehmen.

„Mach dir keine Sorgen, Maiah. Sie war vorhin, als wir den Tisch gedeckt haben, kurz hier."

Ich mustere Jonah; mit seinen achtzehn Jahren das jüngste Mitglied der Gemeinschaft. Er lebt seit sieben Monaten hier, nachdem er über zwei Jahre auf der Straße verbracht hatte. Seine Zeit in der Bahnhofs- und Obdachlosenszene war geprägt durch Erfahrungen mit Cannabis, Kokain und Crystal Meths und Jonah gibt zu, jedes Mittel war ihm recht, um den Zugang zu seinen Gefühlen zu verlieren. Den Gefühlen nichts wert und ungeliebt zu sein. Er, der Sohn eines erfolgeichen plastischen Chirurgen und einer renommierten Anwältin. Er, dessen Leben eine einzige Rebellion gegen das enge Korsett aus Regeln und vorherbestimmten Perspektiven war, in das seine Eltern ihn zu zwängen versuchten.

Constantin gab ihm nach einem harten Entzug, den Jonah in einer Klinik hier in der Nähe absolvierte, ein Versprechen. Schon bald werde er erkennen, welche Möglichkeiten ihm offenstehen und wie viel er für andere bedeuten könne. Und tatsächlich scheint der Junge, der hier sein Zimmer bezog - eine blasse, beinahe leblose Erscheinung - inzwischen einem optimistischem und nach Tatendrang strotzendem, jungen Mann gewichen zu sein. Jonah strebt seine Mittlere Reife an und arbeitet nach Schulende bis in den Abend in der Spielzeugmanufaktur.

Er ist einer derjenigen, der durch Constantins Tod zerbrechen wird. Ich zerstöre seine Zukunft. Bei diesen Gedanken möchte ich aufschreien und die Mitglieder der Gemeinschaft um Vergebung bitten. Würden sie mich verstehen, wenn sie meine Geschichte kennen? Wenn sie von dem Schmerz wüssten, den ich Constantin verdanke? Von all dem, was er mir genommen hat?

Meine Angst, Nicoletta ist etwas zugestoßen, versuche ich zu unterdrücken und halte das restliche Abendessen voller Ungeduld durch. Eiliger als sonst helfe ich, das Geschirr aufzuräumen und die Tische abzuwischen. An den Blicken der anderen erkenne ich, dass sie sich fragen, was mit mir los ist. Allerdings würde mich nur jemand darauf ansprechen, wenn mein gesamtes Selbst förmlich nach Hilfe verlangt.

Jeder von uns erlebt Tage, an denen er traurig ist, verschlossen, seltsam oder gar völlig entrückt wirkt. Die Vergangenheit holt einen in diesen Momenten ein und behauptet, es werde sich - ganz egal, wie sehr die eigene Anstrengung auch sein mag - niemals etwas ändern. Es tut gut, sich nicht erklären zu müssen, aber die Hilfe in der Gemeinschaft zu finden, falls sie erforderlich wird. Diese Augenblicke werden zusehends selten, je länger der eigene Aufenthalt hier dauert und irgendwann verschwinden sie gänzlich. Das Ziel der Gemeinschaft - Constantins Absicht - scheint sich also immer wieder zu erfüllen.

Während ich darüber nachdenke, wird mir bewusst, wie tief ich mich inzwischen selbst hier verwurzelt fühle. Wenn es Teil von Constantins offerierter seelischer Rekonvaleszenz ist, den Mitgliedern irgendwann ihre bisherige Identität zu nehmen und eine neue zu schenken, so hält mich nur mein Hass ihm gegenüber davon ab, zu vergessen, wer und warum ich hier bin.

Mein Name ist Maiah Winter.

Möglicherweise gebe ich mich einem Hirngespinst hin und Nicoletta schläft - so wie Jonah schon sagte - bereits. Und doch eile ich regelrecht hinauf zu ihrem Zimmer, in der Hoffnung, sie in ihrem Bett zu finden.

Mit zitternder Hand klopfe ich an ihre Zimmertür an und lausche angespannt, ob sie mich hereinbittet. Ich habe alle Mühe damit, unter dem Dröhnen meines Herzschlages in den Ohren etwas Anderes zu hören und so drücke ich die Türklinke reflexartig nach unten. Zu meiner Überraschung ist die Tür nicht abgeschlossen und schwingt in einem langsamen, unheimlichen Knirschen zur Seite.

„Nicoletta?", frage ich in die Dunkelheit des Zimmers hinein. Ich erhalte keine Antwort.

Meine Finger tasten nach dem Lichtschalter zu meiner Linken und als wenige Sekunden später der gelbliche Schein der Deckenbeleuchtung den Raum erhellt, scheint mir das Blut in Adern zu gefrieren.

Das Zimmer ist völlig verlassen, so als hätte nie jemand hier gewohnt. Nicolettas wenige persönliche Sachen sind verschwunden und nur die sterile Einrichtung bleibt zurück.

Ich hatte Recht, schießt es mir durch den Kopf. Meine Intuition hat mich nicht getäuscht. Und doch wünsche ich mir, es wäre nicht so.

Mir wird schwindelig und bevor ich das Gleichgewicht verliere, kann ich mich an der Lehne eines Stuhls abstützen.

Was ist nur mit Nicoletta geschehen?

Ich atme mehrmals tief ein und aus und versuche, durch den kontinuierlichen Luftstrom in meine Lungen zur Ruhe zurück zu finden. Doch die Panik will einfach nicht aus meinem Körper weichen, so als sei sie Terpentin, das an jeder einzelnen Faser klebt.

Ich muss die anderen alarmieren, zwingt mich ein Gedanke zum Handeln. Als ich das Zimmer wieder verlassen möchte, entdecke ich einen weißen Umschlag auf dem Schreibtisch vor mir. Meine Hände zittern immer noch und mit Mühe ziehe ich das Blatt Papier hervor. Binnen weniger Sekunden wird mir bewusst, was ich hier in den Händen halte.

Ein von Nicoletta verfasster Brief. Und noch bevor ich die von ihr niedergeschriebenen Zeilen lese, weiß ich, dass sie nicht die wahre Erklärung für ihr Verschwinden darstellen werden und etwas Anderes hierfür ursächlich ist.

Etwas Düsteres.

Die lebenden Schatten

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