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Ohne deine Vergangenheit bist du plötzlich frei

Gastkapitel von Hanna Frey

Mein Schicksal, Karma oder der Zufall wollte es, dass ich in eine sogenannte asoziale Familie geboren wurde. Ich hatte fünf ältere Geschwister, mein Vater war Alkoholiker. Er soff den ganzen Tag, bis er am Abend in den Eimer kotzte, der dann über Nacht stehen blieb, weil niemand ihn wegräumte. Meine Mutter bevorzugte es, ihr Leben mit vielen statt nur einem Mann zu verbringen. Zudem war sie tablettensüchtig und schluckte alles, was sie an Schlafmitteln zur Verfügung hatte.

Zu Hause herrschte das absolute Chaos. Die Wohnung glich einer Müllhalde. Überall war Dreck, Unordnung und Gestank, es roch nach Bier und Urin, da einer meiner Brüder dem psychischen Druck zu Hause nicht standhielt und jede Nacht in sein Bett pinkelte. Statt dass jemand die Bettwäsche wechselte oder die Matratze tauschte, wurde er dafür in der Früh von meinen Eltern geschlagen. Ein schier unerträglicher Kreislauf.

Unser Alltag wurde bestimmt von Gebrüll, Geschrei, Gewalt und sexuellem Missbrauch, der auch vor mir nicht haltgemacht hat. Ich weiß noch, wie ich mit meinen vielleicht 4 oder 5 Jahren angefasst wurde und anfassen musste. Wann immer mein Vater durch seinen Alkoholismus im Krankenhaus landete, feierte meine Mutter in unserem Beisein Sexorgien. Das war mein Zuhause.

Irgendwann schaltete sich das Jugendamt ein und ich wurde mit 6 Jahren in ein Kinderheim gebracht. Die folgenden zwei Jahre im Heim erlebte ich als sehr schön und friedlich, als wollte mir das Leben eine Pause gönnen. Ich glaube heute, es waren die zwei besten Jahre meiner Kindheit und Jugend. Ich hatte plötzlich ein eigenes Bett, saubere Wäsche, genug zu essen und da war niemand mehr, der mir zwischen die Beine fasste, brüllte, mich schlug oder soff. Zu einer meiner Erzieherinnen entwickelte sich damals sogar eine Art Mutter-Tochter-Beziehung. Ich bekam so viel Liebe und Zuneigung, dass es mich für lange Zeit trug.

Dann aber schlug das Schicksal erneut zu und ich wurde gegen meinen Willen in eine Pflegefamilie vermittelt. Meiner geliebten Erzieherin musste ich »Adieu« sagen. Man sagte mir, ich dürfe sie jederzeit besuchen, doch es war eine Lüge, um mir den Abschied zu erleichtern. Ich habe sie nie wieder gesehen.

Es folgten neun verdammt lange Jahre, in denen ich mehr und mehr zerbrach. In den ersten beiden Jahren bekam ich noch Zuwendung, ich konnte mich anpassen und das Neue annehmen. Doch dann starb meine leibliche Mutter und mein Vater resozialisierte sich entgegen aller Erwartungen. Für mich hatte das vor allem zur Folge, dass er mich nicht zur Adoption freigab. Meine Pflegeeltern hatten jedoch auf ein Adoptivkind spekuliert. Von diesem Tag an änderte sich mein Leben erneut. Ich war in meiner Pflegefamilie fortan nicht mehr erwünscht, sondern nur noch geduldet. Das ließ man mich täglich spüren. Ich wurde zum schwarzen Schaf der Familie und alles, was schiefging, war meine Schuld.

Je mehr ich versuchte, es jedem recht zu machen, um einfach nur ein wenig Zuneigung und Wärme zu erfahren, desto mehr zerbrach ich innerlich. »Wo gehöre ich eigentlich hin? Zu wem gehöre ich? Wer will mich? Wo darf ich sein, warum muss ich hier sein?« Fragen, die mich quälten und im Laufe der Zeit in zwei Selbstmordversuche trieben. Nachdem ich dem Jugendamt mit einem weiteren Selbstmord drohte, endete das Martyrium nach neun Jahren innerhalb eines Vormittages mit meinem Auszug. Innerhalb von zwei Stunden brachte man mich in eine andere Pflegefamilie. Wieder ein Abschied für immer und dieses Mal war ich mehr als froh darüber. Für mich war es ein Sprung in die Freiheit.

In der neuen Pflegefamilie war ich herzlich willkommen, mehr noch aber das Pflegegeld, welches man für mich bekam. Mehr gibt’s eigentlich auch über die nun folgenden zwei Jahre nicht zu erwähnen. Ich merkte schnell, dass ich hier der »Goldesel« war. Als ich in dieser Zeit laut darüber nachdachte, auszuziehen, war ich auch hier nicht mehr erwünscht und man wartete nur noch darauf, mich endlich los zu sein. Alsbald ging ich. Ich ging gerne und auch hier für immer. So brachte mich mein Schicksal mit 19 Jahren in die Freiheit und in mein eigenes selbstbestimmtes Leben.

Bald darauf wurde ich Mutter. Mir wurde bewusst, wie wichtig es ist, Kindern Liebe und Zuneigung zu schenken. Nichts war mir seitdem wichtiger als das. Es fiel mir trotz der eigenen Erfahrungen sehr leicht. Meine Erfahrungen als Mutter haben mich dazu gebracht, anzufangen, meine Geschichte aufzuarbeiten. Ich begann, Fragen zu stellen, versuchte, Antworten zu finden, und entwickelte dabei immer mehr Verständnis für viele Situationen. Am Ende lernte ich, zu verzeihen. Das ging natürlich nicht von heute auf morgen, sondern war ein langer Prozess. Es bedeutete für mich eine ständige Konfrontation mit dem Erlebten. Irgendwann gelang es mir jedoch, und ich spürte keine Traurigkeit oder Wut mehr. Nach vielen Jahren kam ich an den Punkt, wo ich eine sehr bewusste Entscheidung traf:

Ich besorgte mir eine kleine Pappschachtel und schrieb Zettel. Einzelne Wörter wie: Gewalt, Missbrauch, Ekel, Traurigkeit, Zerrissenheit, Ablehnung, Hass … all die Emotionen und Erfahrungen meiner Kindheit und Jugend schrieb ich auf diese kleinen Zettel. Dann fuhr ich in den Wald, suchte eine Stelle unter einem Baum aus und begrub dort diesen Karton und in ihm die Erfahrungen meiner Kindheit und Jugend. Ich hielt eine kurze Minute inne … und ließ dann dieses Grab und damit die Gefühle und Emotionen längst vergangener Tage hinter mir zurück. Wieder ein Abschied für immer, und dieses Mal ein sehr bewusster! Ich wollte kein Opfer mehr sein, sondern künftig glücklich und befreit leben!

So bin ich heute ein glücklicher Mensch. Ich habe eine riesige Freude am Leben und allem, was damit zusammenhängt. Ich hatte nie wieder das Bedürfnis, das Grab der alten Verletzungen und Gefühle zu besuchen. Ich wollte nie wieder in die Opferrolle zurück. Nein, seit diesem Tag trage ich die volle Verantwortung für mich und mein Leben!

Eine Weile später besorgte ich mir jedoch eine neue Pappschachtel. In diese lege ich Kärtchen, auf denen ich gute Erfahrungen dokumentiere. Spaß und Freude mit meinen Kindern, Dankbarkeit für meinen Mann und meine Familie, all das ist es wert, festgehalten zu werden. Aus dieser Schachtel kann ich Kraft schöpfen und sie gibt mir Antrieb. Ich bat meine Kinder unlängst, mir diese Schachtel mit ins Grab zu legen, wenn ich eines Tages von dieser Welt Abschied nehmen muss. Mein Ziel ist, dass auf der letzten Karte, die ich in diese Schachtel lege, steht: »Alles hatte einen Sinn und was für eine geile Zeit.«

Ein Video von Hanna und ihrer bewegenden Geschichte findest du unter

www.die-runde-ecke.com.


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