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Kapitel 5: Gregor

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Irritiert blieb ich vor unserer Haustür stehen. Ich sah zur Straße und mein Blick folgte ihrem Lauf, - erst in die eine, dann in die andere Richtung - bis der Asphalt aus meiner Sicht verschwand. Ich ging wenige Schritte in den Vorgarten und überlegte dabei angestrengt, was der nächste Hinweis sein mochte, den mir Penelope hinterlassen hatte.

Genauso gut, wie ich einen Anhaltspunkt entdecken konnte, war es ein Leichtes, ihn zu übersehen oder einer falschen Spur zu folgen und dabei gänzlich vom Weg abzukommen.

Ich schaute auf den Boden und musterte meine Gummistiefel.

Penelope muss sie aus einem bestimmten Grund angezogen haben, schoss es mir durch den Kopf. Während ich darüber nachdachte, sah ich den Kater unserer Nachbarn vorbeihuschen. Grau getigert und wohlgenährt schien er eine Beute zu verfolgen und verschwand hinter einer Reihe von Hecken auf dem Weg zu unserem Garten.

Der Garten! Auf einmal beschlich mich eine erste Vermutung. Penelope ist irgendwo hin, wo der Boden für alle anderen Schuhe zu dreckig ist.

An unseren Garten grenzte ein großes, unbebautes Grundstück an, auf dem die Eigentümer - zwei Brüder, die ein äußerst niedriges Ansehen in der Gegend genossen - jede Menge Schrott abgeladen hatten. Es war verwildert und nach dem starken Regen der letzten Wochen vermutlich eine einzige Schlammpfütze. Ich umrundete unser Haus, öffnete das kleine Gatter zum Garten und sah hinüber zu dem Grundstück. Langsam ging ich auf den Zaun zu, der die Grenze zwischen meinem derzeitigen Zuhause und der Wildnis aus Paletten, Metallteilen, Fässern und Holzstapeln trennte.

Im feuchten Gras entdeckte ich den frischen Abdruck eines Schuhs - der nächste Hinweis, den Penelope mir absichtlich hinterlassen hatte!

Nervös schaute ich hinüber zu meinem Ziel; ein Ort zahlreicher Möglichkeiten für ein gutes Versteck. Beobachtete mich Penelope bereits? Wie nah war ich ihr?

Während ich einige Gläser aus der Spülmaschine räume und in dem breiten, offenen Regalfach unterhalb des Tresens verstaue, sieht mich Leo, das Kinn mit der Innenseite seiner rechten Hand stützend, von seinem Barhocker aus fragend an.

Gerade habe ich ihm die Ereignisse der Erinnerungsfeier an Nelo berichtet - allerdings nur den Teil, der mich nicht wie einen Wahnsinnigen wirken lässt. Obwohl ich Leo vertrauen kann und ich daran keinen Zweifel haben sollte, möchte ich nicht, dass er auch nur die Vermutung hegt, ich könnte langsam den Verstand verlieren. Also verschweige ich den Schatten am früheren Zimmerfenster meiner Schwester und den Duft ihres Parfüms, den ich plötzlich wahrgenommen hatte. Stattdessen weiß er nun über Sebastians Provokation, das Verhalten meiner Eltern sowie meiner Nacht mit Sophie und deren fürchterlichen Ende Bescheid.

„Ich denke, du solltest das Gespräch mit Sophie suchen. Sie weiß sicherlich, was für ein aufwühlender Abend das für dich war und natürlich auch, wie viel ihr beide getrunken habt", versucht Leo mir zu dem kleinsten meiner Probleme zunächst einen Lösungsvorschlag zu geben.

„Das habe ich vor", bestätige ich ihm. „Auf keinen Fall möchte ich als der Idiot gelten, mit dem ich mich ihr gegenüber präsentiert habe. Sie hat das nicht verdient. Sophie ist ein nettes Mädchen."

„Also wirst du dich nicht mehr mit verabreden?", prüft Leo, ob ich weiteres Interesse an ihr hege.

„Dafür habe ich keinen Kopf", wehre ich seine Frage gleich ab. „So wie ich mich gerade fühle, bin ich für keine Frau ein beziehungstauglicher Partner."

„Es muss ja nicht gleich die große Liebe sein. Aber vielleicht bringt sie dich auf andere Gedanken."

„Lassen wir das", möchte ich das Thema beenden. Ich weiß, dass es Leo nur gut meint, aber da meine Gedanken ausschließlich um den Schatten und die wahnsinnige Frage, ob Penelope möglicherweise zurückgekehrt ist, kreisen, kann ich unmöglich über eine gemeinsame Zukunft mit Sophie sinnieren. Um ehrlich zu sein, ist es mir gleich, ob ich damit eine Chance, glücklich zu werden, verpasse.

„Wirst du deinen Eltern erklären, warum du so wütend auf Sebastian bist? Ich denke, sie werden ihn - wenn sie es wissen - nicht noch einmal einladen."

„Oh doch, denn ihnen ist es vollkommen egal, wie ich mich fühle. Ihr Fokus ist darauf ausgerichtet allen zu beweisen, dass sie trotz Penelopes Verschwinden ihr Leben fortsetzen. Und da ich meine Schwester nicht aufgebe, ist mein Verhalten der Kratzer im Lack ihrer Bemühungen. Ihnen wäre es recht, wenn ich mich endlich ihrer Haltung anschließen würde. Aber den Gefallen tue ich ihnen nicht."

Leo atmet tief durch. An seinem Gesichtsausdruck kann ich die Befürchtung ablesen, ich verrenne mich in meinen Wunsch, Penelope zu finden. Oder sie vielleicht vor ihrem Schicksal zu retten. Vielleicht hält er die Haltung meiner Eltern tatsächlich für die einzige Chance auf eine unbeschwerte Zukunft?

„Wann wirst du mit Dr. Brunner über die Feier sprechen?"

„Ich habe nächste Woche wieder einen Termin bei ihr", antworte ich und verräume die restliche Gläser. Noch bin ich mir nicht sicher, was ich erzählen werde, nun da auch Leos Blick seine Sorgen verraten. Dr. Brunner sprach davon, dass ich Fortschritte erzielt habe. Alle Ereignisse der Gedenkfeier in der Therapie darzulegen, wird verdeutlichen, wie weit ich von dem Ziel einer emotionalen Stabilität entfernt bin. Seltsam, dass mein persönlicher Ehrgeiz mir plötzlich im Weg steht. Vielleicht, weil ich glaube, wenn mich Dr. Brunner nicht für verrückt hält, ich es auch tatsächlich nicht bin.

„Ich komme schon damit klar", ergänze ich. „Meine Eltern sind längst nicht mehr die Personen, auf deren Meinung ich besonders wert lege. Penelope war das Bindeglied zwischen uns, aber im Grunde bin ich weit davon entfernt, in ihr elitäres Leben zu passen."

Nachdem ich eine Bestellung vorbereitet habe, wechseln wir das Thema und ich erkundige mich nach dem Stand der Hochzeitsvorbereitungen. Leo berichtet mir, dass der favorisierte DJ abgesprungen ist und Ayleen und er nun nach einer Alternative suchen müssen. Glücklicherweise vertreibt dies die trüben Gedanken zwischen uns. Als sich Leo in das Bürozimmer der Standpauke verabschiedet, widme ich mich wieder meiner Arbeit am Tresen. Die Zahl der Gäste steigt gegen den Feierabend stets an und viele treffen sich auf ein Getränk und einen Snack mit ihren Freunden.

In der letzen Stunde meiner Schicht schaut Emma überraschend vorbei.

„Hey Gregor", begrüßt sie mich und setzt sich auf einen Hocker an der Theke. Sie hat ihre braunen Haare zu einem Zopf gebunden und trägt ein dunkelgrünes Strickkleid, das ihr ohne Zweifel sehr gut steht.

„Wir haben uns bei der Feier aus den Augen verloren", gibt sie zu. „Als du weg warst…", setzt Emma zögerlich fort.

„Schon ok", ermutige ich sie, frage mich aber gleichzeitig, ob Sophie ihr bereits berichtet hat, was zwischen uns geschehen ist.

„Sebastian hat mir von eurem Streit erzählt. Er dachte wirklich, ich falle auf seine Variante der Geschichte herein. Aber da ich ihn kenne, weiß ich, dass du zu Unrecht… na ja… gehen musstest."

„Er hat bei meinen Eltern einen riesigen Stein im Brett", stimme ich ihr zu. „Vermutlich verkörpert er den Sohn, den sie sich wünschen."

Emma schenkt mir einen sanften, aufmunternden Blick und berührt vorsichtig meine rechten Arm. „Gregor, sei nicht so streng mit dir. Auch wenn deine Eltern es nicht zugeben wollen, aber Penelopes Verschwinden ist für sie nach wie vor nicht leicht. Ihr Verhalten muss nicht rational sein. Vielleicht ist es die einzige Weise, die ihnen hilft, mit dem Geschehenen zu leben."

„Sie sind nicht dazu bereit, sich ihrem wahren Empfinden zu stellen. Stattdessen waren sie heilfroh zu hören, dass ich eine Therapie begonnen habe, so als würde mir das nach ein paar Wochen die Bereitschaft schenken, mich ihrem Verhalten anzuschließen."

„Ich drücke euch die Daumen, dass ihr einen Weg zueinander findet. Was Sebastian angeht…wenn du jemanden suchst, der dir hilft, seinen Sportwagen mit faulen Eiern zu beschmeißen, sag mir Bescheid. Ich bin definitiv in deinem Team."

Zum ersten Mal an diesem Tag muss ich lachen und versichere Emma, dass ich mir ihre Idee durch den Kopf gehen lassen werden.

Kurz nachdem Emma sich verabschiedet hat, endet meine Schicht. Ich wechsle mit Leo noch ein paar Worte, während er gerade die Dienstpläne des kommenden Monats erstellt, dann mache ich mich mit der Straßenbahn auf den Nachhauseweg. Während der Fahrt überlege ich, eine Nachricht an Sophie zu senden, in der ich mich entschuldige und sie um ein Gespräch bitte. Aber jeder Satz, den ich formuliere, wirkt unsensibel oder zu emotional, um damit das auszudrücken, was ich eigentlich möchte.

Als ich meine Wohnung erreiche, springe ich unter die Dusche und drehe die Temperatur des Wassers so weit nach oben, dass ich kurz davor bin, mich an der Hitze zu verbrühen. Und doch kann ich unter dem Strom dampfenden Wassers, der auf mich niederschießt, etwas entspannen.

Ich trockne meine gerötete Haut ab und fahre mit dem Rücken meiner rechten Hand über den beschlagenen Badezimmerspiegel. Vorsichtig betrachte ich das Gesicht, das mich anstarrt und schlagartig muss ich an die Brutalität denken, die in mir während meiner Nacht mit Sophie erwacht ist. Ich überlege, ob diese Seite die einzige Veränderung ist, die das Verschwinden meiner Schwester in mir bewirkt hat. Auch wenn ich Sebastian noch nie leiden konnte, so hatte ich bisher nicht in Erwägung gezogen, ihn ernsthaft körperlich zu verletzen. Ich war noch nie in einer Prügelei verwickelt oder habe jemanden angegriffen, selbst zu meiner Schulzeit, als ich zum erklärten Opfer von vier anderen Schülern wurde. Und plötzlich scheint in Gewalt die einzige Option zu liegen, die ich habe, um mich gegen Sebastians Provokationen zu wehren.

Das Knurren meines Magens schreckt mich aus meinen Gedanken. Ich ziehe mir eine Jogginghose und einen Hoodie an, nehme aus dem Gefrierfach eine Tiefkühlpizza heraus und schiebe sie in den Ofen.

Mit meinem Smartphone versuche ich erneut an einer Nachricht für Sophie zu feilen, gebe mich jedoch abermals geschlagen. Aus einem Impuls heraus öffne ich die Galerie und schaue mir das letzte Photo an, das Penelope mir vor ihrem Verschwinden zugesandt hatte.

Bilder ihres Zimmers blitzen in meinen Gedanken auf und treiben mir den Duft ihres Parfüms zurück in meine Nase. Noch immer möchte ich nicht glauben, mir den rätselhaften Einbrecher, die Spuren im Badezimmer und auch das Parfüm eingebildet zu haben. Doch genauso höre ich in mir die Warnung davor zu hoffen, ein Lebenszeichen von Penelope erhalten zu haben.

Durch das Fenster in der Küche sehe ich hinab auf den Innenhof des Mietshauses. Er wird nur durch den Schein der angrenzenden Straßenlaternen beleuchtet. In dem Halbdunkel vor der Eingangstür versuche ich eine Antwort zu suchen, wie ich das Rätsel um den Schatten lösen kann und ob es jemanden gibt, der mir helfen würde. Der Duft der Pizza breitet sich aus und ich schaue kurz hinüber zum Backofen. Als mein Blick abermals zum Innenhof wandert, durchfährt mich ein eisiger Schauer. Wie paralysiert beobachte ich die unwirkliche Szene.

„Das kann doch nicht sein…", entweichen meiner Kehle heißere Worte.

Vor der Eingangstür steht plötzlich eine Frau. Ihr Gesicht zur Hauswand gedreht, sehe ich nur ihre langen blonden Haare, die unter einer dunklen Mütze hervorschauen und über den ebenso schwarzen Mantel fallen, in dessen Taschen sie ihre Hände verborgen hält.

„Penelope?"

Aus der linken Tasche zieht die Frau einen Umschlag hervor und lässt ihn in einem der Briefkästen verschwinden. Ruckartig befreie ich mich aus meiner Starre und jage das Treppenhaus hinab. Ich muss herausfinden, ob die Frau im Innenhof meine Schwester ist. Völlig außer Atem komme ich unten an und reiße die Tür auf.

„Sie ist fort", spreche ich laut meine Enttäuschung aus.

Ich schaue mich im Innenhof um und renne vor zur Straße, doch ist die blonde Frau wie vom Erdboden verschluckt.

Der Briefkasten! Sie hat etwas in einen der Briefkästen geschoben. Ich eile zurück nach oben, nehme den passenden Schlüssel an mich und renne die Treppenstufen erneut nach unten. Schweiß strömt über meine Stirn und am Nacken hinab unter den Stoff meines Hoodies und ich atme angestrengt in kurzen Schüben ein und aus. Zitternd drehe ich den Schlüssel um und schaue in die in der Wand eingelassene metallene Box.

In meinem Briefkasten befindet sich ein Umschlag.

Ich spüre, wie mir schwindelig wird und obwohl ich regelrecht danach giere zu erfahren, was für eine Nachricht mir die blonde Frau - ja vielleicht meine Schwester - hinterlassen hat, bin ich unfähig, den Brief herauszunehmen.

„Reiß dich zusammen", fordere ich mich selbst auf und endlich nehme ich den Umschlag an mich. Ich ziehe das kleine Blatt Papier heraus und entfalte es. Meine Augen weiten sich, unfähig zu begreifen, was sie sehen.

Jedes einzelne Wort durchfährt meinen Körper wie ein Stromschlag.

Finde mich, Gregor.

P.

Die lebenden Schatten

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