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Kapitel 7: Gregor
ОглавлениеJeden meiner Schritte setzte ich mit Bedacht, so als wollte ich mich an Penelopes Versteck unbemerkt heranschleichen. Konnte sie mich beobachten? Sah sie, wie ich mich ihr näherte oder gänzlich eine falsche Richtung einschlug? Wenn es mir gelang, ihre Hinweise zu deuten, würde ich meine Schwester finden können. Sie hatte es mir versprochen.
All meine Sinne waren angespannt. Ein leises Geräusch konnte bereits verraten, wo sich Penelope befand. Hastig ließ ich meine Augen über das Dickicht aus Paletten und Schrott wandern; darauf aus, jede noch so kleine Bewegung zu registrieren.
Es fühlte sich nicht an, als spiele ich ein Spiel.
Es war, als befinde ich mich auf einer Jagd.
Ich blickte zurück und stellte fest, dass unser Garten hinter Holzstapeln und wahllos aufeinander geworfenen Metallteilen nicht mehr zu sehen war. Der Boden unter meinen Füßen war matschig und ich überprüfte vergeblich, ob ich irgendwo eine Spur aus Schuhabdrücken entdecken konnte. Wie war das möglich? Hatte ich mich getäuscht und Penelope war gar nicht hier? Ich hielt an und überlegte, ob ich nicht zurückkehren sollte. Der Gedanke an die beiden zwielichtigen Brüder drängte mich dazu, ihre Müllhalde zu verlassen. Ich mochte mir nicht ausmalen, wie sie reagieren würden, sollten sie Penelope und mich hier entdecken.
Plötzlich schepperte es. Der Knall ging mir durch Mark und Bein und ich zuckte heftig zusammen. Was war das? Hatte sich meine Schwester verraten? Unsere Regeln sahen vor, dass sie - sobald sie es gewählt hatte - ihr Versteck nicht wechseln durfte.
Ich versuchte mich zu beruhigen und lief dem Knall eilig entgegen. Auf einem Holzstapel balancierte die grau getigerte Katze unserer Nachbarn und schien noch immer damit beschäftigt, ihre Beute zu jagen. Offensichtlich hatte sie durch einen Sprung auf das Konstrukt aus Latten dieses teilweise zum Einstürzen gebracht.
Enttäuscht stellte ich fest, dass von Penelope jede Spur fehlte. Sollte ich nach ihr rufen und mich geschlagen zeigen? Ich entschied, mir noch eine Chance zu geben und machte mich auf den Weg zurück zu dem Fußabdruck im Gras; dem letzen Hinweis, den ich gefunden hatte.
Wie durch eine Eingebung gelenkt, hielt ich an der Grenze zwischen Garten und Schrottplatz inne und sah nach links. Das Fehlen einer Spur im matschigen Boden und das Balancieren der Katze ließen mich schlagartig einen anderen Weg, sich auf dem Grundstück fortzubewegen, erkennen. Mit einem kurzen Sprung war ein breites, steinernes Rohr zu erreichen, an dessen hinteren Ende ein Konstrukt aus Paletten anschloss. Diese mündeten wiederum in einer Linie aus rostigen Fässern.
Das Bild vor mir veränderte sich. Ich sah nicht mehr das Meer aus Holz und Schrott, sondern einen Hindernisparcours. Über diesen hatte sich Penelope fortbewegt, daran bestand für mich kein Zweifel. Ich hatte noch immer die Chance, sie zu finden. Meine Jagd ging weiter.
Ich habe die Nacht keine Sekunde geschlafen. Habe überlegt, an wen ich mich wenden kann, wo ich es doch selbst für unfassbar halte, eine Nachricht von Nelo erhalten zu haben.
Ihr Brief - oder vielmehr die kurze Notiz - liegt auf meinem Esstisch und beansprucht, wahr zu sein.
Finde mich, Gregor. P. Es ist die Handschrift meiner Schwester. Ich bin mir ganz sicher; auch wenn ich das Gesicht der Frau, die den Brief hinterlassen hat, nicht gesehen habe.
Aber wie ist das alles möglich? Der Brief ist ein weiterer Beweis dafür, dass Penelope am Abend der Erinnerungsfeier tatsächlich im Haus meiner Eltern war. Wollte sie unbemerkt bleiben und ich habe sie dabei ertappt, wie sie… ja, was war der Grund für ihre Rückkehr? Ganz egal, vertreibt ein anderer Gedanke die Überlegungen.
„Nelo, du bist am Leben!", sage ich laut und kämpfe gegen die Tränen an, die in meinen Augen zu brennen beginnen. Die Angst - die bittere Gewissheit -, Penelope wurde zum Opfer eines Gewaltverbrechens, war nur ein Trugschluss. Ich fühle, wie mich eine neue Hoffnung erfüllt.
Meine Schwester möchte, dass ich sie suche. Dass ich sie finde. Wie bei dem Spiel aus unserer Kindheit. Knüpfe ich an diesen Gedanken an, hat Penelope mir Hinweise hinterlassen. Kann ich sie deuten, führen sie mich zu ihr.
Bis dahin werde ich niemandem von ihrer Nachricht erzählen. Weder meinen Eltern, noch der Polizei oder Dr. Brunner. Selbst bei Leo bin ich mir nicht mehr sicher, ob er mich nicht doch für verrückt halten würde. Sie alle könnten behaupten, ich hätte den Brief gefälscht, damit die Suche nach meiner Schwester fortgeführt wird, so als stelle dies die einzige Möglichkeit dar, die mir hierfür noch bleibt.
Aber es muss einen Grund geben, warum sich Penelope an mich wendet und nicht an unsere Eltern oder an die Polizei.
Ich schiebe das Blatt Papier zurück in seinen Umschlag und verstaue ihn - so als verstecke ich wertvollen Familienschmuck - in einem Regal hinter einer Reihe von Büchern. Dann beginne ich zu überlegen, welche Anhaltspunkte mir vorliegen, um mit der Suche nach meiner Schwester von vorne anzufangen. Die Regeln unseres früheren Spiels - sie sind der Schlüssel.
Falls Penelope am Abend der Erinnerungsfeier in ihrem Zimmer war, so hat sie möglicherweise dort einen Hinweis für mich hinterlassen. Es ist zumindest eine erste Spur.
Ich nehme mein Smartphone und betrachte erneut das letzte Photo meiner Schwester. Sie sitzt auf dem Bett und lächelt mir zu. Penelope übernachtete bei meinen Eltern und mir wird bewusst, dass ich hierüber noch nie nachgedacht habe. Warum fuhr sie nicht nach Hause? Immerhin war ihre WG nicht allzu weit entfernt.
Theodor und Marietta kennen die Antwort. Sie wissen, ob an jenem Abend etwas vorgefallen ist.
Der fehlende Schlaf macht sich schlagartig bemerkbar und ich bereite mir einen doppelten Espresso zu, um die aufkeimende Müdigkeit in ihre Schranken zu weißen. Mir bleibt keine Zeit, um mich auszuruhen. Nicht jetzt.
Nach einer Katzenwäsche hechte ich zur Straßenbahn und nehme die nächste Linie in Richtung des Hauses meiner Eltern. Obwohl die Fahrt nur etwas mehr als eine viertel Stunde dauert, kommt mir jede einzelne Minute davon wie eine Ewigkeit vor.
Den restlichen Fußweg lege ich im Stechschritt zurück. Mit der Hand in der Jackentasche umklammere ich den Haustürschlüssel, der mir auch Zugang zur oberen Etage meines Elternhauses gewährt. Egal, wie sie auf meinen Besuch reagieren werden, so kann ich mich zumindest ohne das Einverständnis meiner Eltern in Penelopes Zimmer umschauen.
In der Einfahrt parkt ein schwarzer Van mit getönten Scheiben. Als ich das Fahrzeug passiere, erwarte ich beinahe, dass die Schiebetüren aufgerissen werden und ein Sondereinsatzkommando mit Kampfausrüstung an mir vorbeistürmt und das Haus umstellt.
Ich ziehe den Schlüssel hervor, öffne die Tür und entscheide mich dazu, meine Eltern zu begrüßen; auch um zu erfahren, wer sie gerade besucht. Und was hier vorgeht.
Als mich Theodor und Marietta bemerken, sehe ich ihnen deutlich an, wie unrecht ihnen mein plötzliches Erscheinen ist. Mehr noch, sie wirken, als hätte ich sie bei etwas Verbotenem ertappt. Sie stehen im Flur und ihnen gegenüber lehnt ein Mann, den ich nicht kenne, im Türrahmen zum Wohnzimmer. Er trägt eine schwarze Bomberjacke und hat seine dunklen, von einzelnen grauen Strähnen durchzogenen Haare zu einem Dutt zusammengebunden, wobei die millimeterkurz rasierten Seitenpartien in einen kräftigen, über das Kinn hinauswachsenden Bart übergehen. Ich schätze ihn auf Anfang dreißig. Den Augen meiner Eltern folgend, schaut der Fremde mit kritischem Blick zu mir herüber. Während er auf einem Zahnstocher herum beißt, scheint er sich zu fragen, wann entweder ich oder meine Eltern endlich die Stimme erheben.
„Gregor", sagt mein Vater schließlich. „Wir wussten nicht, dass du uns heute besuchen möchtest."
Meine Mutter reibt nervös die Handgelenke aneinander. Ich sehe ihr an, wie stark der Wunsch in ihr tobt, aus der Situation zu fliehen.
„Ich dachte, wir sollten vielleicht…miteinander reden", gebe ich vor.
„In Ordnung", antwortet Theodor und wendet sich dem bärtigen Fremden zu. „Herr Michaelson, wir hören voneinander."
Der Besucher nickt und läuft, die Hände in den Taschen seiner Bomberjacke vergraben, an mir vorbei. Ich spüre deutlich, wie sein Blick mich noch immer durchbohrt, so als frage er sich, was ich hier zu suchen habe.
„Auf Wiedersehen", antwortet er in ruhigem Tonfall und zieht die Haustür hinter sich mit einem kräftigen Ruck zu.
„Wer war das?", platzt es aus mir heraus und ich bin mir sicher, dass meine Eltern die Frage als neue Provokation auffassen werden.
„Herr Michaelson ist ein früherer Student deines Vaters", erklärt Marietta etwas zu hastig, als dass ich ihre Notlüge nicht bemerken würde.
Der Mann gleicht so gar nicht Theodors Studenten, die ich in all den Jahren erlebt habe. Die meisten hätten die behandelnden Ärzte aus einer Werbung für Zahnpasta sein können. Meine Eltern versuchen etwas vor mir zu verbergen und dieser Typ hat offensichtlich damit zu tun. Sicherlich ärgern sie sich innerlich gerade maßlos darüber, wie ich sie bei ihrem heimlichen Treffen erwischt habe.
„Lasst uns im Wohnzimmer Platz nehmen", schlägt mein Vater vor. Er möchte die angespannte Situation entschärfen und ich willige ein.
„Es tut mir leid, wie ich mich bei der Erinnerungsfeier verhalten habe", gebe ich vor. Theodor schaut auf den Glastisch vor sich, aber Marietta sieht mich überrascht, ja beinahe schon versöhnlich an. Vermutlich hat sie mit meiner Entschuldigung nicht gerechnet. Obwohl ich kein Wort davon ernst meine, scheinen meine Eltern sie nicht in Frage zu stellen.
„Einverstanden", erwidert Theodor. „Wir müssen akzeptieren, dass du noch nicht so weit bist, um nach vorne schauen zu können. Aber wir schätzen deine Bestrebungen, an deinem Problem professionell zu arbeiten. Ich bin sicher, die Therapie wird dir helfen."
„Vielleicht gelingt es dir auch, in Sebastian keinen Feind zu sehen. Deine Schwester hat ihn schließlich geliebt", ergänzt Marietta und macht Theodors Ausführungen nur noch schlimmer. Mir wird bewusst, wie unterkühlt das Verhältnis zwischen uns ist. Im Grunde signalisieren sie einmal mehr ihre Erwartung an mich, endlich mit dem Geschehenen abzuschließen. So wie es ihnen längst gelungen ist.
Gerne würde ich von ihnen erfahren, warum Penelope kurz vor ihrem Verschwinden hier übernachtet hat. Aber der Moment scheint mir nicht richtig. Ich muss Theodor und Marietta von meiner Rolle - dem reumütigen, Einsicht zeigenden Sohn - überzeugen und sie nicht abermals gegen mich aufbringen. Erfülle ich, wenn auch nur oberflächlich, ihre Erwartungen, gewinne ich ihr Vertrauen und sie werden mir meine Fragen beantworten.
„Ich denke, Sebastian war an diesem Abend für mich nur ein Ventil", gehe ich auf Mutters Äußerung ein. Sie nickt mir erleichtert zu. Bereut sie wohlmöglich, mich und nicht Sebastian der Feier verwiesen zu haben? Glaubt sie, damit noch einen tieferen Keil zwischen uns getrieben zu haben?
„Deine Rede hat mir gut gefallen", wende ich mich Theodor zu. „Du hast die richtigen Worte gefunden."
Mein Vater schluckt den Köder. Er schildert mir seine Bemühungen, ihr Empfinden greifbar zu machen. Es ist der Startschuss für eine Stunde Smalltalk. Ich erzähle ihnen von meiner Arbeit in der Standpauke und wie sie mir hilft, meinen Tag zu strukturieren. Konstruiere den Plan, mein Studium fortzusetzen. Frage nach Theodors Vorträgen an Universitäten und Krankenhäusern und bei Pharma-unternehmen. Frage, ob Marietta und ihre Freundinnen eine neue Wohltätigkeitsveranstaltung organisieren. Frage, ob sie den Wintergarten umgestaltet haben. Frage, frage, frage. Die Stimmung entspannt sich und sie nehmen mein Interesse an ihrem Leben als ein wohlwollendes Zeichen des Friedens auf.
Wir trinken zusammen einen Kaffee und niemand merkt, wie es mich unter meiner Haut dazu drängt, aufzuspringen und in Penelopes Zimmer nach einem Hinweis über ihren Aufenthalt zu suchen.
Als ich mich verabschiede, drückt Theodor mir die Hand und Marietta umarmt mich kurz. „Da fällt mir ein", versuche ich von einer plötzlichen Idee gelenkt zu wirken „ich bin auf der Suche nach einer CD. Vielleicht ist sie noch oben bei meinen alten Sachen?"
„Schau doch einfach nach", schlägt mir Marietta vor. „Hast du deinen Schlüssel dabei?"
Symbolisch ziehe ich ihn aus meiner Jacke hervor.
„Gute Idee." Ich nehme die Treppe nach oben, während mein Vater in den Garten verschwindet und meine Mutter zurück ins Wohnzimmer kehrt.
Lasst mich einfach in Ruhe suchen, stimme ich ihrem Verhalten zu. Die Tür zu oberen Etage schließe ich hinter mir und steuere augenblicklich Nelos Zimmer an.
Im milden Tageslicht wirkt der Raum anders, als in der Nacht der Erinnerungsfeier. Das freundliche, in Pastelltönen gehaltene Zimmer einer jungen Erwachsenen begrüßt mich. Auf einmal fällt mir die Vorstellung schwer, dass sich hier ein Schatten heimlich umherbewegt hat. Ein Schatten, der meine verschwundene Schwester sein könnte. Werde ich also einen Hinweis finden, den sie mir möglicherweise hinterlassen hat?
Da ich nicht weiß, nach was ich suche, mustere ich jeden Winkel des Zimmers. Überprüfe jedes Regal, jede Box. Öffne jede Schublade. Fahre mit den Fingern in die Spalten zwischen den Möbeln und den Wänden. Schaue unter das Bett. In den Kissenbezug. Hebe die Matratze an. Ziehe das Spannbetttuch ab. Aber ich finde nichts.
In meinen Gedanken versuche ich heraufzubeschwören, wohin sich der Schatten in dem Zimmer bewegte. Doch die Erinnerung liegt im Nebel und verschwimmt gänzlich hinter der Panik, die mich im Garten ergriffen hatte.
Ich bin gespannt, wie viel Zeit mir noch bleibt, bis meine Eltern nach mir schauen und erleben, wie ich Penelopes Zimmer buchstäblich auseinandernehme.
„Es nützt nichts", gestehe ich mir selbst ein. Ich suche die Nadel im Heuhaufen. Es fühlt sich wie früher an, als sich Nelo vor mir versteckte. Ihre Hinweise waren subtil und alles andere als leicht zu finden.
„Aber sie waren da", rücke ich mir meinen Kopf selbst zurecht. Ich darf nicht einfach aufgeben. Nachdem ich das von mir fabrizierte Chaos wieder beseitigt habe, setze ich mich auf Penelopes Bett und schaue noch einmal die letzte Aufnahme meiner Schwester an. Genau an dieser Stelle ist das Foto entstanden.
Wusstest du da bereits, welches Schicksal auf dich wartet?
Durch das Fenster zum Garten fällt helles Sonnenlicht in das Zimmer und ich schaue zur Seite, um nicht völlig geblendet zu sein.
Da bemerke ich es. Eine Gänsehaut wandert an meinen Armen hinab und ich fühle, wie ein Adrenalinschub meinen Körper durchfährt. Kann es wirklich sein? Meine Eltern haben an Penelopes Zimmer nichts verändert. Sie hüten es wie einen heiligen Schrein.
Ich schaue auf das Display meines Smartphones und vergleiche die Aufnahme mit der Gegenwart. Auf dem Beistelltisch neben dem Bett steht ein Kästchen, das auf dem Photo nicht zu sehen ist.
Fieberhaft versuche ich mir in Erinnerung zu rufen, ob ich es schon jemals gesehen habe. Ob es für Nelo eine bestimmte Bedeutung hatte. Könnte es tatsächlich ein Hinweis sein?
Vorsichtig nehme ich das Kästchen an mich und betrachte es. Fahre mit den Fingern über die im dunklen Holz eingravierten Linien; ein Netz aus Ranken, die sich an einem silbernen Verschluss am Rand des Deckels sammeln. Er gleicht einer blühende Rose.
Ich hebe einen kleinen Haken an und der Verschluss fährt mit einem leisen Klicken nach oben. Sofort nimmt mich das Innere des Kästchens regelrecht gefangen. Auf einem Boden aus rotem Samt beginnt eine Balletttänzerin ihre Pirouetten zu drehen. Die zarten Töne von Beethovens „Für Elise" begleiten die in ein weißes Kleid gehüllte Tänzerin, während sie - eingefroren in ihrer anmutigen Körperhaltung - ihren Tanz immerzu fortführt.
Das Kästchen ist eine Spieluhr. Ich bin mir ganz sicher, dass sie nicht aus der Jugendzeit meiner Schwester stammt. Jemand muss sie hier absichtlich hinterlassen haben.
Wenn Penelope mir damit einen Hinweis geben möchte, so muss ich nun seine Bedeutung entschlüsseln. Oder liegt der Hinweis im Inneren des Kästchens verborgen? Ich taste den Samt überzogenen Boden ab und suche nach einer weiteren Klappe, doch an keiner Stelle lässt sich etwas anheben oder lösen, um an ein Versteck zu gelangen.
Die Melodie verstummt und wie von Geisterhand erstarrt auch die Tänzerin. Eine eisige Stille erfasst das Zimmer und auf einmal erscheint mir selbst der Laut meines Atems wie die quälende Resonanz eines Bohrschlaghammers.
Von einem Mechanismus gesteuert, fährt die Balletttänzerin zur Seite. Dort, wo sie ihre Pirouetten zu drehen begonnen hatte, ist nun ein kleiner Spalt zu sehen. Und aus diesem ragt das kurze Ende eines Stückchen Papiers hervor. Ich versuche es mit den Fingern zu fassen zu kriegen und nach einer kleinen Ewigkeit, in der ich zusehends ungeduldiger werde und meine Nervosität drastisch ansteigt, gelingt es mir endlich, das Papier hervorzuziehen.
Ich stelle das Kästchen auf den Beistelltisch und entfalte den Zettel. Noch bevor ich lese, welche Botschaft darauf festgehalten ist, erkenne ich Penelopes Handschrift. Die Nachricht - der Hinweis - ist von ihr! Ich habe mir nicht eingebildet, sie zu sehen. Ihr Parfüm zu riechen. Ihre Bitte erhalten zu haben, sie zu finden.
Ich setze mich auf das Bett und nehme Wort für Wort regelrecht in mich auf.
Dort, wo die Zeit stillsteht,
Wo kein Tag und keine Nacht vergeht.
Dort, wo Helden fliegen,
wo die Verlorenen gegen Piraten siegen.
Wo die Kindheit für immer währt,
Dort, der Suchende die Antwort erfährt.
„Ein neues Rätsel", flüstere ich. Und in ihm ein Versprechen. Wenn ich es löse, werde ich die Antwort finden. Die Antwort, wo meine Schwester ist. Und was mit ihr geschah.