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ОглавлениеVater lächelte immer noch, als wir an dem Feld mit der Vogelscheuche vorbei auf eine kleine, grasüberwachsene Straße fuhren, die zu einem schwarzen Kiefernwäldchen führte. An einen Stumpf war das Schild Kein Durchgang genagelt. Dahinter stand, zwischen den Kiefern, das Haus, das weit und breit als Affenhaus bekannt war.
Ich hatte es aus der Ferne gesehen. Nie hatte ich so dicht herangehen wollen, um hineinsehen zu können. Außerdem stand ja auf dem Schild, dass es verboten war. Ich war ziemlich sicher, dass einige der Wilden dort lebten, denn ich hatte dort in der Nähe Radiomusik und manchmal Geschrei gehört.
Die Schindeln waren einst weiß gewesen, jetzt aber waren sie farblos und verwittert. Das Holzhaus sah aus, als würde es sich in einen Baum zurückverwandeln, in einen versteinerten Baum. Keines der Fenster hatte Vorhänge, nur wenige hatten noch Scheiben. Der einzige Schutz bestand in dem dunklen Immergrün der Bäume. Wir fuhren den mit Kiefernnadeln bedeckten Pfad hinauf, und als wir näher kamen, sah ich, dass die Fliegengittertür aufgeschlitzt war und dass sich eine Regenrinne gelockert hatte, die nun wie ein durchgedrehter Wetterhahn vor sich hin nickte. Das Wasser, das an den Wänden hinunterfloss, hatte moosige Wasserflecken an den Brettern hinterlassen. Alles sah verrottet und verfallen und gespenstisch aus. »Komm, Charlie. Ich zeige dir was.«
Weigern konnte ich mich nicht. Gemeinsam betraten wir das Haus. Es roch nach Schweiß und gekochten Bohnen und alter Wäsche und Holzrauch. In gelben Krusten löste sich die Tapete von den Wänden, der Anstrich hatte überall Blasen geworfen.
Ich sagte: »Die Bude hier nennen sie das Affenhaus.«
»Wer nennt es so?«
»Die Kinder.«
»Ich würd ihnen das Fleisch von den Knochen prügeln! Dass du mir das nie sagst.«
Es gab weder Stühle noch Tische, und das erste Zimmer glich aufs Haar allen anderen Zimmern, Matratzen flach auf dem Boden und auf den Matratzen grüne Armeedecken; in einer Ecke waren zerdrückte Pappkoffer aufgestapelt, und dazwischen lagen Lumpen und Socken. Der restliche Müll: geöffnete Sardinendosen und Beutel mit Brotkanten und leere, saure Milchflaschen. Ein Transistorradio auf einem Regal wurde nur noch von Klebeband zusammengehalten. Im ganzen Haus verstreut lagen weitere Matratzen und weiterer Abfall herum, alte Kleider und Haarbürsten und schmutziges Geschirr. Es war verdreckt und verwüstet wie ein Affenkäfig. Aber es war kein lebendiges Durcheinander – es wirkte verlassen, eine Müllkippe, als wäre, wer immer auch hier gewohnt haben mochte, für immer fortgezogen.
»Schau dir diese armen Menschen an«, sagte Vater. Er hob eine schäbige Decke auf und schlug sie gegen die Wand. »Schau dir an, was sie besitzen.«
Zornig stampfte er von Zimmer zu Zimmer, auf der Suche nach etwas, das, wie er wusste, nicht hier war. Ich folgte ihm in sicherer Entfernung. Er fuchtelte heftig mit den Armen herum, zeigte auf die schmierigen Sachen.
»Abends kommen sie hierher – hier schlafen sie!«
Er trat gegen eine Matratze.
»Schau dir an, was sie essen!«
Von seiner Schuhspitze aus machte eine Sardinendose einen Froschsprung in den Gang.
»Sie essen ja nicht mal den Spargel, den sie stechen, den verdammten Spargel …«
Jetzt wusste ich, dass er von den Wilden sprach.
»… obwohl ich’s ihnen nicht verübeln könnte, wenn sie ihn stehlen würden.«
Er marschierte lautstark in den hinteren Teil des Hauses, steckte den Kopf aus dem Fenster und gab ein trauriges Lachen von sich.
»Ihr Bad nehmen sie in einem Eimer. Ihr Geschäft verrichten sie in diesem Schuppen. Ist das richtig so? Ich frage dich! Und da wunderst du dich, dass sie wie Ziegen riechen und unmögliche Sachen tun, wenn sie in so einem Kehrichteimer leben?«
Ich hatte mich über nichts dergleichen gewundert. Was mich verwirrte, war, dass Vater, der sie stets Wilde nannte und mir einhämmerte, mich von ihnen fern zu halten, so viel über sie wusste. Er war geradewegs zu diesem Haus gefahren und schnurstracks hineinmarschiert, ohne die geringste Furcht, einer der Wilden könnte in einer Kammer herumlungern oder unter einer Decke versteckt sein, um sich auf Vater zu werfen und ihm die Kehle durchzuschnei den.
Ich sagte: »Lass uns lieber hier weggehen.«
»Sie heißen Besucher willkommen, Charlie. Das ist eine alte Sitte von ihnen – noch aus dem Dschungel. Sei gut zu Fremden, sagen sie, weil du nie weißt, wann du selbst ein Fremder sein wirst – im Dschungel verirrt, ohne Wasser, verhungernd, dem Tode nah. Das ist das Gesetz des Dschungels – Barmherzigkeit. Nicht Grausamkeit, wie die Leute glauben. Es gibt viel zu bewundern bei diesen Wilden. Ganz sicher heißen sie Besucher willkommen.«
»Aber wir sind hier nicht im Dschungel«, sagte ich.
»Nein«, sagte Vater, »denn kein Dschungel ist so mörderisch und ekelhaft wie das hier. Ihre grünen Bäume haben sie gegen diese Hölle getauscht. Es ist tragisch. Und es macht mich verrückt, denn am Ende verschärfen sie das eigentliche Problem bloß noch.«
Er machte sich auf den Weg aus dem Haus.
»Ich brauch frische Luft«, sagte er.
Aber anstatt loszufahren, lud er die Kühlmaschine, seine Eisbox, von der Ladefläche ab. Er stellte sie auf Gleitkufen, und wir zogen sie ins Haus. Vater baute sie im Hinterzimmer auf, brannte den Docht an und schob eine Schale Wasser hinein.
»Wenn sie das Eis sehen, drehen sie durch«, sagte Vater.
»Du meinst, du willst ihnen die Maschine einfach so geben? Und die ganze Arbeit, die du hineingesteckt hast?«
»Du hast gehört, was dieser Zwerg Polski sagte. Er hat keine Verwendung dafür. Und wir haben einen eigenen Kühlschrank. Die Leute hier werden es zu würdigen wissen. Der Betrieb kostet sie nichts. Sie können ihre Lebensmittel darin aufbewahren und Geld sparen. Wenn sie von den Feldern heimkommen, können sie sich einen schönen kalten Drink leisten. Das nimmt ein bisschen von dem Elend, das hier herrscht. Nur darauf kommt’s an.«
Er kniete auf dem Boden, justierte die Flamme.
»Eis bedeutet Zivilisation«, sagte er.
Er schnalzte bewundernd mit der Zunge.
Ich sagte: »Sie werden sich wundern, wer die Eisbox hier aufgestellt hat.«
»Sie werden sich nicht wundern.«
Wir ließen das alte Haus mit seinen Matratzen und dem Mäusedreck hinter uns zurück; ich hatte das Gefühl, die Wildnis kennengelernt zu haben. Es lag sehr nah bei unserem eigenen, ordentlichen Haus, und doch war es wild und fremd. Es war abgetrennt von uns. Es stand leer und einsam. Es hatte mich geängstigt, nicht weil es so gefährlich, sondern weil es so schäbig und hoffnungslos aussah. Es hatte schlimm begonnen und war immer schlimmer geworden, und so würde es bleiben, mit all seinem Müll – die Blechbüchsen und voll geschmierten Wände, das zerkratzte Holz, der rostige Wascheimer, der Abfluss, der nicht funktionierte, der verstreute Abfall, die gekrümmten Schuhe, die mich an gekrümmte Füße denken lie ßen.
»Es ist erschreckend«, sagte ich.
»Ich bin froh, dass du so empfindest«, sagte Vater.
Er fuhr die Straße hinunter, seufzte beim Schalten.
»Das ist Amerika«, sagte er. »Es ist eine Schande. Bricht mir das Herz.«
Danach war ich froh, wieder auf vertrautem Gebiet zu sein und Vater bei den üblichen Kleinigkeiten zu helfen. Ich schwitzte in der Hitze, und der Giftsumach juckte scheußlich, aber ich beklagte mich nicht. Und Vater verlor kein Wort darüber. Er war davon überzeugt, dass ich mich in den Büschen herumgetrieben hatte – und der Hautausschlag meine gerechte Strafe war.
Polski besaß zehn schäbige Schafe und eine kleine Herde Kühe. Wir reparierten den Transformator am Elektrozaun, der sie voneinander trennte, und säuberten den Abfluss am Trog.
Vater sagte: »In diesem Land gab es mal für einen Mann wie mich genügend Spielraum.«
Gegen Mittag gingen wir zu dem großen fensterlosen, gekühlten Lagerraum. Innerhalb der dicken Mauern war es kalt. Der überlastete Stromkreis stotterte, Stille lag in der Luft, und ich roch den scharfen Geruch von in der Dunkelheit reifendem Spargel. Die Spargelstangen waren zu Drei-Pfund-Bündeln zusammengebunden. Weil die Spitzen zart und empfindlich sind, lassen sie sich schwer lagern. Der Spargel hier war so sorgfältig in die Regale gepackt, als handle es sich um Bündel scharfer Munition. Es war klar, dass Polski kaum noch über freien Lagerraum verfügte, aber Vater meinte, es wäre bei der momentanen gewaltigen Nachfrage erstaunlich, dass Polski überhaupt Spargel einlagerte.
»Und schau dir das mal an!«
Hoch oben an einem Haken hing ein Nerzmantel, wahrscheinlich Ma Polskis, der hier zum Schutz vor Motten in der Kälte aufbewahrt wurde. Er war dunkelgolden, und als Vater den Strahl seiner Taschenlampe darauf richtete, leuchtete jedes feine Härchen auf.
Das brachte Vater zum Lachen, über den Zustand der Welt, wo menschliche Wesen auf dem Fußboden eines Abbruchhauses schlafen müssen, während gleichzeitig Tonnen von Spargel und ein Nerzmantel in einem peinlich sauberen klimatisierten Raum lagern, dessen Kühlung allein schon ein Vermögen kostet. »Ein schrecklicher Scherz«, sagte er. »Wie dumm die Leute doch sind! Und wenn die Wilden wüssten, wie sie betrogen werden, würden sie Polski den Kopf abschneiden und in dem Pelzmantel davontanzen.«
Er entdeckte eine Sicherung, die unter der Belastung des Kühlsystems durchgebrannt war. Während er die Sicherung austauschte, sagte er: »Der Zwerg hatte recht. Er hat hier kein freies Brett mehr, und sie ernten immer noch. Denk an meine Worte, dieser Mann wird uns bald einen Besuch abstatten. Er brütet etwas aus. An das, was er heute Morgen zu mir gesagt hat, wird er sich nicht mehr erinnern. Manche Leute lernen es nie.«
Nachmittags arbeiteten wir am Straßenrand, wo wir einen Abflusskanal freischaufelten, der im Märztauwetter eingestürzt war. Es war ebenso heiß wie gestern, und Vater hatte sein Hemd ausgezogen. Ich hielt den Schubkarren im Gleichgewicht, den er füllte. Dann hörte ich Stimmen.
Drei Kinder strampelten auf ihren Fahrrädern von der Schule die Straße runter nach Hause, Hatfield-Kinder. Ich duckte mich, wollte von ihnen nicht gesehen werden, wie ich hier in meinen alten Klamotten schuftete, zusammen mit meinem Vater, der wie ein Straßenarbeiter gebückt einen Graben aushob. Ich schämte mich meines Vaters, der sich nicht darum kümmerte, was andere dachten. Ich beneidete ihn um seine Unabhängigkeit, und mich hasste ich, weil ich mich schämte. Die Kinder klingelten mit ihren Fahrradglocken und riefen laut, um meine Aufmerksamkeit zu erregen und mir eins auszuwischen. Sie hatten keine Ahnung, dass Vater Monate damit zugebracht hatte, eine feuerbetriebene Eisbox zu erfinden, und sie heute Morgen weggegeben hatte, einfach so, um anschließend wie jeder andere Farmarbeiter den Spaten in die Hand zu nehmen.
Ich konnte ihnen nicht in die Gesichter schauen. Im Vorbeiflitzen riefen sie wieder. Nach einer Weile blickte ich auf und sah sie die Landstraße entlangholpern.
Vater hackte immer noch am Abflusskanal herum – oder vielmehr bohrte er den Schlamm mit einem von ihm erfundenen Spaten heraus, der wie ein Schuhleisten aussah.
Er sagte: »Brauchst dich nicht mies zu fühlen. Du hast heute ein paar erstaunliche Sachen gesehn, Charlie. Und was haben diese Hosenscheißer getan? Im Schulhof Kleber geschnüffelt, mit ihrem Spielzeug angegeben, sich Bilder angeschaut, Krawall gemacht. Ferngesehen – mehr tun sie ja in der Schule nicht. Macht die Augen kaputt. Das hast du nicht nötig.«