Читать книгу Die lebenden Schatten - Patrick Kruß - Страница 5
Prolog
ОглавлениеAls Kinder spielten wir ein Spiel. Vielleicht hat damit alles begonnen. Vielleicht verfolgt es mich deshalb.
Mein Vater ist Wissenschaftler und war über 15 Jahre in ständig wechselnden Projekten und Anstellungen tätig. Sein Fachgebiet ist die biologische Anthropologie und wenn er danach gefragt wird, entbrennt er in einem leidenschaftlichen Vortrag über die Bedeutung seiner zahlreichen Forschungsarbeiten.
Zu jener Zeit zogen wir regelmäßig um. Kaum hatten meine Schwester und ich uns an einem Ort eingelebt, mussten wir uns wieder auf ein neues Zuhause einstellen.
Zuhause. Die Bedeutung dieses Worts war mir, denke ich darüber nach, lange fremd.
Ich lebte in der ständigen Erwartung des Abschieds. Weshalb also sollte ich mich jedes Mal von Neuem darum bemühen, Freunde zu finden? Hatten andere Kinder in meinem Alter ihren festen Freundeskreis, ihren Verein, ihre Clique aus der Nachbarschaft oder einfach gesagt ihre Gefährten, so blieb mir letztlich nur eine Person neben meinen Eltern, auf die ich mich verlassen wollte. Meine Schwester Penelope. Sie ist - oder sollte ich sagen war? - drei Jahre älter als ich.
Ich weiß nicht, ob unsere Eltern es bemerkten, doch entwickelte ich eine Abneigung davor, mich Fremden gegenüber zu öffnen und Bindungen einzugehen. Bindungen, die ohnehin nicht lange hielten und so schnell zerbrachen, wie sie mühevoll geknüpft wurden. Erst als unser ständiges Umziehen endete und wir nicht länger wie Vagabunden lebten, fand ich langsam wieder Sicherheit in Beziehungen zu anderen Personen.
In jenen Jahren war meine Schwester alles für mich. Sie stellte meine beste Freundin dar. Meine Seelenverwandte. Musste ich mich gegenüber meinen Eltern erklären, so brauchte ich bei Penelope nicht viele Worte, damit sie mich verstand. Sie sah mir an der Nasenspitze an, wenn es mir nicht gut ging und durchschaute mich sofort, falls ich schwindelte. Sie kümmerte sich um mich, munterte mich auf, stellte mich zur Rede und überzeugte mich von dem Wert der Wahrheit. Und sie spendete mir Zuversicht an den Tagen unserer unzähligen Abschiede.
Kamen wir an einem neuen Ort an, erkundeten wir zu zweit die Umgebung. Wir fühlten uns wie Pioniere auf einer Expedition in unerforschtem Land. Und in unserer Vorstellung fanden sich auf den fremden Straßen der Nachbarschaft zahlreiche Abenteuer, die wir nur gemeinsam bestreiten konnten.
Unser Spiel war - wenn ich es gleich beim Namen nenne - nicht außergewöhnlich. Es war Verstecken. Doch mit den Regeln, die wir uns setzten, war es dennoch etwas Besonderes.
Nelo, so der Spitzname meiner Schwester, war eine Meisterin des Verschwindens. Sie hatte ein Auge dafür, ein Versteck zu wählen, in dem ich sie - und vermutlich auch jeder sonst - nur schwer finden konnte. Ob es im Gestrüpp des Gartens, zwischen den Kleidern eines Wandschranks oder hinter einem Stapel von Kisten auf dem Dachboden war - Nelo entdeckte stets einen Ort, um buchstäblich unsichtbar zu werden.
Es war ziemlich frustrierend, mich ständig geschlagen zu geben. Kam sie aus ihrem Versteck heraus, glaubte ich nur zu oft, mir fielen regelrecht Schuppen von den Augen. Wütend auf mich selbst, stimmte sie mich mit ihrem gütigen Lachen wieder milde und motivierte mich dazu, nicht aufzugeben.
Wie viele Male hatte ich versucht, Nelo zu finden? Manchmal mischte sich meine Mutter ein, aber auch sie musste erst unser Spiel offiziell für beendet erklären, damit Penelope ihr Versteck verließ.
Genau vier Wochen nach meinem neunten Geburtstag verriet meine Schwester mir plötzlich ihre spannende Idee. Um mir eine höhere Chance für einen Sieg zu ermöglichen, werde sie mir Hinweise hinterlassen. Kleine Anhaltspunkte, die ich deuten müsse und die - falls ich sie entschlüssele - mich letztlich zu ihrem Versteck führen werden.
„Was meinst du, wollen wir es versuchen?", fragte sie mich erwartungsvoll.
Ich ließ mich überzeugen und so entstand unser Spiel.
„Schließ deine Augen und zähle langsam bis zwanzig."
Ich folgte ihrer Anweisung, doch kaum hatte ich die erste Zahl ausgesprochen, spürte ich ihren warmen Atem an meinem Ohr. Ich lauschte ihrem Flüstern erwartungsvoll.
Der Klang ihrer Stimme hat sich für immer in meiner Erinnerung eingeprägt. Die Worte, die sie in diesem Moment wählte, hallen noch heute in mir nach.
„Finde mich, Gregor. Finde mich."