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Die Reise in die Unterwelt
ОглавлениеMach dir keine Illusionen. Es braucht Mut, um die Reise nach innen zu beschreiten.
In Phase zwei sind wir gefordert, unsere Mutter- und Vaterwunden anzuschauen und durch die Angst und die Schamgefühle, die damit verbunden sind, zu gehen. Wir sind gefordert hinzusehen, wo unsere Muster des Selbstbetrugs in der Kindheit begannen und auf welche Weise sie sich im Erwachsenenleben fortgesetzt haben, wo sie die Entscheidungen in Bezug auf unsere Arbeit und unsere Beziehungen beeinflussen.
Wir sind gefordert, die gesamte Konstruktion unseres Lebens zu betrachten: wie wir unsere Macht abgegeben und anderen erlaubt haben, Entscheidungen für uns zu treffen, oder wie wir uns als Aufseher oder Kontrollfreak gezeigt haben, indem wir anderen ihre Macht entzogen und unangemessenerweise für sie Entscheidungen trafen.
Wir sind gefordert, den ganzen generationsübergreifenden Kreislauf des Missbrauchs zu erkennen, zu verstehen, wie Opfer zu Tätern werden und wie wir zu Mutter oder Vater werden und die Verletzungen, die wir von ihnen empfangen haben, an unsere Kinder weitergeben.
Was wir da zu sehen bekommen, ist nicht gerade angenehm oder hübsch anzuschauen. Das ist der Grund, warum die meisten Menschen sich nicht auf diese Reise begeben, oder wenn doch, treten sie wieder den Rückweg an, bevor sie das Licht am Ende des Tunnels sehen.
Es braucht viel Mut, deine Kernwunde zu fühlen und zu transformieren. Als Kind warst du dazu nicht in der Lage. Es war zu beängstigend und übermächtig. Du hattest nicht die Ich-Stärke oder das Selbstbewusstsein, um dem ins Auge zu sehen. Du hattest die Unterstützung anderer nicht. Es war eine einsame Zeit, und du hast getan, was wir alle tun: Du hast sie verdrängt, verleugnet, versteckt, begraben: aus den Augen, aus dem Sinn. Das ist in Ordnung. Was hättest du sonst tun sollen?
Obwohl du sie eine Zeit lang los warst, kommen sie zwangsläufig wieder. Deine Verletzungen und die Muster des Selbstbetrugs kommen in jeder engen Beziehung, die du eingehst, erneut hoch.
Deine Kinder, deine Eltern, deine Geschwister und deine Mitarbeiter, selbst Fremde, denen du begegnest, bringen dich auf die Palme. Du wirst getriggert, wenn du es am wenigsten erwartest. Trotz deines Versuchs, deine Gefühle hinter deiner Maske zu verbergen, kann Wut (bis zur Raserei) hervorbrechen. Oder du lässt es vielleicht zu, dass du emotional oder physisch missbraucht wirst. All das ereignet sich in deinem Leben oder im Leben eines Menschen, der dir nahesteht. Das ist die Normalität. Trotzdem will niemand darüber reden.
Es gibt da offensichtlich ein Komplott des Schweigens. Niemand will sich damit auseinandersetzen. Und dann wundern sich die Menschen, warum jemand losgeht, ein Maschinengewehr kauft und zehn Menschen am Arbeitsplatz oder in der Schule erschießt oder seinen Ehepartner oder seine Kinder umbringt. Das sind schreckliche Ereignisse. Wenn man sich darum nicht kümmert, wenn man sich dem nicht stellt und es heilt, fördert das den Zyklus der Gewalt.
Gewalt beginnt in unseren Herzen und in unserem Geist. Sie dehnt sich auf unsere Familien und Gemeinschaften aus. Sie führt zu Krieg und Völkermord. Sie durchdringt das kollektive Bewusstsein. Die Menschen möchten das töten, was sie nicht verstehen oder akzeptieren können. Sie möchten ihren Schatten in Gestalt der anderen zerstören. Sie dämonisieren einander, damit sie den Schmerz ihrer Überschreitungen nicht wahrnehmen müssen. Sie denken, sie töten dreckigen Abschaum oder Teufel, nicht andere Menschen. In Wahrheit aber töten sie ihre Mütter und Väter. Sie töten ihre eigenen Kinder. Sie bringen ihre Brüder und Schwestern um. All das nur deshalb, weil sie sich selbst hassen. All das geschieht, weil sie nicht in der Lage waren, ihrem eigenen Schatten mit Mitgefühl zu begegnen. Nur weil sie nie gelernt haben, ihrem verwundeten Inneren Kind Liebe ent-gegenzubringen.