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Das Letzte, was ich sah, als wir von zu Hause fortfuhren, waren viele an die unteren Zweige unserer Bäume gebundene rote Bänder, die schlaff im Morgentau hingen. Es war die Stunde nach der Morgendämmerung. Alles wirkte in dem warmen, schwachen Licht pelziggrau, bis auf diese Bänder. Die Wilden hatten sie in der vergangenen Nacht angebunden. Wir hatten am Abendbrottisch gesessen und Stimmen und das Rascheln im hohen Gras gehört. Vater sagte: »Hallo«, und ging zur Tür. Als er das Außenlicht anknipste, sah ich mehr als ein Dutzend dunkle Gesichter, die sich auf dem Vorplatz versammelt hatten. Ich dachte: Sie sind seinetwegen gekommen – sie werden ihn fortschleppen.

»Es sind die Männer, Mutter.« Er sagte nicht: die Wilden.

Sie sagte: »Haben sich den richtigen Zeitpunkt ausgesucht.«

Vater wandte sich ihnen zu und winkte sie herein.

Der Erste war groß und, wie sich herausstellte, der Schwärzeste von allen; er schlich grinsend herein, in der Hand eine Machete. Ich dachte: O Gott. Er trug sie beiläufig, wie einen Schraubenschlüssel; wenn es ihm in den Sinn gekommen wäre, hätte er sie hochnehmen und Vater in zwei Hälften zerhacken können. Die anderen folgten ihm mit Katzenpfotenschritten, obwohl sie gewaltige Schuhe trugen. Bekleidet waren sie mit weißen Hemden, mit noch weißeren, aufgenähten Flicken, aber sehr sauber und gestärkt. Sie murmelten und lachten und füllten das Zimmer mit dem Hundegestank, den ich von ihrem eigenen Haus her kannte, mit dem Geruch von Schweiß und Mäusedreck und Heizöl. Die Zwillinge und Jerry glotzten sie an – sie fürchteten sich, und Jerry hätte bei dem Geruch fast sein Abendessen wieder ausgespuckt.

Aber auch die Männer, selbst der mit der Machete, schauten etwas verängstigt drein. Ihre Gesichter waren verschrammte, schiefe Masken, ihr Haar so schmierig schwarz wie der Schwanz einer Bisamratte, oder es stand büschelweise in steifem Gekräusel ab wie die aufgeplatzte Polsterung eines Stuhlkissens. Die meisten waren dunkle, hakennasige Indianer, der Rest Schwarze oder fast schwarz, mit langen, baumelnden Händen. Manche Gesichter waren so schwarz, dass ich weder Nasen noch Wangen erkennen konnte. Sie schauten uns an, schauten sich im Zimmer um, als wären sie nie zuvor in einem richtigen Haus gewesen und müssten sich erst klar darüber werden, ob sie alles auseinandernehmen oder niederknien und losheulen sollten. Ihr Schweigen, die ganze Verwirrung, dampfte wie stille Wut im Zimmer.

Vater klopfte dem großen Mann auf die Schulter und sagte: »Na, was wollt ihr Störenfriede denn?«

Die Männer lachten wie Kinder, und jetzt erkannte ich, dass sie gehorsam zu Vater aufsahen. Ihre Gesichter leuchteten vor Bewunderung und Dankbarkeit. Als mir klar wurde, dass wir uns in Sicherheit befanden, kamen mir die Männer gleich weniger hässlich und hinterhältig vor.

»Das ist Mr Semper«, sagte Vater. Er benutzte den Händedruck, um den großen Mann nach vorn zu ziehen. »Er spricht perfekt Englisch, nicht wahr, Mr Semper?«

Mr Semper sagte: »Nein«, wieherte auf und warf Mutter einen hilflosen Blick zu.

Ich kannte Semper. Sein Gesicht hatte ich um Mitternacht auf den Feldern gesehen. Er hatte die Vogelscheuche getragen. Jetzt bemerkte ich eine blasse Narbe in der Nähe seines Mundes, wie das Gekritzel einer Unterschrift. Ich war froh, dass ich die Narbe in jener Nacht nicht gesehen hatte.

»Schau mal, ob du ein paar Bier entdeckst, Mutter. Die Herren sind durstig.«

Bald hatte jeder seine Flasche Bier in der Hand. Mr Semper reckte seinen Kiefer vor und riss den Kronkorken mit seinen Backenzähnen von der Flasche. Die anderen machten es genauso und zogen sich die Kronkorken aus dem Mund. Die Augen auf Vater gerichtet, nahmen sie ab und zu einen scheuen Schluck.

»Was bringst du mir, Bruder?«, sagte Vater.

Die Machete auf der Handfläche balancierend, sagte Mr Semper: »Das.«

»Die ist aber wunderschön«, sagte Vater. Er strich mit dem Daumen über die Schneide. »Damit könnt ich mich rasieren.«

Mr Semper wechselte in das schnelle Geschnatter einer anderen Sprache.

Vater verstand ihn! Er wandte sich uns zu und sagte: »Sie danken uns für die Kühlmaschine. Hab ich es euch nicht gesagt? Sie sind zivilisiert! Seht ihr, echte Gentlemen.« Er sagte etwas zu den Männern in ihrer Sprache.

Mr Semper kreischte vor Lachen. Sein Zahnfleisch war wunderbar geformt, wie glattes Wachs schmiegte es sich um die Wurzeln seiner Zähne. Er beobachtete Vater mit schwimmenden, verhangenen Augen, und als Vater eine Schale mit Erdnüssen herumgehen ließ, nickte Mr Semper, seine Lippen öffneten sich, und er murmelte seinen Dank.

Das eigentlich Unglaubliche für mich war, dass sich diese Schar Männer überhaupt in unserem Haus befand. Seit Monaten hatte ich sie schweigend durch die Felder gehen sehen, zuerst pflanzend, dann, als Erntezeit war, vornübergebeugt den Spargel stechend. Ich war überzeugt, dass es dieselben Männer waren, die ich in jener Nacht fackeltragend bei der Vogelscheuchen-Zeremonie gesehen hatte. Die Männer waren mir wie Wilde vorgekommen, ihr Haus hatte mich mit seinem Gestank erschreckt, ihre Gesichter schienen verquollen und grausam. Und nun saßen sie hier, fünfzehn der merkwürdigsten Männer, die ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte. Doch aus der Nähe wirkten sie nicht wild. Sie schauten armselig und gehorsam aus. Die Flicken an ihren Hemden passten zu den Abschürfungen in ihren Gesichtern, ihre Hände waren von der Arbeit aufgesprungen, ihre Haare staubig. In ihren großen, kaputten Schuhen standen sie krumm da, ihre zerlumpten Hosen ließen sie – nicht gefährlich, wie ich erwartet hatte, sondern schwächlich und harmlos erscheinen.

Vater sagte: »Sie wollen euch kennenlernen.«

Er stellte uns vor, die Zwillinge, Jerry und mich, und wir schüttelten sämtliche Hände. Ihre Handflächen waren zerklüftet und feucht, ihre Haut war schuppig. Sie hatten gelbe Fingernägel. Ihre Hände waren wie Hühnerfüße, und meine eigene Hand roch hinterher danach.

»In weiser Voraussicht habe ich eine gute Landkarte gekauft«, sagte Vater, entfaltete sie und strich sie unter einer Lampe glatt. Die Männer drängten sich heran, um einen Blick darauf zu werfen. »Eine Karte ist genauso gut wie ein Buch – sogar noch besser, wirklich. Die hier hab ich seit Monaten studiert. Ich weiß alles, was ich wissen muss. Schaut euch an, wie leer die Mitte ist – keine Straßen, keine Städte oder Dörfer, keine Namen. So hat Amerika auch mal ausgesehen!«

»Viel Wasser da«, sagte Mr Semper und fuhr mit dem Zeigefinger die blauen Flüsse entlang.

Die Karte zeigte Land, wie eine Stirn geformt, eine hervorragende Küstenlinie mit leerem Landesinneren. Die blauen Adern der Flüsse, das Grün der Tiefebenen und das Orange der Berge – keine Namen, nur leuchtende Farben. Vaters Finger war bestens dafür geeignet, auf diese Karte zu deuten, während er sagte: »Das ist unser Ziel«, denn der stumpfe, abgefetzte Finger deutete auf nichts anderes als eine große Leere.

»Bist du sicher, dass du nicht mit uns kommen willst, Bruder?«

Mr Semper fletschte die Zähne, seine Nasenflügel blähten sich wie bei einem Pferd.

»Sie bleiben lieber hier und lassen alles über sich ergehen«, sagte Vater. »Ironie des Schicksals, nicht wahr? Wir machen so eine Art Platztausch – tauschen die Länder.«

Mr Semper lachte, klatschte in die Hände und sagte: »Sie gehn weit weg!«

Vater sah ihn grinsend an. »Ich bin der spurlos verschwindende Amerikaner.«

Schwarze Adern traten neben Mr Sempers Augen hervor, spannten die glänzende Haut, wie gefangene Würmer. Er kam an unsere Seite geschlurft und legte seine langen Arme um die Zwillinge, um Jerry und mich. »Dies Vater viel großer Mann. Er mein Vater, auch.« Mr Sempers Atem roch feucht nach verdauten Erdnüssen. »Wir seine Kinder.«

Es schien mir lächerlich, so etwas zu sagen, aber dann fiel mir ein, dass Vater diese Männer freundlich behandelt hatte, weil sie arm waren. Das war Mr Sempers Art, sich für die feuerbetriebene Eismaschine zu bedanken.

Die anderen Männer schwiegen. Vater lächelte ihnen zu und gestikulierte mit den Händen. Dann murmelte er etwas, wandte sich an Mutter und sagte: »Das ist Spanisch und heißt: ›Tu nichts, was ich nicht auch tun würde.‹«

»Da hast du deinen Bewegungsspielraum«, sagte Mutter.

Nachdem Mr Semper Vaters Finger umklammert und zum letzten Mal etwas in Vaters Gesicht gemurmelt hatte, raschelten sie durch das Gras davon, und Vater hob die Machete und ließ sie durch die Luft zischen wie ein Piratenentermesser.

»Allie, sei vorsichtig«, sagte Mutter.

»Ich brenne drauf loszuziehen!«

»Platztausch«, sagte sie. »Diese armen Männer.«

»Das ist alles, was sie zu tauschen haben – sie besitzen sonst nichts. So wird es uns auch ergehen. Ohne sie hätte ich nie daran gedacht. Sie haben mich erst auf die Idee gebracht.«

Draußen entstand Bewegung. Die Männer hatten unter den Bäumen angehalten.

»Aber es ist ein Schwindel«, sagte Vater. »Ich hab das Gefühl, ich überlass sie den Geiern.«

Die Bänder, die von den Männern an die Zweige gebunden worden waren, entdeckte ich erst am nächsten Morgen. Es waren billige rote Bänder, aber im grauen Morgenlicht wirkten sie kostbar und festlich und verliehen den Bäumen einen Hauch von Großartigkeit.

Bald konnte ich die Bänder und das Haus nicht mehr sehen. Unser Gehöft wurde kleiner und rutschte nach unten weg mitsamt den Bäumen. Dann war alles hinter der Krümmung der Straße verschwunden.

Wir fuhren an Polskis Haus vorbei, und ich dachte an das, was er mir erzählt hatte. Die Geschichte von Mooney verwirrte mich. Bedeutete das Ohrabbeißen, dass ihm klargeworden war, dass sein Vater ihn grausam behandelt hatte, oder bewies es lediglich, dass sich Kriminelle nicht ändern und selbst im Angesicht des Galgens noch bösartig und hinterhältig sind? Was Polski sonst gesagt hatte, dass Vater ein Besserwisser und gefährlich sei, konnte ich nicht weitergeben. Vater wusste, dass ich log. Aber wen versuchst du zu beschützen – ihn oder mich? Die Antwort lautete: weder noch. Ich versuchte, mich zu schützen.

Nichts davon spielte jetzt noch eine Rolle. Wir verließen Hatfield. Vater hatte seine Donnerbüchse und seinen Atomzertrümmerer mitgenommen, ebenso den größten Teil seiner Werkzeuge, ein Paar Bücher und alle Sachen, die wir gekauft hatten – die Campingausrüstung. Aber den Rest, das Haus mit der gesamten Einrichtung, ließen wir zurück – alles an Mobiliar, das Geschirr, die Betten, die Vorhänge, Mutters Pflanzen, das Radio, die Glühbirnen in ihren Fassungen, unsere Kleidung in den Schubladen, die auf dem Hydraulikstuhl schlafende Katze. Und die Tür hatten wir einen Spalt offen stehen lassen. War das Vaters Art, uns zu beruhigen? Wenn ja, dann hatte er Erfolg damit. Bis auf ein paar Ersatzkleidungsstücke in unseren Rucksäcken hatten wir nichts gepackt.

Vater war aufgewacht und hatte gesagt: »Okay, los geht’s.« Ohne einen Blick nach rechts oder links zu werfen, eilte er durchs Haus. »Wir haun hier ab.«

Erst später begriff ich, dass wirkliche Flüchtlinge genauso handelten. Sie beendeten ihr Frühstück und flohen, ließen das Geschirr in der Spüle und die Haustür halb offen. Da lag mehr Dramatik drin, als wenn wir unsere Habseligkeiten sorgfältig eingepackt und das Haus leer gemacht hätten.

Zwischen den Feldern, eine Meile entfernt, tauchte das Haus nun in Miniaturgröße wieder auf. Nie hatte es friedlicher ausgesehen. Es war unser Mauseloch. Und weil noch all unsere Sachen drin waren und die Uhr noch tickte, fühlte ich, wir könnten jederzeit zurückkehren und alles so vorfinden, wie wir es hinterlassen hatten, und es wieder in Besitz nehmen.

Deshalb störte es mich nicht, dass wir fortgingen. Aber mit welchem Ziel? Da ich es nicht kannte, machte mich die Langsamkeit, mit der die Zeit verstrich, verrückt. Hinter Springfield nahm Vater die Schnellstraße, und Städte und Dörfer ragten neben den Ausfahrten auf. Wir sahen Schornsteine und Kirchen und große Gebäude. Wir gewöhnten uns an Busse mit verdreckten Scheiben und vorbeidonnernde Lastwagen, die Abgasfahnen hinter sich herzogen; schwarze Planen klatschten um ihre Ladungen. Auf den Zulassungsschildern stand Connecticut, dann New York. Zum Lunch hielten wir an einer Howard-Johnson-Raststätte. Vater sagte: »Dieser Platz ist die Verkörperung von allem, was ich verachte«, und wollte nichts essen. Die gebratenen Muscheln, sagte er, bestehen wahrscheinlich aus Bindfaden. »Cheeseburger!«, brüllte er. Dann New Jersey. Hier gab es die höchsten Schornsteine und die schmutzigste Luft, die ich je erlebt hatte; die Vögel waren klein und ölig. Die Leute, die in Autos vorbeifuhren, vor allem die Mädchen, starrten Jerry und mich an. Wir zerrten die Schirme unserer Baseballmützen runter, damit sie nicht so glotzten. Ich schloss die Augen und betete um unsere baldige Ankunft. Vater fuhr so schnell, dass ich das Gefühl hatte, dass wir auf der Flucht waren, dass wir uns vor dem nachfolgenden Gewitter in Sicherheit brachten; wir rasten eine lange, schnurgerade Straße hinunter, durch eine Landschaft, die wie ein schmutziger Ausguss war. Nie zuvor hatte ich solche Flammen aus Schornsteinen sprühen sehen. Wir konnten das Flapp-flapp der Feuerbüschel hören, die aus den schwarzen Rohren züngelten.

Baltimore, stand auf einem Schild, Die nächsten sieben Ausfahrten. Wir nahmen die dritte; vor uns lag ein Einkaufszentrum, genau wie das, an dem wir heute Morgen in Springfield vorbeigekommen waren. Wir fuhren durch eine Vorstadt, die mich an Chicopee erinnerte, dann gelangten wir in die eigentliche Stadt. Sie war hügeliger als alle Städte in Massachusetts. Die Backsteinmauern der Häuser und Hotels erhoben sich entlang abfallender Straßen. An diesem frühen Abend spiegelte sich das Zwielicht in dem nahen Wasser, über dem sich der rosablaue Himmel wölbte – kein Vergleich mit der gewohnten Schwere, die ich von Hatfield her kannte, schimmelgrüne Sonnenuntergänge, von Goldstrahlen durchschossen. Baltimores milchiges Meereslicht und seine wachsfarbenen Wolken ergaben eine leuchtende, von Bäumen unbehinderte Blässe. Die wenigen kleinen Bäume, die ich entdecken konnte, kämpften gegen den Wind an.

Ein paar Minuten später, bei Sonnenuntergang, änderte sich das alles. Ein Teil des Himmels überzog sich mit dunklem Grau, der andere flammte rot auf, ein Haufen klauenförmiger Wolken von der Farbe gebrühter Hummerschalen, gesplittert und gebrochen, so wie man Hummer knackt, türmte sich am Horizont. Dieser strahlende, karmesinrote Himmel war neu für mich. Ich machte Vater darauf aufmerksam.

»Luftverschmutzung!«, rief er. »Strahlenbrechung von den Abgasen!«

Er fuhr weiter, steuerte unseren Laster durch den Verkehr auf den tiefergelegenen Teil der Stadt zu. Er parkte auf der Windseite vor einem Lagerhaus.

»Was tun wir hier?«, fragte Jerry.

Vater deutete mit seinem Finger auf die Spitze des Lagerhauses. Er sagte: »Das ist unser Hotel.«

Es war der gelbweiße Bug eines Schiffes; wie Nasenlöcher die Aussparungen für die Ankerketten, darunter lange Roststreifen. Den Rest des Schiffes konnten wir nicht sehen, aber nach dem Bug zu urteilen, musste es riesig sein. Ich sagte nicht, wie froh ich war, dass wir eine feste Bleibe hatten. Es war jetzt dunkel. Ich hatte geglaubt, wir würden ein Lager am Straßenrand aufschlagen und da schlafen.

Wir gingen die Gangway hoch, und ein Matrose an Deck wies Vater den Weg. Wir vier Kinder hatten eine Kabine für uns, Mutter und Vater die Kabine daneben. Alles roch säuerlich nach trocknender Farbe. Ein winziger Raum mit Dusche und Waschbecken lag zwischen unseren beiden Kabinen. Wir verstauten unsere Sachen unter den unteren Schlafkojen und warteten darauf, dass sich irgendwas ereignen würde. Morgens in Massachusetts, abends auf einem Schiff – dazwischen lagen sechshundert Meilen. Es schien, als könnte Vater Wunder vollbringen.

»Es ist ein Schiff!«, sagte Clover. »Wir sind auf einem richtigen Schiff!«

Vater steckte seinen Kopf in unsere Kabine und sagte: »Na, was haltet ihr davon?«

Das Schiff wurde beladen. Die ganze Nacht hindurch quietschten und drehten sich die Kräne, die Förderbänder summten unter uns, und durch die Stahlwände unserer Kabine hörte ich, wie Fracht in den Laderaum geschoben wurde.

Wir blieben in diesem Dock, während die Fracht – beschriftete Kisten und sogar Autos in Kabelschlingen – übernommen wurde. Wir aßen im leeren Speiseraum, und tagsüber beobachteten wir das Hin- und Herschwingen der Kräne. Andere Passagiere konnte ich nicht entdecken. Und Vater weigerte sich immer noch zu sagen, wohin es ging. Das beunruhigte mich, ich fühlte mich dadurch besonders abhängig von ihm. Ich kannte den Namen des Schiffes nicht, und bis jetzt hatte ich noch niemanden gesehen, mit dem ich sprechen konnte. Die Mannschaft beachtete uns nicht. Wir waren Vater ausgeliefert.

Am Morgen, ehe wir ablegten, verließen wir das Schiff und fuhren mit unserem alten Wagen quer durch die Stadt, über eine Brücke und weiter in Richtung Wasser, wo am Ende der Straße ein Strand lag. Mutter blieb im Fahrerhaus sitzen und las, während wir den Strand entlangliefen, Steine übers Wasser flitzen ließen und die Segelboote anschauten. Weiter unten war eine verfallene Mole, ein paar Felsbrocken im Wasser, andere umgekippt im Sand.

»Die Flut kommt«, sagte Vater. Er warf seinen Zigarrenstummel in die Brandung. »Wer zeigt mir, wie mutig er ist?«

Ich wusste, was nun kam. Er hatte das schon ein paar Mal mit uns gemacht. Er würde uns herausfordern, würde sagen, wir sollten uns draußen auf einen Felsen setzen und dortbleiben, bis uns die steigende Flut bedrohte. Ein Sommerspiel, das wir in Cape Cod gespielt hatten. Aber jetzt war immer noch Frühling in Baltimore – viel zu kalt zum Schwimmen –, und wir waren alle voll bekleidet. Ich glaubte nicht, dass er es ernst meinte, deshalb sagte ich, ich würde es versuchen, und erwartete, dass er lachte.

Er sagte: »Los, lass uns nicht warten.«

Eine Welle brach sich und wich zurück, zog Sand und Steinchen mit sich. Ohne Kleider oder auch nur Schuhe auszuziehen, rannte ich zu einem unkrautbewachsenen Felsen an der Brandungslinie und hockte mich darauf und wartete nur, dass Vater mich zurückrief. Die Zwillinge und Jerry lachten. Vater stand weiter oben am Strand und sah kaum zu mir herüber. Anfangs störten mich die Wellen nicht. Sie stiegen erst knapp hinter mir hoch, zogen vorbei, verwandelten sich in Schaum und Gischt und verschwanden.

»Charlie hat Angst«, schrie Jerry.

Ich sagte nichts. Ich kniete unsicher, hielt mich mit den Fingerspitzen an dem Felsen fest. Es war wie ein Sattel ohne Steigbügel. Ich wusste nicht, ob ich nun Vater bluffte oder er mich. Eine Reihe von Wellen machte mir Beine und Schuhe nass. Ein See bildete sich vor meinem Felsen. Die Wellenkronen ließen meine Finger taub werden.

Ich legte mir in Gedanken einen Vorwand zurecht, um aufgeben zu können, als ich im gelblichen Spätnachmittagslicht Vaters Silhouette sah, die Sonne hinter seinen Schultern. Er war dunkel, ich kannte ihn nicht, und er beobachtete mich wie ein Fremder, mehr mit Neugier als mit Zuneigung. Und ich kam mir ihm gegenüber wie ein Fremder vor. Wir waren zwei Leute, die innehielten – der eine auf einem Felsen, der andere im Sand, Kind und Erwachsener. Ich kannte ihn nicht, er kannte mich nicht. Ich musste warten, um herauszufinden, wer wir waren.

Genau in dieser Sekunde, während Vater wie ein beliebiger Spaziergänger dastand und mich mit seiner lässigen Haltung verunsicherte, kam die Welle. Sie traf mich von hinten, rollte meinen Rücken hoch und schäumte um meinen Hals, stieß mich, riss mir den Boden unter den Füßen weg und gab mich dann ebenso schnell wieder frei. Zitternd vor Kälte umklammerte ich mit aller Kraft den Felsen; ich glaubte, die Brust würde mir bersten von meinem unterdrückten Schrei:

»Er hat’s getan!«, kreischte Jerry und rannte in Kreisen am Strand herum. »Er ist ganz nass!«

Jetzt konnte ich Vaters Gesicht sehen. Etwas Wildes flog darüber, wie eine verzweifelte Erinnerung, die sein vorgerecktes Kinn erstarren ließ. Dann lachte er und brüllte, ich sollte an Land kommen. Aber ich ließ noch zwei weitere Wellen über mich schlagen, ehe ich aufgab und ans Ufer taumelte; gegen meinen Willen fing ich an, vor lauter Kälte zu heulen.

»Schon besser«, sagte Vater, während die Zwillinge mich bejubelten und meine nasse Kleidung berührten. Aber es klang, als würde er sich ein Kompliment machen, nicht mir. »Zieh die Schuhe aus.«

Vater trug in jeder Hand einen Schuh, während wir den Strand entlang zu Mutter und dem Pick-up-Truck gingen.

»He, der Junge sollte lieber die Schuhe anziehen.« Es war eine Stimme hinter uns. »Hier liegt massenhaft Glas und Zeug herum.«

Wir drehten uns um und sahen einen Schwarzen vor uns. Er drückte ein Radio an sein Ohr; über den Kopf hatte er eine Wollsocke gezogen. Er blinzelte beim Anblick von Vater, der doppelt so groß wie er war und lächelnd vor ihm stand.

Vater sagte: »Sie sind genau der Mann, den ich suche.«

Der Mann schaltete sein Radio aus. Er schaute ehrlich verwirrt drein. Er sagte, sein Name sei Sidney Torch, und er sei hier nicht zu Hause, aber er hätte an diesem Strand hier ein paar Kinder Glasflaschen zerbrechen sehen, und es wäre gefährlich, barfuß herumzulaufen, man könnte sich leicht die Füße zerschneiden. Aus keinem anderen Grund habe er sich eingemischt, sagte er, denn er sei ein Niemand, bloß auf dem Weg zu Besuch bei seinem Bruder, und er habe uns nie zuvor gesehn.

Vater sagte: »Ich wollte Ihnen etwas sagen.«

Sein Ton war freundlich, und der Schwarze, der ihm von der Seite her einen Blick zuwarf, begann in sich hineinzulachen.

»Niemand liebt dieses Land mehr als ich«, sagte Vater. »Deshalb verlasse ich es. Ich ertrag es nicht zuzusehen.« Er schlenderte weiter und legte seinen Arm um Sidney Torch. »Als meine Mutter starb, war’s genauso. Ich konnte nicht zusehen. Sie war stark wie ein Ochse, aber sie brach sich die Hüfte, und nach einem Krankenhausaufenthalt erwischte sie eine doppelte Lungenentzündung. Und so lag sie sterbend im Bett. Ich ging zu ihr und hielt ihre Hand. Wissen Sie, was sie zu mir sagte? Sie sagte: ›Warum geben die mir kein Rattengift?‹ Ich wollte nicht zusehen, ich konnte nicht hinhören. Also ging ich weg. Es muss ein furchtbarer Kampf gewesen ein – ein ständiges Hin und Her –, aber sie war zum Tode verurteilt. Nach ihrem Tod ging ich wieder heim. Vielleicht sagen manche Leute, das ist der Gipfel der Herzlosigkeit. Aber ich hab’s nie bereut. Ich liebte sie zu sehr, um ihr beim Sterben zuzuschauen.«

Die ganze Zeit über drehte Mr Torch nervös an seinen Radioknöpfen. Ich hatte Vaters Story nie zu hören bekommen, aber es war typisch für ihn, dass er private Dinge aus seinem Leben einem Fremden erzählte. Vielleicht war das seine Art, sich vor Verrat zu hüten: seine Geheimnisse Leuten gegenüber auszuplaudern, die er zufällig traf und nie wieder sehen würde.

»Das ist eine wirklich traurige Geschichte«, sagte Mr Torch.

»Dann haben Sie die Pointe nicht verstanden«, sagte Vater.

Mr Torch schien ganz durcheinander, und als Mutter mich so tropfnass sah und Vater anschrie – »Was versuchst du zu beweisen?« –, schnappte Mr Torch nach Luft und wich zurück.

Aber Vater wandte sich wieder an ihn. Er hatte ihm ein Angebot zu machen. »Mr Torch«, sagte er, »ich bin bereit, Ihnen diesen Pick-up-Truck für zweiundzwanzig Dollar zu verkaufen, denn das würde mich die Abmeldung kosten.«

»Ich hab bloß gemeint, Ihr Junge sollte seine Schuhe anziehen.« Mr Torch sagte das sehr sanft.

Vater sagte: »Oder Sie geben mir Ihr Radio dafür. Im Wagen ist eins. Ich brauch’s nicht.« Er streckte die Hand aus, und der Schwarze überließ ihm nachgiebig das Radio.

Wir fuhren zum Schiff zurück. Mr Torch saß zusammen mit Jerry und mir hinten. Er sagte: »Euer alter Herr kann wirklich reden. Er könnte Prediger sein. Er könnte predigen, bis einem die Ohren abfallen. Aber eins sag ich euch. Ein Geschäftsmann ist er nicht!« Er lachte vor sich hin und sagte: »Wohin fahrt ihr?«

Wir sagten, wir wüssten es nicht.

»Ist das euer Vater hinter dem Steuer? An eurer Stelle wär ich da nicht so sicher!«

Jerry sagte: »Mein Vater ist Allie Fox.«

Mit einem langen Fingernagel bohrte Mr Torch zwischen seinen Zähnen.

»Das Genie«, sagte ich.

»Das ist richtig«, sagte Mr Torch.

Beim Schiff angekommen, gab ihm Vater die Autoschlüssel und sagte, er könne das Radio auch wiederhaben. Er habe es sich anders überlegt. Wir gingen die Gangway hinauf – und das war’s.

»Endlich frei!«, sagte Vater. Wir standen auf dem schmalen Deck vor unserer Kabine. Die Lichter von Baltimore gaben der Stadt die Aura einer glühenden Wolke. Die Nacht war nicht dunkel, sondern von verschiedenen diffusen Lichtern erfüllt. Die Verkehrsgeräusche klangen gedämpft und unruhig. Eine Brise strich über das Schiff hin, und es schien, als hätten wir überhaupt keine Verbindung mit der Stadt und wären schon auf See. Wir starrten auf den Teil des Docks, von wo aus Mr Torch mit unserem Pick-up-Truck weggefahren war.

Mutter sagte: »Wenn die Polizei ihn anhält, glauben die, er hat ihn gestohlen. Sie werden ihn verhaften.«

»Kümmert mich nicht!«, sagte Vater. Er war sehr mit sich zufrieden. »Ich hab ihn einfach weggegeben. ›Nimm ihn!‹, sagte ich. ›Ich brauch ihn nicht!‹ Habt ihr den Ausdruck in seinem Gesicht gesehn? Ein Pick-up-Truck mit neuem Radio, ganz umsonst! Genau wie die Kühlmaschine. Hab ich einfach weggegeben! Wie den Job bei Polski. Klar Schiff machen!«

Mutter sagte mit scharfer Stimme: »Was hast du schon weggegeben! Eine verbeulte Kiste, bei der die Verschrottung zu viel Mühe gemacht hätte. Eine zusammengebastelte Eismaschine, die zum Himmel stank. Einen Job, der sich von Anfang an nicht gelohnt hat.«

»Genau meine Meinung.«

»Dann tu nicht so, als wärst du besser, als du bist.«

Vater starrte immer noch auf Baltimore.

»Goodbye, Amerika«, sagte er. »Falls jemand fragt, sag, wir waren schiffbrüchig. Goodbye, mit all deinem Müll und deinem ganzen Dreck! Und einen schönen Tag auch noch!«

Moskito-Küste

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