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Kein Krieg wegen Lüderitz

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Die politischen Aufwallungen waren enorm – in Casablanca wie in der Presse im Reich wie in Frankreich. Und Lüderitz saß, wie sich bald zeigen sollte, zwischen den Stühlen. Er hatte die eigenmächtige Privataktion von Sievers nicht nur gedeckt, sondern aktiv daran mitgewirkt. Zum politischen und völkerrechtlichen Problem für Lüderitz wurde, dass er einen Passierschein unterschrieben hatte, der den Franzosen in die Hände gefallen war. Dieser war für sechs Personen ausgestellt, obwohl sich nur drei Deutsche unter den Deserteuren befanden. Wider besseres Wissen ließ sich Lüderitz von dem politischen Anführer der Casablanca-Deutschen, Carl Ficke, der von der Aktion selbst wenig gehalten hatte, zu der Behauptung überreden, es habe sich unter den sechs „nicht ein einziger Nicht-Deutscher“ befunden.

Lüderitz, der zugeben musste, die Deserteure in ihrem Versteck besucht zu haben, wurde von seinem Konsulatssekretär so weit entlastet, als dieser eingestand, die ursprüngliche Zahl von drei auf sechs eigenmächtig erhöht und die Worte „deutscher Nationalität“ gestrichen zu haben, was Lüderitz bei der Unterschrift übersehen habe. Das mochte dem Eindruck der Briten und Franzosen entsprochen haben, die Lüderitz ein „relativ moderates“ und freundliches Verhalten attestierten, wohingegen sein Sekretär Just ein „sehr aktives Mitglied“ der anti-französischen Gruppierung in Casablanca gewesen sei.

Die Erregung der jeweiligen nationalen Presse war so enorm, dass in Frankreich wie in Großbritannien die Befürchtung geäußert wurde, es könne zum Krieg kommen. In der Tat hatte sich die Reichsregierung auf den „Ehrenstandpunkt“ gestellt, dass die „Gewalttätigkeit“ gegen einen Konsularbeamten nicht hingenommen werden könne. Die Öffentlichkeit werde diese Verletzung der „nationalen Ehre“ nicht akzeptieren. Diese Haltung änderte sich schlagartig, als der französische Untersuchungsbericht in Berlin vorlag. Der Kaiser hatte ohnehin ein Einlenken verlangt.

Jetzt verständigten sich beide Regierungen, das Schiedsgericht in Den Haag anzurufen. Das fällte am 22. Mai 1909 sein Urteil: Lüderitz hätte den Passierschein nicht für sechs Deserteure ausstellen dürfen; er habe aber einen „unbeabsichtigten Fehler“ gemacht, als er ihn unterschrieb, „ohne ihn zu lesen“, wie er in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hatte. Im Übrigen lautete das salomonische Urteil, die Deserteure hätten dem Konsulatssekretär nicht gewaltsam entrissen werden dürfen, Frankreich müsse diese aber nicht zurückgeben.

Der Gesandte von Wangenheim, der während der Legionärsaffäre in Tanger war, sagte in dem Zusammenhang, Hermann sei ein „außerordentlich tüchtiger und zuverlässiger Beamter“, habe aber den Fehler gemacht, den Passierschein zu unterschreiben. Wangenheim war der Überzeugung, „daß aus Marokko schließlich doch der Krieg kommen [müsse]“. Aber der Casa­blanca-Zwischenfall sei dafür nicht geeignet. „Wir haben darin nicht ganz reine Papiere durch die Dummheit des Konsuls, der aus lauter Vorsicht alles verdorben hat“ (10). Also: kein Weltkrieg wegen Lüderitz. Durch seine Dummheit.

Die Affäre endete, ohne dass die Öffentlichkeit davon Notiz genommen hätte. Die „Zweite Marokkokrise“ fand erst einmal nicht statt. Da die Konflikte zwischen den Großmächten jedoch fortbestanden, kam es letztendlich 1911 doch zur Zweiten Marokkokrise (1), allerdings ohne Beteiligung von Konsul Lüderitz.

Die Familie Lüderitz

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