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Kapitel 3: Gregor

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Ich zählte bis zwanzig und öffnete meine Augen. Penelope war fort und es war meine Aufgaben, sie zu finden.

Unser Spiel hatte begonnen.

Eine Gänsehaut schlich sich an meinen Armen hinab und ließ die feinen Härchen an ihnen zu Berge stehen. Unter meiner Haut begann es zu kribbeln, so als befänden sich tausende von Ameisen auf Wanderschaft.

Werde ich die Hinweise erkennen, die Penelope mir hinterlassen hat? Werde ich sie deuten können, damit sie mich zu ihr führen?

Aufgeregt sah ich mich um. Ich stand in dem langen Flur im Erdgeschoss und schaute hinüber zu dem Empfangsbereich, in dem unsere Schuhe auf einem breiten Regal aneinandergereiht waren. Tatsächlich waren sie noch nicht in Umzugskartons verpackt. Dabei würden wir morgen bereits zu unserem neuen Zuhause aufbrechen. Ich schob meine wehmütigen Gedanken über unseren Abschied beiseite und wollte ich mich fürs erste nur auf die Suche nach Penelope konzentrieren.

Hatte sich meine Schwester im Haus versteckt oder war sie hinausgerannt? Ich überlegte, ob ich das Geräusch einer sich öffnenden und wieder schließenden Tür vernommen hatte, doch wollte mir meine Erinnerung - war sie auch erst wenige Sekunden alt - nicht weiterhelfen. Ich musterte die Schuhe und auf einmal fiel mir auf, dass Penelopes gelbe Gummistiefel fehlten. Sie hatte das Haus also verlassen. Ich schlüpfte in meine Windjacke, zog mir selbst mein Paar Gummistiefel an und ging ins Freie. Doch wie sollte ich sie nun finden? Wo befand sich der nächste Hinweis, der mir dabei helfen würde?

Ich war erst am Anfang meiner Suche.

Mit geschlossenen Augen inhaliere ich regelrecht den Duft, der mich in seinen Bann zieht und mir das Versprechen gibt, Penelope sei hier gewesen. Unfähig, mich auch nur einen Schritt zu bewegen, knabbere ich an der Frage, was meine Schwester zurück in das Haus unserer Eltern geführt haben könnte. Steckst du in Schwierigkeiten, Nelo? Warum hast du uns verlassen? Was ist mit dir passiert?

Ich öffne die Augen und bemerke, dass sie voller Tränen sind, die in zwei Rinnsalen an meinen Wangen hinabfließen. Der Moment ist so unwirklich und doch so intensiv, dass ich jede Selbstbeherrschung verloren habe und bitterlich weine. Mit den Ärmeln meiner Jacke streife ich mir mehrmals über mein Gesicht und versuche damit, die Fassung wieder zu gewinnen.

Wer wird mir schon glauben, wenn ich von meiner Beobachtung im Garten erzähle und wie ich das Parfüm meiner Schwester erkannt habe? Egal, wem ich davon berichte, wird vermuten, dass ich halluziniere. Und doch pocht mein Verstand darauf, dass ich der Wahrheit auf der Spur bin.

Das Knirschen der Tür im Flur schreckt mich auf. Obwohl es leise war, reicht es aus, um mir zu verraten, dass sich jemand da draußen befindet. Ich halte den Atem an und höre, wie hastige Schritte die Treppe hinabjagen.

Sofort eile ich aus dem Zimmer und sehe, wie die Tür, zuvor durch einen kräftigen Ruck geöffnet, langsam zurückschwingt. Im selben Moment wird mir bewusst, dass sich jemand im Badezimmer versteckt haben muss, denn auch dessen Tür steht nun offen und mein Blick fängt sich in den weißen Fliesen, die das Licht aus dem Flur in milchigem Schimmer reflektieren.

Von dem Instinkt gelenkt, den Eindringling zu fassen, schieße ich regelrecht die Treppe hinab und habe alle Mühe, nicht über meine eigenen Füße zu stürzen und damit das Gleichgewicht zu verlieren.

Im Erdgeschoss angelangt, sehe ich mich irritiert um. Irgendjemand muss die Person identifizieren können, die hier gerade herab gerannt kam - so bin ich zumindest der festen Überzeugung. Doch haben sich alle Gäste im Wohnzimmer versammelt und lauschen den Worten meines Vaters. Niemand hat also bemerkt, wer der Eindringling ist, der sich oben im Zimmer meiner Schwester umgesehen hat. Der Fremde ist verschwunden; er hat das Haus verlassen und ist in den Schutz der Nacht eingetaucht. Ich werde ihn - oder sie - unmöglich verfolgen können.

„…jede Familie hat ihre Bürde und jede davon ist so unterschiedlich wie besonders. Unsere ist es, Penelopes Geschichte anzunehmen und mit ihr zu leben", höre ich Vater sprechen.

Ich verschränke die Hände hinter dem Kopf und versuche mich, die Fingerspitzen tief in meinen Haaren vergraben, selbst zu beruhigen. Mein Blick wandert die Treppe zurück nach oben und ich sehe, wie Licht durch den schmalen Türspalt durchsickert. Mit schweren Schritten kehre ich zurück ins Obergeschoss und wende mich dem Badezimmer - dem Versteck des Eindringlings - zu.

Ich schalte auch hier die Deckenbeleuchtung ein und mustere die wenigen Quadratmeter. War sich die Person dem Risiko bewusst, das sie mit der Wahl ihres Verstecks eingegangen ist? Ich habe zuerst in Penelopes Zimmer nach Spuren des Fremden gesucht, doch genauso hätte ich jeden anderen Raum danach überprüfen können, ob sich der Eindringling irgendwo verborgen hält. Ich ärgere mich über meine Dummheit, dem Impuls, gleich dem Zimmer meiner Schwester die volle Aufmerksamkeit zu schenken, nachgegeben zu haben.

Das Badezimmer liefert mir keine Anhaltspunkte, wer der Fremde ist oder was er gesucht haben könnte. Schon möchte ich umkehren, da sehe ich, wie kleine Wassertropfen den Rand des Waschbeckens säumen. Ich fahre mit den Fingern über das Keramik und mir wird schlagartig bewusst, dass sich der Eindringling hier - wenn auch nur kurz und eilig - gewaschen haben muss. Das Handtuch neben den Armaturen ist feucht und unterhalb des Seifenspenders hat sich eine kleine schmierige Pfütze aus Seifenresten gebildet.

„Was hast du hier oben gewollt?", frage ich mich leise. Und ein anderer Gedanke schließt sich an:

Hast du es gefunden oder wirst du erneut herkommen?

Aus dem Erdgeschoss dringt der Beifall der Gäste nach oben. Offensichtlich hat mein Vater seine Rede über die unermüdliche Zuversicht und Stärke der Familie Ahrendt beendet. Zumindest ist mir dieser miserable, erzwungen emotionale Moment erspart geblieben. Die Gäste verstreuen sich erneut und möglichst unauffällig bahne ich mir meinen Weg zurück in die Küche, wo ich den Schlüsselbund in der Schublade verstaue, aus der meine Mutter ihn zuvor herausgezogen hatte.

„Theodors Worte waren sehr berührend", gibt sich Sebastian hinter mir zu erkennen. Er hat sich ein Glas Sekt geholt und nippt daran.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe ihn missbilligend an.

„Ohne Begleitung hier?", ist das Einzige, was ich mit halbwegs beherrschter Stimme herausbringe.

Sebastians Stirn legt sich in Falten und sein Mund formt ein angespanntes Lächeln.

Das steht also immer noch zwischen uns. Eigentlich sollte es mich nicht überraschen", erwidert er.

„Und das wird auch so bleiben", versichere ich ihm. „Du bist Gast meiner Eltern, es steht mir also nicht zu, dich hinauszuschmeißen. Aber wenn es nach mir gehen würde, hättest du jetzt eine blutige Nase und müsstest deine Überreste vom Kies in der Einfahrt kratzen."

„Seit ich dich kenne, Gregor", scheint Sebastian meine deutliche Drohung zu ignorieren „begleitet mich ein Gedanke. Zuerst hielt ich ihn für eine Einbildung, aber inzwischen bin ich mir ziemlich sicher, mich nicht zu täuschen." Er stellt sein Sektglas ab, schiebt seine Hände in die Hosentaschen und macht zwei entspannte Schritte auf mich zu. Die Welle an Provokation baut sich meterhoch über mir auf und es bedarf nur noch weniger Worte, um sie zum Brechen zu bringen.

„Du kommst nicht damit klar, dass Männer wie ich es Penelope besorgen durften." Sebastian grinst mich hämisch an. Er glaubt, mich Schach mattgesetzt und unser verbales Gefecht für sich entschieden zu haben. Und tatsächlich, das hat er - denn nun stürze ich mich auf ihn. Meine Faust zielt mitten auf sein Gesicht, doch gelingt es ihm, meinen Schlag abzufangen und mich zur Seite zu stoßen. Ungeschickt gehe ich zu Boden.

„Grundgütiger", mischt sich meine Mutter plötzlich ein. Eilig schließt sie die Tür zur Küche; darauf bedacht, dass niemand die begonnene Prügelei bemerkt.

„Sebastian, ist alles in Ordnung?", ist das Erste was Marietta wissen möchte, während ich Halt auf meinen Beinen suche.

„Es tut mir leid", beteuert Sebastian, sein Saubermann-Image pflegend. „Gregor, lass uns die Sache wie vernünftige Männer…"

„Fahr zur Hölle", unterbreche ich Sebastians verlogenes Angebot.

„Es hat keinen Sinn", gesteht Sebastian sich tief durchatmend ein. „Vielleicht ist es besser, wenn ich jetzt…"

„Auf keinen Fall", stellt sich Marietta wie ein Schutzschild vor ihn. „Gregor, du hast für heute Abend genug Chaos angerichtet."

Fassungslos schaue ich meine Mutter an. Sie hält mich für den Schuldigen. Jenen, der die Konsequenzen für die Eskalation zwischen Sebastian und mir zu tragen hat.

„Verstehe", antworte ich kurz und lasse durch meinen Blick erkennen, wie maßlos enttäuscht ich bin. Marietta sieht mich nicht an, als ich in den Flur trete und in dem Gewirr aus Personen, Stimmen und geheuchelten Empfindungen das Haus verlasse.

Der pulsierende Schmerz in meinem linken Bein, welchen ich meinem misslungenen Angriff auf Sebastian verdanke, begleitet mich über die gekieste Einfahrt zur Straße. An einer Mauer lehne ich mich an und massiere die Stelle, aus der ein heftiges Brennen durch meinen Körper strömt.

Die Erinnerungsfeier für Penelope war sogar noch fürchterlicher als ich vermutet hatte, fasst ein Gedanke in mir die Ereignisse des Abends zusammen. Ich schaue zurück auf das Obergeschoss und Dach meines Elternhauses.

Wer war dort oben? Warst du es, Penelope? Woher wusstest du von der Feier? Wieso gerade heute? Dachtest du, die Vielzahl an Gästen bietet dir die ideale Gelegenheit, dich unerkannt ins Haus zu schleichen? Du bist schließlich begnadet darin, unbemerkt zu bleiben. Wie bei unserem Spiel. Wenn du nicht gefunden werden möchtest, findet dich niemand.

Eine mahnende Stimme durchdringt meine Überlegungen. Ich laufe große Gefahr, meinen Wunsch, Penelope wieder bei mir zu wissen, in die unheimlichen Rätsel dieses Abends zu projizieren. Es kann etliche andere Erklärungen geben und eine davon ist, dass ich mir alles - den Eindringling, Penelopes Parfüm, ja selbst die hastige Flucht des Fremden - nur einbilde und langsam verrückt werde. Selbst die Spuren im Badezimmer können von Mutter oder Vater stammen. Vielleicht hat Marietta, kurz bevor die Gäste kamen, oben nach dem Rechten gesehen und sich die Hände gewaschen?

Wie oft ziehst du dich dorthin zurück, Mutter? Erliegst du, während Vater seine Vorträge als Dozent hält, der Einsamkeit des großen Hauses und sucht in den einstigen Zimmern deiner Kinder Trost? Falls ja, würdest du es zugeben?

„Dir reicht es wohl auch", spricht mich jemand von der Seite an und ich entdecke Sophie. Über ihrem dunklen Kleid trägt sie eine dünne, cremefarbene Jacke, die dem Ton ihrer rosigen Haut und ihren schulterlangen, dunkelblonden Haaren sehr schmeichelt.

„Oh ja", gebe ich zu, ohne Sophie nähere Details für meinen Aufbruch zu geben.

„Ich habe die Rede deiner Eltern durchgehalten. Emma wollte dich suchen, aber ich glaube, sie ist bereits gegangen."

„Wir haben uns wohl verpasst", weiche ich aus, um nicht erklären zu müssen, dass ich auf der Jagd nach einem Schatten war. „Und da ich gerade in eine Prügelei mit Nelos Exfreund geraten bin, hat es meine Mutter für die beste Entscheidung gehalten, mich nach Hause zu schicken."

„Lass mich raten: Sebastian hat dich provoziert? Er ist so unglaublich arrogant und von sich überzeugt. Keiner aus unserer WG hat verstanden, was Nelo in ihm gesehen oder vielmehr wie sie es mit ihm ausgehalten hat. Wenn er etwas kann, dann den Ton angeben, an der richtige Stelle eine Schleimspur hinterlassen und sich gleichermaßen unbeliebt machen. Und insgeheim hat Nelo das gespürt, schließlich wollte sie auch nicht mit ihm zusammenziehen. Obwohl er ihr immer wieder das Angebot machte und sie dazu drängte. Einmal hatte…"

Sophie hält plötzlich inne. Für einen Moment schien sie etwas Wichtiges ergänzen zu wollen.

„Du kannst es mir erzählen", versichere ich ihr und spüre, wie eine angespannte Nervosität in meinen Körper zurückkehrt.

Sophie versucht ein beschwichtigendes Lächeln. „Es ist nichts", behauptet sie. „Um ehrlich zu sein, bin ich gerade voller trüber Gedanken." Sie sieht mich herausfordernd an. „Ich wette, dir geht es ähnlich. Weißt du, was dagegen hilft? Alkohol und Tanzen!"

Ich wirke sichtlich verwundert über ihre Idee. Das Letzte, was mir gerade in den Sinn kommt, ist zu feiern. Und doch scheint es plötzlich wie die einzige Lösung, um dem Sog dieses Abends aus unerklärlichen Geschehnissen und schmerzhaften Erinnerungen zu entkommen.

Sophie und ich teilen uns die Kosten eines Taxis und landen mitten in der Innenstadt. Das Brennen in meinem Bein hat nachgelassen, so als wolle mir mein Körper bestätigen, dass ich der richtigen Entscheidung gefolgt bin. Wir steuern eine Studentenkneipe an, die ab Mitternacht Shots für fünfzig Cent anbietet. Immer wieder bestellen wir uns eine neue Runde Tequila, Schnaps oder Likör und mit jedem Glas verstummen die quälenden Gedanken an Penelopes Verschwinden, an die unheilvollen Befürchtungen und Rätsel mehr und mehr. Es fühlt sich an, als wäre ich betäubt. Ich weiß, dass der Schmerz noch da ist, aber ich kann ihn vorübergehend nicht mehr spüren. Und fürs Erste setze ich alles daran, dass dies zumindest für die weiteren Stunden der Nacht so bleibt.

Sophie und ich beginnen uns zu amüsieren. Sie erzählt mir zahlreich Geschichten aus ihrem Studenten- und WG-Leben. Von Kommilitonen, deren Name ich noch nie gehört habe, aber die von Penelope allesamt begeistert waren. Von Partys mit verrücktem Motto. Von dem kleinen Ort, aus dem sie stammt und wie sie durch ihre Entscheidung zu studieren die Tradition ihrer Familie - allesamt Winzer - durchbrochen hatte. Ich höre zu, frage nach und widme mein gesamtes Interesse Sophies Erzählungen.

Als sich die Kneipe zusehends leert und die Frage Raum einnimmt, nach Hause zu gehen, entscheiden wir uns sofort dagegen und folgen einer Gasse zu einem im Kellergewölbe liegenden Club. Er ist trotz der späten Uhrzeit noch immer bis zum Anschlag mit Tanzenden gefüllt und im Licht wandernder Scheinwerfer und einer langsam rotierenden Discokugel fügen Sophie und ich uns in die Masse aus feiernden und schwitzenden Leibern ein. Aus unsichtbaren Boxen hämmert der wilde Beat zahlreicher Songs unserer Jugend durch den Raum. Beginnt ein neues Lied, so durchfährt immer wieder ein Aufschrei die Menge. Die Euphorie über die Musik ist mitreißend und ich kann mich nicht länger dagegen wehren, es Sophie gleich zu tun und ebenfalls lauthals mitzusingen. Zwischen uns ist nur wenig Raum und während wir uns zur Musik hin- und herbewegen, fangen sich immer wieder unsere Blicke und Sophie lächelt mich selbstbewusst an.

Ein Typ hinter mir stößt mir durch sein wildes Tanzen in den Rücken und mit Mühe kann ich eine Bruchlandung auf Sophie verhindern. Sie lacht, als mein Gesicht auf ihrer rechten Schulter landet und streicht mir über die Wange. Verlegen schaue ich auf und möchte mich entschuldigen, da beginnt sie mich zu küssen.

Ohne weiter zu überlegen, was gerade passiert und ob wir diesen Moment nur dem Alkohol schulden, lasse ich mich darauf ein. Aus den zaghaften Berührungen unserer Lippen wird schnell ein wildes Spiel aus Zungen und wir suchen uns eine freie Stelle jenseits der Tanzfläche. Ich drücke Sophie an die Wand und küsse sie immer wieder. Ihre Hände liegen an dem Bund meiner Jeans und mit den Fingerspitzen fährt sie über die von Schweißperlen bedeckte Haut unter meinem T-Shirt. Ich liebkose ihren Hals und meine rechte Hand streift forsch über ihren Po. Ich spüre, wie Sophie meine Berührungen genießt und ihr warmer, nach Schnaps duftender Atem meine Wange kitzelt.

„Lass uns zu mir gehen", flüstert sie mir zu und mit einem viel sagenden, trunkenen Blick signalisiere ich ihr mein Einverständnis.

Wir suchen ein weiteres Taxi und spüren, je mehr Zeit bis zu unserem Ziel verstreicht, wie das Verlangen zwischen uns wächst. Mit einem großzügigen Trinkgeld verabschieden wir uns eilig von dem Fahrer und sprinten das Treppenhaus hinauf zu Sophies WG.

Als sie die Wohnungstür öffnet und mich mit dem Zeigefinger auf den Lippen durch den Flur führt, bleibe ich abrupt vor Penelopes früherem Zimmer stehen. Die Tür ist geschlossen und mein Verstand möchte mir einreden, wenn ich sie öffne, finde ich meine Schwester schlafend in ihrem Bett.

„Gregor", flüstert Sophie meinen Namen und formuliert damit insgeheim die Anweisung, ihr zu folgen.

Das Verlangen auf ein Abenteuer in mir ist nicht länger ein brennendes Feuer, sondern eine schwache Glut und mir wird bewusst, was für eine dämliche Idee es war, hierher zu kommen. An den Ort, der Penelopes letztes Zuhause war.

Schon möchte ich mich bei Sophie entschuldigen und wieder verschwinden. Da spüre ich, wie ihre Finger nach meiner Hand greifen. Ich sehe zu ihr und an ihrem Blick erkenne ich ihr Bewusstsein darüber, was gerade in mir vorgeht.

„Du solltest jetzt nicht alleine sein", rät sie mir mit sanfter Stimme.

„Einverstanden", zeige ich mich nach einem Augenblick des Zögerns - wenige Sekunden, die doch eine kleine Ewigkeit zwischen uns liegen - dazu bereit.

Wir gehen in ihr Zimmer und Sophie schließt, möglichst bedacht, ihre Mitbewohner nicht aus dem Schlaf zu reißen, sachte die Tür hinter sich. Sie streift die Pumps ab, hängt ihre Jacke an einen Stuhl und stellt sich vor ihr Bett.

„Du kannst hier übernachten, Gregor", deutet sie auf die große Matratze.

Ich streife ebenfalls Jacke und Schuhe ab und während Sophie sich aus ihrem Kleiderschrank einen Pyjama zieht, merke ich, wie der letzte Rest meiner Betäubung erlischt und meine Gedanken an Penelope und den unbekannten Schatten die Oberhand gewinnen.

„Nein", hauche ich, verzweifelt darüber, mich wieder dem Wahnsinn stellen zu müssen, der mein Leben zeichnet.

Sophie dreht sich zu mir um und sieht mich irritiert an.

„Wie…", möchte sie etwas fragen, doch da bin ich bereits bei ihr und küsse sie. Zumindest bis zum Anbruch des nächsten Tages will ich ignorieren, was mich quält.

Sophies Mund formt ein Lächeln und sie zieht mir mein T-Shirt über den Kopf. Sanft stößt sie mich auf ihr Bett, schlüpft aus ihrem Kleid und folgt mir auf die Matratze. Die Begierde zwischen uns entflammt erneut und willig lassen wir uns von ihr mitreißen. Nur einen Moment später liegen wir nackt aufeinander, streicheln, küssen und stimulieren uns. Ich liebkose ihre Brüste, spiele mit meiner Zunge an ihren Brustwarzen und nehme die Wärme ihres Körpers auf meiner Haut in mir auf. Sophies Lippen wandern an meinem Bauch hinab. Ich schließe die Augen, genieße jede ihrer Berührungen und spüre, während sie sich ausgiebig meiner Erektion widmet, wie ich zusehends die Beherrschung über meinen Atem verliere. In ihrem Nachttisch findet Sophie ein Kondom, streift es mir über und gesteht, während sie sich auf mich setzt, wie lange sie sich bereits nach mir sehnt. Ich höre ihre Worte, doch hinterfrage ich die Botschaft dahinter in keiner Weise.

Wir verschmelzen und steuern zusehends gemeinsam auf den Höhepunkt unseres Verlangens zu. Zuerst hat Sophie mich unter ihrer Kontrolle und ich gebe mich ihr vollkommen hin. Dann werde ich fordernd, drehe sie auf den Rücken und bestimme das Tempo. Kraftvoll stoße ich in sie. Während ich überrascht bin, weshalb ich Sophie so hart behandle, scheint ihr der raue Umgang zu gefallen.

Du kommst nicht damit klar, dass Männer wie ich es Penelope besorgen durften.

Sebastians Anschuldigung ist plötzlich in meinen Gedanken. Sie bestimmt mein Handeln, macht mich wütend und treibt mich noch mehr an. Als ich mir vorstelle, wie ich unentwegt auf ihn einschlage und darüber zufrieden grinse, durchbricht ein lautes Stöhnen meinen Wunsch nach Rache. Es ist Sophie, die jedoch nicht vor erfüllter Begierde nach Luft ringt, sondern weil sich meine Hand wie ein strammer Gürtel um ihre Kehle spannt.

Ruckartig lasse ich los und finde, wenige Sekunden später, meinen Höhepunkt. Ich ziehe mich zurück und bleibe neben Sophie wie paralysiert liegen. Mein Blick klebt an der Decke. Ich bin unfähig, sie anzuschauen, nachdem sie mit einer Seite meiner Persönlichkeit Bekanntschaft machen musste, die ich selbst nicht kenne.

„Ich bin gleich wieder bei dir", sagt sie nach einer Weile mit gefasster Stimme und verschwindet aus dem Zimmer. Was geht in ihr gerade vor? Ich muss völlig selbstsüchtig wirken, nur darauf bedacht, meine eigenen Triebe zu befriedigen.

So selbstsüchtig und arrogant wie Sebastian Schönbrecht.

Und als könnte ich dem Ausgang dieser Nacht nicht noch ein schlimmeres Finale verleihen, ziehe ich mich eilig an und schleiche, während Sophie sich vermutlich im Badezimmer meiner nicht nachvollziehbaren Brutalität stellt, aus der Wohnung.

Als ich im Morgengrauen alleine durch die Straßen streife, manifestiert sich in mir eine bittere Erkenntnis.

Ich kann den Schatten meiner Vergangenheit nicht entrinnen. Sie sind hier und in ihnen muss ich leben.

Die lebenden Schatten

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