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Kapitel 8: Maiah
ОглавлениеIch stehe am Ende eines Ganges. Das Licht roter Lampen fängt sich auf dem kalten Stahl der Wände. Mir fehlt die Erinnerung, wie ich hierhergekommen bin, aber meine Intuition rät mir, den Ausgang zu finden. Meine Schritte hallen über den metallenen Boden. Lockt das Geräusch jemanden an? Werde ich verfolgt? Ich schaue zurück, kann aber nur die von rotem Licht unterbrochene Dunkelheit ausmachen. Und doch spüre ich die Anwesenheit eines anderen. Er ist nah und verringert Sekunde um Sekunde seine Distanz zu mir.
Im blutroten Schein vor mir zeichnet sich eine Tür ab. Ich mobilisiere meine gesamten Kräfte und stürme ihr entgegen. Plötzlich kann ich den Atem des Jägers hören. Er ist nur wenige Schritte von mir entfernt. Bleibe ich stehen und drehe ich mich noch einmal um, wird er mich fangen. Meine Hand greift nach der Türklinke und mit aller Kraft presse ich sie nach unten. Die Angst, die Tür wird sich nicht öffnen, erfüllt mich für wenige Sekunden, aber da stoße ich sie auf und trete in einen mit dunklen Fliesen ausgelegten Raum ein. Die Schwarzlichtröhre über mir taucht das Zimmer in eine surreale Wirklichkeit und in ihr finde ich den Mut, meinem Verfolger ins Gesicht zu schauen. Ich wende mich ihm zu. Aber es ist niemand zu sehen. Wo die Tür vor wenigen Sekunden noch war, blicke ich in einen riesigen Spiegel.
Als würde ich mich zu ersten Mal betrachten, nimmt mein Spiegelbild mich völlig gefangen.
„Mein Name ist Maiah Winter", sage ich und meine Worte werfen ihr Echo in alle Richtungen. Ich mustere mein Gesicht und fahre über die Narbe auf meiner rechten Wange. Auf einmal sieht mein Spiegelbild zu mir auf und grinst mich hämisch an.
„Wer bist du?", fragt mich eine verzerrte, schrille Stimme, während sich das finstere Grinsen zu einem breiten, diabolischen Lachen verändert.
„Ich bin Maiah", wiederhole ich meinen Namen und versuche damit, die Frau im Spiegel zu überzeugen. Doch sie lacht mich nur weiter aus.
„Armes Kind…", haucht die Stimme. „ich werde dir zeigen, WAS du bist." Zwei Arme schießen ruckartig aus dem Spiegel hervor, greifen nach meinen Schultern und bevor ich reagieren kann, ziehen sie mich durch das Glas hindurch. Ich möchte panisch aufschreien, doch ist meine Stimme wie erstickt.
Ich schließe nur kurz die Augen und als ich sie wieder öffne, befinde mich vor einem mit einer Steinplatte verschlossenen Brunnenschacht. Nebel zieht gespenstisch über den Boden und in der Ferne kann ich die Grenze eines Waldes ausmachen. Das Gras unter meinen Schuhen ist feucht. Ich versuche mich zu orientieren. Liegt der Brunnenschacht auf dem Anwesen der Gemeinschaft? Habe ich ihn schon einmal gesehen? Meine Augen suchen im dichten Nebel nach einer Antwort.
Plötzlich ereilt mich abermals das Gefühl, verfolgt zu werden. Die Präsenz meines Jägers ist nah. Sie strömt aus dem Brunnenschacht zu mir. Obwohl ich es nicht möchte, gehe ich auf ihn zu. Meine Hände fahren über die raue Steinplatte. Was befindet sich darunter? Was lungert in den Tiefen des Brunnens?
Die Steinplatte beginnt zu vibrieren und erschrocken fahre ich zurück. Halt suchend, falle ich über meine eigenen Füße und stolpere ins Gras. Ich bemühe mich vergeblich, auf die Beine zu kommen und sehe starr vor Angst dabei zu, wie sich graue, knochige Finger am Rand der Platte nach oben tasten und mit einem kräftigen Ruck das steinerne Siegel zur Seite schieben.
Eine Gestalt, gekleidet in dunklen, nassen Lumpen, erhebt sich; das Gesicht hinter einem Vorhang aus dichtem, pechschwarzem Haar verborgen. Sie tritt auf das Gras und ich sehe, wie ihre Arme und Beine seltsam verdreht erscheinen, so als wäre jeder Knochen darunter mehrfach gebrochen. In verstörender Weise nähert sie sich mir und obwohl ich alles daransetze, um aufzustehen und schleunigst das Weite zu suchen, versagen meine Muskeln.
Die Gestalt bleibt über mir stehen. Jede Faser meines Körpers ist von reiner Angst erfüllt. Was hat sie mit mir vor?
Langsam beugt sie sich zu mir hinab. Ihre grauen Finger umspannen meine Oberarme und ich spüre, wie ihre Nägel sich in mein Fleisch bohren. Mit blanken Entsetzen starre ich in ihre Augen. Dann erkenne ich die Wahrheit.
Ich blicke in mein eigenes Gesicht. Es sieht mich fragend an. Nur ein ersticktes Flüstern ist zu hören.
„Wer bist du?"
Da schrecke ich auf. Mit rasendem Herzen schaue ich mich verwirrt um. Intuitiv tastet meine linke Hand nach einem Lichtschalter und als ich ihn finde, erstrahlt wenige Sekunden später der angenehme, milchige Schein meiner Nachttischlampe.
Ich liege in meinem Bett. Ich bin in Sicherheit.
„Es war ein Albtraum", sage ich laut und versuche meinem Verstand damit begreiflich zu machen, die unter meiner Haut brodelnde Furcht zu vertreiben.
Schweißperlen rinnen an meiner Stirn hinab und ich merke, wie mein Nachthemd regelrecht an meinem Körper klebt. Ich atme mehrmals tief ein und aus und versuche, zurück zu Ruhe zu finden. Meine Kehle ist staubtrocken und durchzogen von quälendem Durst. Ich stehe auf, öffne die Tür zum Flur und gehe hinüber in das Gemeinschaftsbad. Die Notbeleuchtung und die Hinweisschilder zu den Rettungswegen tauchen das Stockwerk in ein gespenstisches Halbdunkel. Ich lausche, ob ein verdächtiges Geräusch zu hören ist, aber die Stille scheint vollkommen.
An einem Waschbecken schöpfe ich mit den Händen kaltes Wasser, trinke ausgiebig davon und kühle meine geröteten Wangen. Für einen Moment schließe ich die Augen und denke über die schrecklichen Bilder meines Traumes nach.
Die Legende der Roten Magd ist mit meiner eigenen Geschichte und den Lügen, die mir die Aufnahme in die Gemeinschaft ermöglicht haben, eine fürchterliche Symbiose eingegangen. Dabei sind die Erzählungen des Bibliothekars nicht mehr als grausige Überlieferungen der Dorbewohner.
Menschen suchen schon immer nach Antworten und flüchten sich dort, wo es keine vernünftigen Erklärungen gibt, in das Übersinnliche. Denn es ist immer noch besser, als keinen Grund für ein geschehenes Verbrechen zu finden.
Egal, welches Grauen Agatha und Hannes Sperling Elouise Aulitz auch angetan haben mögen und was der Familie Belfort einige Jahre später zu Teil wurde, so haben beide Ereignisse nichts miteinander zu tun. Da bin ich mir sicher.
Genauso bin ich davon überzeugt, nicht nur aus purem Zufall von Constantin erfahren zu haben, dass auf dem Anwesen ein Fluch liegen soll. Er handelt nicht ohne eine Absicht - seine Worte und das Aushändigen der Schlüsselkarte sind mit Hintergedanken verbunden. Möglicherweise stellt das Buch über die Geschichte der Belforts der erste Hinweis dar, um Constantins Machenschaften zu durchschauen.
Aber egal, was er auch plant - nichts wird mich davon abbringen, ihn zu töten. Und wenn ich dafür selbst sterben muss.
Die restliche Nacht verbleibe ich in einem traumlosen Schlaf und schrecke am Morgen hoch, als mein Wecker zum dritten Mal klingelt. Ich beeile mich und komme gerade noch rechtzeitig zum Frühstück. Wieder habe ich das Gefühl, dass Constantin mich mustert und mein Verhalten analysiert.
Kommt er mir auf die Schliche? Habe ich etwas getan, dass ihn dazu veranlasst, meine Vergangenheit in Frage zu stellen? Liegt es an meiner fehlenden Bereitschaft, mich hypnotisieren zu lassen?
Ich muss etwas unternehmen, schießt es mir durch den Kopf, während ich an meinem Kaffee nippe und Constantin sich mit zwei anderen Mitgliedern der Gemeinschaft in ruhigem Tonfall austauscht. Alles, was ich brauche, ist noch etwas Zeit. Zeit, um herauszufinden, was wirklich mit Nicoletta geschehen ist. Ihr leerer Stuhl mir gegenüber ermahnt mich, vorsichtig zu sein.
Den Vormittag bemühe ich mich, meine Konzentration gänzlich auf das Backen zweier Buttercremetorten zu richten, um mich dadurch zumindest für ein kurzes Zeitfenster von den Gedanken an Constantin, Nicolettas Verschwinden und den unheimlichen Geschichten meiner Unterkunft zu lösen. In all dem Wahnsinn, der mich umgibt, bildet die Konditorei inzwischen für mich eine Art Refugium. Die ersten Tage nach meiner Aufnahme in der Gemeinschaft hielt ich es für ein unerträgliches Los, meine Zeit mit Backen gestalten zu müssen. Der naive Teil in mir dachte, ich werde ein paar Tage die Rolle der vor ihrer Vergangenheit Fliehenden mimen müssen, bis ich eine Chance erhalte, um mich an Constantin rächen zu können. Die Ernüchterung kam bald.
Scheinbar aus einer Eingebung heraus vermutete Constantin, ich hege für das Backen ein großes Potential. Und tatsächlich hatte er damit Recht und ich entdeckte eine neue Fähigkeit. Ich hasse mich dafür, dass ein Teil in mir ihm Anerkennung zollt, denn vielmehr sollte ich ihn genau wegen seiner Intuition fürchten.
Als ich mich nach meiner Mittagspause wieder zurück in die Konditorei begeben möchte, finde ich Jonah am Eingang des Kräutergartens. Eigentlich müsste er nach Schulende seine Arbeit in der Spielzeugmanufaktur aufnehmen, doch stattdessen füllt er zwei Gießkannen mit Wasser.
„Ich schaue nach Nicolettas Pflanzen", erklärt er mir. „Constantin ist damit einverstanden. Ich kann einen Teil meiner Arbeitszeit in der Gärtnerei einsetzen."
Ich spüre deutlich, wie sehr Jonah Nicoletta vermisst. Im Gegensatz zu mir scheint er sich jedoch keine Gedanken darüber zu machen, ob ihr Abschiedsbrief tatsächlich der Wahrheit entspricht.
Eine Antwort fällt mir schwer. Für einen Moment überlege ich, ihn in meine Vermutung einzuweihen, doch befürchte ich, dass er mit ihr noch weniger umgehen kann als mit dem Umstand, dass Nicoletta die Gemeinschaft wegen ihres Partners verlassen hat.
„Das würde sie sicherlich sehr freuen", bestätige ich ihm. Es klingt so, als sei sie verstorben, doch Jonah lächelt mir zu. „Vielleicht sehen wir sie eines Tages wieder. Dann kann ich ihr berichten, dass es ihrem Garten gut geht. Glaubst du, Nico denkt an uns? Auch wenn für sie nun ein neues Leben begonnen hat?"
„Da bin ich mir sogar ziemlich sicher." Eine weitere Lüge, zu der ich mich entscheide.
Ich verabschiede mich von Jonah und laufe zur Konditorei hinüber. Als ich den Raum betrete, lehnt Constantin mit verschränkten Armen an meiner Arbeitsfläche. Er scheint auf mich gewartet zu haben. Wir beide sind völlig alleine. Obwohl ein Adrenalinstoß durch meinen Körper jagt und ich mich sofort frage, was er plant, gelingt es mir, meine Gesichtszüge ruhig zu halten. Anstelle mit Panik durchzogener Irritation reagiere ich mit einem neugierigen Lächeln.
„Habe ich einen Termin vergessen?", frage ich.
„Keineswegs", winkt Constantin ab. „Ich dachte mir, ich besuche dich hier einmal."
Ich muss etwas unternehmen. Ein einziger Gedanke, der mich zum Handeln zwingt. Es wird höchste Zeit, dass ich ihm etwas gebe - eine Seite, die er an mir nicht kennt. Nur dadurch kann ich das Misstrauen bezwingen, mit dem er jeder meiner Bewegungen folgt.
„Jonah kümmert sich um Nicolettas Pflanzen", sage ich beiläufig und komme Constantins nächster Äußerung zuvor. „Ich habe mich gerade mit ihm eine Weile in der Gärtnerei unterhalten." Meine Hände tasten demonstrativ nach der Arbeitsfläche und suchen an ihrem Rand Halt.
„Es war sein Wunsch, ihre Arbeit fortzuführen. Er fühlt sich mit Nicoletta verbunden und kann durch diese Aufgabe lernen, mit ihrem plötzlichen Abschied aus unserer Gemeinschaft umzugehen", führt Constantin aus.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er meine Hände beobachtet. Er registriert das leichte Zittern. Meine Körperspannung. Das Beben meiner Unterlippe.
„Was…", beginne ich und scheine dabei mit mir selbst zu ringen.
„Nur zu, Maiah", ermutigt mich Constantin. Er ist neugierig zu hören, was ich ihm mitzuteilen habe.
„Was, wenn dieser Mann…", versagt mir die Stimme erneut. Die Worte scheinen einfach nicht über meine Lippen zu kommen. Da sehe ich zu Constantin auf, die Augen weit aufgerissen, während sich in ihnen Tränen sammeln.
„Was, wenn dieser Mann ihr etwas antut?", spreche ich meine Furcht aus. „Nico hat ihn nie erwähnt. Vielleicht täuscht er sie und ist so brutal wie ihr Vater es war…"
„Oder der Mann, der dich verletzt hat", ergänzt Constantin, was unausgesprochen zwischen uns den Raum ausgefüllt hat.
Egal, was der Grund für seinen Besuch war, er lässt sich völlig auf meinen Gefühlsausbruch ein. Und tatsächlich: Das Misstrauen ist aus seine Augen gewichen. Stattdessen erkenne ich die Faszination über meine plötzliche Offenheit.
Ich halte die Tränen nicht länger zurück und fange bitterlich zu weinen an. Jede Emotion, die ich in mir finde, nutze ich, um Constantin von meiner Fragilität zu überzeugen. Ich senke den Kopf und schaue erneut zur Arbeitsfläche, so als würde ich dort nach einer Antwort suchen.
„Hier war sie in Sicherheit. Aber dort draußen… bei ihm... wer wird sie da beschützen? Wie gut kann sie ihn schon kennen? Hat er ihr Vertrauen verdient?"
Constantin kommt näher, aber ich sehe nicht zu ihm auf, sondern starre vor mich hin. Da spüre ich seine Hand auf der meinen. Er würde mich nicht in den Arm nehmen und trösten. Nicht auf diese Weise. Constantin hält die Grenzen ein, die jeder professionelle Therapeut beachtet.
„Du lässt deine Angst zum ersten Mal gegenüber einem anderen zu. Das ist ein beachtlicher Schritt, Maiah. Zu wissen, wovor du dich fürchtest, wird dir helfen, dich deinen inneren Dämonen zu stellen."
Ich ziehe meine Hand langsam zurück und streiche mir die Tränen aus dem Gesicht.
„Ich habe noch niemandem erzählt, was er… was er mir angetan hat. Wie es anfing. Und wie es endete. Wenn es möglich wäre, würde ich gerne die Therapie dazu nutzen…"
„Natürlich. Ich unterstütze dich", unterbricht Constantin mich, damit zeigend, dass er meiner Bitte folgen wird.
„Wenn du möchtest, kannst du heute früher aufhören", bietet er mir an.
„Danke, aber ich glaube, die Arbeit wird mir helfen. Ich bin gerne hier."
Er nickt mir zu und berührt zum Abschied kurz meine Schulter.
„Du befindest dich auf dem richtigen Weg, Maiah. Vertrau dir selbst, ja?"
„Ich versuche es", stimme ich ihm zu.
Als ich alleine bin, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Es dauert eine kleine Ewigkeit, bis ich die Rolle, in die ich geschlüpft bin, abstreifen kann. Dann beginnt mein Körper heftig zu zittern und ich habe alle Mühe damit, meine Muskeln zu beruhigen. Ich konzentriere mich auf meinen Atem, schließe die Augen und merke, wie ich Sekunde um Sekunde entspanne.
Mein Plan - so vermute ich - hat funktioniert. Ich konnte Constantin davon überzeugen, dass ich nicht durch Hypnose, sondern durch Gespräche meine Vergangenheit bewältigen möchte. Und das verschafft mir Zeit, auch wenn ich mich nun in einen noch tieferen Strudel aus Lügen verlieren werde.
Was auch geschehen wird, ich darf auf keinen Fall vergessen, weshalb ich hier bin. Wer ich bin.
„Mein Name ist Maiah Winter."
Im Haus herrscht gespenstische Stille. Vermutlich schlafen bereits alle und ich bin die einzige, die kurz nach Mitternacht noch mit angeknipster Nachttischlampe in ihrem Bett sitzt. Auf meinem Schoß liegt die Geschichte der Familie Belfort. Der unbekannte Autor hat sein Werk mit etlichen Fragen begonnen, die um das tragische Ende von Luis und Fleur Belfort und ihren vier Kindern kreisen. Welcher Schrecken mag die Familie in ihrer letzten Nacht heimgesucht haben? Hatte sich Luis etwa Feinde gemacht, die ihm seinen beruflichen Erfolg missgönnten und dafür sogar sein Blut forderten? War alles ein tragischer Zufall oder vielmehr ein grässlicher Plan? Wer brachte es fertig, nicht nur die Eltern, sondern auch gleich vier Kinder zu töten? Weshalb konnte das Verbrechen bis heute nicht aufgeklärt werden?
Gleich nach dem Inhaltsverzeichnis findet sich ein Portrait der Familie. Es zeigt Luis und Fleur hinter ihren auf Stühlen sitzenden Kindern. Ihr ältester Sohn Philippe. Ihre Tochter Amelie und die beiden Zwillinge Artur und Casper. Sie alle lächeln in die Kamera, sie alle wirken glücklich. Ob der Autor in Erfahrung bringen konnte, was sich hinter geschlossenen Türen abspielte? Hat er die Antworten auf all seine Fragen gefunden?
Die ersten Kapitel liefern einen Abriss darüber, wie sich Luis und Fleur kennen lernten. Sie beide waren achtzehn Jahre alt und Luis besuchte seine Tante anlässlich ihres vierzigsten Geburtstages in Lyon. Fleur lebte mit ihrer Familie in der Nachbarschaft und während der großen Feier begegneten sie sich das erste Mal. Beide fühlten sich sofort zueinander hingezogen, denn nur wenige Tage später entschied sich Luis dazu, bei der Firma seines Onkels ein Praktikum zu absolvieren - sicherlich, um in Fleurs Nähe sein zu können. Auf einem weiteren Photo sind die beiden als junges Paar zu sehn. Sie sitzen an einem Tisch irgendwo im Freien. Vor ihnen stehen Weingläser und im Hintergrund sind Lampions auszumachen. Luis trägt ein weißes Hemd, die Ärmel legere nach oben gekrempelt und den obersten Knopf gelöst. Er hat seinen Arm um Fleur gelegt, die in ihrem hellen Etuikleid wie das passende Gegenstück zu ihm wirkt. Mit geschlossenen Augen lehnt sie an seiner Schulter und lächelt; glücklich über die Geborgenheit, welche ihr Luis' Berührung schenkt. Der Photograph muss die Aufnahme heimlich gemacht haben, denn sie ist ein perfekter Schnappschuss. Auf faszinierende Weise hält sie den Zauber dieses Moments fest. Die große Zuneigung zwischen den beiden Verliebten ist unabweislich zu erkennen. Sie sind glücklich einander gefunden zu haben und träumen von einer gemeinsamen Zukunft. Keiner von ihnen ahnt, welch schreckliches Ende ihre Geschichte nehmen wird.
Ich reibe mir die müden Augenlider und entscheide mich dazu, morgen Abend weiter zu lesen. Als ich das Buch auf den Nachttisch lege und das Licht löschen möchte, höre ich ein quälendes Knarren. Es dringt für wenige Sekunden aus dem Flur leise durch die geschlossene Tür in mein Zimmer ein. Zunächst glaube ich, mein Verstand spielt mir ein Streich und ich lausche in die nächtliche Stille hinein.
Ich muss mich getäuscht haben, entscheide ich und taste erneut nach der Tischlampe.
Da ist es wieder.
Jemand schleicht über den Gang. Heimlich. Leise. Wie ein Schatten. Doch der Boden straft jeden unachtsamen Schritt.
Wer ist dort draußen? Nervosität durchfährt mich und ich spüre, wie mein Herz gegen die Brust zu hämmern beginnt. Obwohl mir mein Verstand rät, das Ächzen zu ignorieren und einfach in meinem Bett liegen zu bleiben, stehe ich auf und gehe vorsichtig auf die Zimmertür zu.
Ich muss herausfinden, wer sich auf dem Gang umhertreibt. Nur so werde ich meine aufkeimende Furcht ersticken.
„Es liegt an der Geschichte des Bibliothekars", flüstere ich mir selbst eine Erklärung für mein Unbehagen zu.
Meine zitternde Hand umspannt den Türgriff und als die Geräusche abermals zu hören sind, drücke ich ihn lautlos nach unten und schaue durch einen Spalt in den Gang.
Im Halbdunkel vor mir ist niemand auszumachen. Langsam öffne ich die Tür und trete hinaus.
Ich lasse meinen Blick in beide Richtungen des Gangs schweifen. Wer auch immer gerade noch hier war, ist bereits verschwunden. Es sollte mich beruhigen und ich rede mir selbst zu, diese Geisterjagd endlich zu beenden. Schon möchte ich zurück in mein Bett gehen, als ich sie bemerke. Ich knie nieder und fahre mit den Fingerspitzen darüber.
Eine Spur aus Fußabdrücken zieht sich im wankenden Muster über den Gang hinweg zur Treppe, die ins Erdgeschoss führt. Jeder einzelne Abdruck ist nass, so als sei jemand aus einer vollen Badewanne gestiegen. Am oberen Absatz der Treppe endet die Spur plötzlich. Wohin ist die Person verschwunden?
In meinem Körper beginnt sich eine eisige Kälte auszubreiten. Die Bilder meines Albtraumes füllen meinen Verstand aus und ich sehe, wie sich eine Frau aus dem verschlossenen Brunnenschacht befreit und sich mir mit ihren befremdlichen Bewegungen nähert.
Ich presse meine Hand vor den Mund und ersticke damit einen Aufschrei, der meiner Kehle entweichen möchte.
Was geht hier vor?
Während ich mich dagegen wehre, hallt das Echo einer Warnung in meiner Erinnerung wider.
Dieses Land ist verdorben.