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ОглавлениеAls Vater am nächsten Tag sagte: »Wir fahren einkaufen«, war ich überzeugt, wir würden zur Müllkippe fahren. Wir kauften selten im Laden. Es war auch kaum nötig – was unsere Ernährung betraf, waren wir praktisch Selbstversorger. Harte Arbeit hielt uns auf Tiny Polskis Land fest, außerdem lauerte tagsüber Gefahr in den Geschäften – wir konnten wegen Schulschwänzens von Polizisten oder Schulaufsichtsbeamten geschnappt werden. »Dann wirst du in die Schule gesteckt«, sagte Vater, »und ich in das raue Gegenstück dazu – in den Knast. Was haben wir getan, um eine solche Bestrafung zu verdienen?« Insgeheim wollte ich gern zur Schule gehen. Ich kam mir wie ein alter Mann oder ein Monstrum vor, wenn ich andere Kinder sah. Und wenn ich ehrlich war, schmeckte mir der Kuchen aus der Massenproduktion besser als Mutters Bananenbrot. Vater sagte, im Laden gekaufter Kuchen besteht aus Abfall und Gift, aber ich vermutete, dass er ihn in Wirklichkeit nur deshalb ablehnte, weil ich ihm die paar Male, wo er mich beim heimlichen Essen erwischt hatte, gestehen musste, dass ich den Kuchen mit Geld bezahlt hatte, das mir Polski für kleinere Arbeiten gegeben hatte. Polski erzählte mir, dass Vater ein Sonderling sei, ein weiteres Geheimnis, das bewahrt werden musste. In Hatfield oder Florence kauften wir Salz, Roggenmehl, Obst und Schnürsenkel und andere Kleinigkeiten, aber gewöhnlich bedeutete einzukaufen einen Trip zu den Müllkippen und Abfallhalden um Northampton herum, wo wir Vater halfen, die ekelhaften Müllberge nach Draht und Metall zu durchwühlen, Sachen, die er für seine Erfindungen brauchte.
Möwen umschwärmten die Müllkippe; fette, schmutzige Krakeeler, die sich auf Plastikbeuteln niederließen und sie aufzureißen versuchten. Sie jagten sich gegenseitig, kämpften um jeden Brocken und gerieten in helle Aufregung, wenn die Müllfahrzeuge kamen. Vater hasste sie. Er nannte sie Geier. Sie kreischten, und er kreischte zurück. Aber wenn er sich mit einer Mistgabel in der Hand die lockeren Berge aus Beuteln und Kisten hochkämpfte und die Vögel anbrüllte, die ihn umschwärmten und dicht über seinen Kopf strichen, dann schien es manchmal, als kämpften Vater und diese faulen, furchtlosen Möwen um dieselben Brocken.
»Hier haben wir einen einwandfreien Satz Räder«, sagte Vater, verscheuchte die Möwen und zerrte einen alten Kinderwagen aus Dunst und Gestank, Orangenschalen abschüttelnd. Andere Leute brachten Sachen zum Müll – Vater fischte Zeug heraus und schleppte es davon. »Irgendein Trottel hat das weggeworfen.«
Heute aber, an einem normalen Wochentag, rasten wir an den Gewächshäusern und Rosengärten in Hadley vorbei, fuhren durch Northampton und dann auf die Schnellstraße zu. Mutter saß vorn bei Vater in der Kabine, und ich hockte hinten zusammen mit den Zwillingen und Jerry.
»Ich werd nach Fahrrädern mit Zehngangschaltung suchen«, sagte Jerry.
Clover sagte: »Wir können Eiscreme kaufen.« Und April sagte: »Ich will Schokolade.«
Ich sagte: »Wird Dad nicht erlauben. Außerdem gehn wir nicht einkaufen – das ist nicht der Weg.«
»Ist er doch«, sagte Jerry. »Das ist Vaters Abkürzung.«
Nein – wir waren weit entfernt von Northampton, auf dem Land. Wir kamen an den Connecticut River und fuhren an ihm entlang. Hier war der Fluss breit und schmierig und weniger blau als in der Nähe von Hatfield. Auf der anderen Seite standen Backsteingebäude, und bald tauchte Springfield auf. Wir fuhren über die Brücke; wegen des starken Windes in der Mitte des Flusses mussten wir uns an den Seitenwänden des Wagens festhalten. Im Fluss trieben Berge von Plastikschaum, gelblich verfärbt wie ausgelassenes Fett.
Noch nie hatten wir in Springfield eingekauft. Die Leute auf den Gehsteigen schienen das zu wissen. Sie starrten uns an, wie wir da hinten auf der Ladefläche des Wagens standen und uns am Dach des Führerhauses festhielten. Wir fuhren bis zum Marktplatz, wo wir parkten – die Leute starrten immer noch. Vater stieg aus und bläute uns ein, ihm zu folgen und zusammenzubleiben. Er war guter Laune, aber sobald wir das K-Mart-Einkaufscenter betraten, fing er an zu murren und zu fluchen.
Mutter sagte: »Bist du dir wegen der Hüte sicher?«
»Machst du Witze? Bei fünfundvierzig Grad im Schatten. Sie kriegen einen Sonnenstich, wenn ihre Köpfe nicht bedeckt sind.«
Wir probierten Fischerkappen mit Lüftung und Sonnenhüte und Matrosenmützen. Die Preise versetzten Vater in Rage. Er sagte: »Baseballmützen sind gut genug«, und kaufte uns welche.
Die Mützen auf den Köpfen, folgten wir ihm im Gänsemarsch, wie kleine Enten. In diesem Geschäft hier verkauften sie alles – Popcorn, Gummireifen, Gewehre, Toaster, Mäntel, Bücher, Motoröl, eingetopfte Palmen, Leitern und Schreibpapier. Vater hob einen elektrischen Toaster hoch.
»Schaut euch das an. Ist nicht mal richtig geerdet. Man bringt sich durch einen Stromstoß um, ehe man noch den ersten Toast fertig hat. Man toastet sich selber mit dieser Verdrahtung …«
Er sprach laut, erregte Aufmerksamkeit. »Mit Quecksilberchlorid getränkt!«, sagte er. Ich spürte, die Leute, die uns anstarrten, wussten, dass wir selten einkaufen gingen. In der Öffentlichkeit wirkte Vater beunruhigend. Er kümmerte sich nicht um Fremde. Vor ein paar Tagen im Eisenwarengeschäft in Northampton hatte er gefragt: »Arbeiten Sie für die Japaner?«, und ich wäre vor lauter Scham am liebsten im Erdboden versunken. Heute war er sogar noch gereizter.
»Bezeichnest du das als Dosenöffner?«, fragte er gerade. »Damit ist man im Nu einen Finger los oder reißt sich auf und verblutet. Es ist eine tödliche Waffe, Mutter!«
Wir trabten zur Camping- und Freizeitabteilung. Ein Mann in Hemdsärmeln näherte sich uns. Er hatte ein glattes Gesicht und plattgedrückte Haare und sah gar nicht wie ein Camper aus, aber er sagte Hallo zu uns allen, blinzelte den Zwillingen zu und machte wie jeder eine Bemerkung über ihre Ähnlichkeit.
»Was kann ich heute für Sie tun?«, fragte er und nickte, sodass ich seine Frisur besser sehen konnte. Die Haare waren von einem Ohr aus hochgekämmt und säuberlich in Strähnen über den Kopf geklebt – unwillkürlich schaute man nicht auf das Haar, sondern auf die kahlen Stellen dazwischen.
Vater sagte, er wollte sich ein paar Feldflaschen ansehen.
Mit den Lippen formte Jerry das Wort »Camping«, aber ich brachte ihn durcheinander, indem ich die Nase runzelte.
Der Mann reichte eine Flasche herüber. Vater drückte mit den Daumen drauf und sagte, sie wäre so fadenscheinig, dass er sie mit Leichtigkeit zerquetschen könnte. Er sah näher hin und lachte laut auf.
»›Made in Taiwan‹ – verstehen ja ’ne Menge von Feldflaschen. Haben nicht umsonst den Krieg verloren.«
»Sie kostet nur einen Dollar neunundvierzig«, sagte der Mann.
»Sie ist keinen Nickel wert«, sagte Vater. »Außerdem suche ich sowieso eine größere.«
»Wie wär’s mit diesen Wasserbeuteln?« Der Mann ließ einen an seinem Stöpsel baumeln.
»Mit einem Stück Segeltuch und Nadel und Faden kann ich das selber machen. Wo stammt dieses miese Ding her? Korea! Verstehen Sie, das ist es – sie haben miese Fabriken und Sklavenarbeit in Korea und Taiwan. Kleine Kulis machen diese Sachen. Im Morgengrauen raus, den ganzen Tag schuften, nie ein bisschen frische Luft. Kinder machen das Zeug. Sie sind an die Maschinen gekettet – die Füße erreichen kaum die Pedale.«
Der Vortrag war für uns bestimmt, aber der Mann hörte zu und runzelte die Stirn.
»Sie sind dermaßen unterernährt, dass sie kaum geradeaus schaun können. Augenkrankheiten, Rachitis. Sie wissen nicht, was sie herstellen. Könnten genauso gut Badematten sein. Deshalb haben wir in Südkorea Krieg geführt, um für arbeitsintensive Industrien zu kämpfen, was bedeutet, dass unterernährte Kinder für uns Wasserbeutel und Blechtassen machen, was das Zeug hält. Aber bloß kein Mitgefühl. Das ist Fortschritt. Das ist die Einstellung der Orientalen. Jeder sollte Kulis haben, richtig?«
Der Wasserbeutel in den Händen des Mannes sah jetzt wie etwas Böses aus. Der Mann legte ihn beiseite, glättete sein Haar, und wir standen schweigend daneben – Mutter, die Zwillinge, Jerry und ich –, während Vater nörgelte. Ich hatte den Hemdkragen hoch gestellt, um meinen Hautausschlag zu verbergen.
»Was steht als Nächstes auf der Liste?«
Mutter sagte: »Schlafsäcke.«
»Im Regal«, sagte der Mann.
Vater ging hinüber. »Nicht mal wasserdicht. Nützt einem ’ne Menge im Monsunregen.«
»Sie sind für eine Zeltsituation gedacht«, sagte der Mann.
»Und wie steht’s mit einer Regensituation? Und wo kommt das Ding her? Gobiwüste, Mongolei, die Gegend?«
»Hongkong«, sagte der Mann.
»Hab ich ja nicht weit daneben getippt!«, sagte Vater; vor lauter Befriedigung konnte er nicht mehr ruhig stehen. »Massenhaft Camping dort in Hongkong. Erkennt man auf einen Blick. Schau dir bloß mal die Nähte an – in zwei Tagen fallen sie auseinander. Mit einer einfachen alten Decke wär man besser dran.«
»Decken gibt’s in der Haushaltsabteilung.«
»Und wo sind die hergestellt – Afghanistan?«
»Kann ich Ihnen nicht sagen, Sir.«
Vater sagte: »Was stimmt mit diesem Land nicht?«
»Es ist besser als ein paar Länder, die ich Ihnen nennen könnte.«
»Und verdammt viel schlimmer als ein paar andere«, sagte Vater. »Wir könnten dieses Zeug in Chicopee herstellen und hätten Vollbeschäftigung. Warum tun wir’s nicht? Mir gefällt die Vorstellung kein bisschen, dass wir dürre orientalische Kinder zwingen, Plunderkram für uns zu machen.«
»Niemand wird gezwungen«, sagte der Mann.
»Jemals in Südkorea gewesen?«
»Nein«, sagte der Mann; sein Gesicht nahm den gehetzten Ausdruck an, den Leute bekamen, wenn Vater mit ihnen sprach. Polski hatte ihn vergangene Nacht gehabt.
»Dann wissen Sie gar nicht, wovon Sie reden, oder?«, sagte Vater. »Zeigen Sie mir ein paar Rucksäcke. Sie können sie behalten, wenn sie aus Japan stammen.«
»Sie sind chinesisch – Volksrepublik: Wird Sie nicht interessieren.«
»Geben Sie her«, sagte Vater, und den kleinen grünen Rucksack wie einen Lumpen haltend, wandte er sich Clover zu. »Vor ein paar Jahren noch befanden wir uns praktisch im Kriegszustand mit der Volksrepublik. Rotchinesen, so bezeichneten wir sie. Rote, Schlitzaugen, Gelbe. Frag irgendwen. Jetzt verkaufen sie uns Rucksäcke – wahrscheinlich für den nächsten Krieg. Wo ist da der Haken? Es sind drittklassige Rucksäcke, würden nicht mal Sandwiches halten. Glaubst du, dass wir den Krieg gegen die Chinesen gewinnen werden?«
Clover war fünf Jahre alt. Sie hörte Vater zu und kratzte sich mit zwei Fingern den Bauch.
»Muffin, mir ist’s egal, was du denkst – diesen Krieg werden wir nicht gewinnen.«
Der Verkäufer hatte angefangen zu grinsen.
Vater sah es und sagte: »Dann werden Sie nicht mehr lächeln, mein Freund. Der nächste Krieg wird hier ausgefochten werden, das ist so sicher wie …«
Das Gleiche hatte er schon im Winter gesagt, mit den gleichen Worten, obwohl ich glaubte, er hätte nur Phrasen gedroschen. Heute befand er sich in derselben Stimmung. Fast rechnete ich damit, dass er dem Verkäufer erklären würde: »Mich werden sie als Ersten erwischen – die Cleveren bringen sie immer zuerst um.«
Er stieß den Rucksack beiseite. »Verkaufen Sie so was Ähnliches wie Kompasse, oder bin ich da am falschen Platz?«
»Da hab ich eine vollständige Auswahl«, sagte der Mann. Mit der flachen Hand strich er den Rucksack glatt, faltete ihn wie ein Wäschestück und legte ihn mit einem kleinen Aufstöhnen weg. Er stellte eine Schachtel auf den Verkaufstisch. »Der hier zählt zu meinen besseren«, sagte er und holte einen Kompass heraus. »Er hat alle Eigenschaften der teureren Modelle, kostet aber nur zweieinviertel Dollar.«
»Muss ein chinesischer Kompass sein«, sagte Vater. »Er zeigt ständig nach Osten.«
»Zu seinen Merkmalen gehört eine Stabilisierungskontrolle. Wenn Sie sie freigeben … so« – er löste einen Haken an dem Gehäuse –, »dann schwingt die Nadel unbehindert. Sehen Sie, da ist Norden, drüben bei den Automatikfahrzeugen. Tatsächlich ist dieser Kompass direkt hier in Massachusetts gefertigt worden.«
»Dann packen Sie ihn ein«, sagte Vater. »Sie haben soeben was verkauft.« Er legte den Arm um Mutter. »Wie schaut die Liste aus?«
»Baumwollkleidung, Nadeln und Zwirn, Moskitonetze …«
»Stoffe«, sagte der Mann. »Nächster Gang. Schönen Tag noch.«
Im Weggehen sagte Vater: »Auf der Müllkippe wären wir besser dran gewesen.« Im nächsten Gang schnappte er sich ein Stück Stoff, das wie ein Brautschleier aussah, und sagte: »Das ist das Zeug.«
Die Verkäuferin sagte: »Neunundsiebzig pro Yard«, und klapperte mit ihrer Schere. Sie war alt und zitterte und sah böse aus, so wie sie mit der Schere die Luft durchschnitt.
»Nehm ich.«
»Wie viele Yards?« Schnipp-schnapp. Sie war ungeduldig. Sie hatte einen leichten Flaum auf den Wangen.
»Geben Sie uns den ganzen Ballen«, sagte Vater. »Und wenn Sie sich wirklich nützlich machen wollen«, fügte er hinzu und griff mit einer Hand in Jerrys Haar, »verpassen Sie diesem Jungen einen Haarschnitt. Erlösen Sie ihn aus seinem Elend.«
Aber die alte Dame lächelte nicht, weil sie den ganzen Ballen zum Messen entrollen musste, um den Preis festzusetzen.
Wir machten uns auf die Suche nach anderen Sachen. Noch nie hatte ich meine Eltern an einem einzigen Vormittag so viel einkaufen sehen, nicht mal zu Weihnachten. Wir verließen K-Mart und gingen zu Sears und dem Army-Navy-Store. Wir kauften Taschenlampen und amerikanische Feldflaschen, Rucksäcke, Jagdmesser, gummierte Schlafsäcke und für uns alle neue Schuhe. Geldausgeben machte Vater mürrisch und gereizt. Er stritt sich mit den Verkäufern herum und jammerte, dass er beraubt werde. »Ich kann’s mir leisten, mich berauben zu lassen«, sagte er. »Aber was ist mit den armen Tölpeln, die sich’s nicht leisten können?« Ich hatte keine Ahnung, warum er diese Sachen kaufte, und es war beunruhigend, ihn argumentieren zu hören. Selbst Mutter wurde allmählich nervös.
Im Drugstore füllte er einen Drahtkorb mit Sachen wie Gaze und Salben (»Für unseren Verbandskasten«); mittendrin hörte er auf, die Aspirinpreise zu vergleichen, und ging zu dem Magazinständer, um sich ein Exemplar von Scientific American zu holen. Er ärgerte sich, dass es mit Mädchenmagazinen zusammenlag, und sagte: »Eine Beleidigung.«
»Schau dir das an«, sagte er und deutete auf den Magazinstand, »die Hälfte davon ist harte Pornographie. Es gibt verheiratete Männer, die so was noch nicht gesehen haben. Für Medizinstudenten absolute Neuigkeiten! Ist das zu glauben? Kinder kommen wegen einem Lutscher her und sehen dann das da. Aber frag irgendeinen Lehrer, und er wird dir erklären, das ist genau das, was der Onkel Doktor verordnet hat. Charlie, worauf starrst du?«
Ich schaute auf ein Titelblatt mit einer nackten knienden Frau; ihr glatter leuchtender Hintern ragte hoch wie eine preisgekrönte Birne.
»Du liebäugelst eindeutig mit einer Nackten«, sagte er, ehe ich antworten konnte. »Aber gönn dir ruhig einen letzten Blick – gönn dir einen letzten Blick. Mutter, die Leute vergraben sich unter diesem Müll und tun so, als wär alles in Ordnung. Kotzen könnt ich. Es macht mich verrückt.«
Mutter sagte: »Ich nehme an, du willst, dass sie es verbieten.«
»Nicht verbieten. Ich glaube an die Meinungsfreiheit. Aber müssen wir es direkt hier bei den Comics und den Lutschern haben? Es ist Dreck, es wertet den menschlichen Körper ab, es zeigt Menschen als ein Stück Fleisch. Jawohl, weg damit und die Comichefte gleich hinterher – alles schädlich. Wie gehn die Geschäfte?«
Er war nun vor der Kasse, sprach mit der Kassiererin.
»Bestens«, sagte sie. »Wir können nicht klagen.«
»Überrascht mich nicht«, sagte Vater. »Sie müssen ja ein Bombengeschäft mit der Pornographie machen. Es heißt, der Pornoeinzelhandel ist die neue Wachstumsindustrie – das und die Drecksblättchen. Muss eine ganz schöne Befriedigung sein, die Dollars auf die Weise zu schaufeln …«
»Ich arbeite hier nur«, sagte sie und drückte die Tasten.
»Na klar doch«, sagte Vater. »Und warum sollten Sie’s nicht verkaufen. Es ist ein freies Land. Sie glauben nicht an Zensur. Sie haben schon mal ein Buch gelesen. Es war grün, richtig? Oder war es blau?«
Gehetzt, ja, so schaute sie drein; wie ein nervöses Kaninchen, das den Geruch eines Gewehrlaufs in die Nase bekommen hatte.
Er bezahlte den Verbandskasten und sagte: »Sie haben vergessen, ›Schönen Tag auch noch‹ zu sagen.«
Draußen sagte Mutter: »Du kannst nie Ruhe geben?«
»Mutter, dieses Land ist vor die Hunde gegangen. Niemand kümmert sich um was, und das ist das Schlimmste. Die Haltung der Leute. ›Ich arbeite hier nur‹ – hast du es gehört? Verkauft Dreck, kauft Dreck, frisst Dreck …«
»Wir wollen ein Eis«, sagte Clover.
»Hörst du? Appetit auf diesen Dreck – unsere eigenen Kinder. Die Schuld haben wir! In Ordnung, Kinder, kommt mit.«
Er nahm uns zu einem A-&-P-Supermarkt mit, und kaum drinnen, bei der Obstabteilung, packte er ein Bündel Bananen. »Zwei Dollar!«, sagte er. Dann nahm er zwei in Zellophan gewickelte Grapefruits. »Fünfundneunzig Cent!« Und eine Ananas. »Drei Dollar!« Und ein paar Orangen. »Das Stück neununddreißig Cent!« Er hörte sich wie ein Auktionator an, wie er da am Frischobststand entlangging und die Preise verkündete.
»Kaufen wir denn nichts?«, sagte ich, als wir den Markt mit leeren Händen verließen.
»Nein. Ich will bloß, dass ihr euch an diese Preise erinnert. Drei Dollar für eine Ananas. Lieber ess ich Würmer. Man kann Regenwürmer essen, versteht ihr. Reines Protein.«
Zusammen mit Mutter stieg er in die Fahrerkabine des Wagens, und wir kletterten hintendrauf. Ich konnte hören, wie seine Stimme das Rückfenster vibrieren ließ, während wir durch Springfield fuhren. Er redete immer noch, als wir an einer Straßentankstelle hielten. Jetzt lag der Fluss vor uns – das Wasser strömte dahin, und knospende Bäume standen am Ufer. Aber der Fluss war grau wie Badewasser, und was wie kleine weiße Wellen aussah, waren in Wirklichkeit tote Fische, die mit dem Bauch nach oben dahintrieben.
Die Wagentür knallte zu. »Ein Dollar zehn die Gallone«, sagte Vater zu dem verblüfften Mann an der Zapfsäule. Der Mann stand mit triefender Nase da, auf seinem Hemd stand Fred. »Der Preis hat sich in einem Jahr verdoppelt. Macht also zweizwanzig nächstes Jahr und wahrscheinlich fünf im übernächsten – wenn wir Glück haben. Einfach wunderbar. Wissen Sie, was die Produktion eines Barrels Rohöl kostet? Fünfzehn Dollar – mehr nicht. Wie viele Gallonen gehen auf ein Barrel? Fünfunddreißig? Vierzig? Rechnen Sie’s aus. Oh, ich hab vergessen, Sie arbeiten ja nur hier.«
»Geben Sie die Schuld dem Präsidenten – nicht mir«, sagte der Mann und ließ den Tank weiter volllaufen.
Vater sagte: »Nein, Fred, ich gebe dem Präsidenten nicht die Schuld. Er tut, was er kann. Ich gebe den Ölgesellschaften die Schuld, der Autoindustrie, dem Big Business. Den Arabern. Palästinensern – wissen Sie, was die in Wirklichkeit sind? Philister. Gleicher Wortstamm, schauen Sie nach. Außerdem, Fred, geb ich mir selbst die Schuld, weil ich keine billigere Methode zur Ölgewinnung aus Schiefer entwickelt habe. In diesem Land gibt es Billionen Tonnen an Schiefervorräten.«
»Wir haben keine Wahl«, sagte Fred und schniefte. »Wir werden einfach weiter zahlen müssen.«
»Ich habe eine Wahl in der Sache«, sagte Vater. »Ich werde nicht mehr zahlen.«
Fred sagte: »Macht dann acht Dollar und vierzig Cent.«
Einen Augenblick lang glaubte ich, Vater würde sich weigern zu zahlen, aber er holte seine Brieftasche hervor und zählte das Geld in Freds schmutzige Hand, während wir von der Ladefläche des Pick-ups aus zusahen.
»Nein, Sir, ich zahl nicht mehr«, sagte Vater. »Beantworten Sie mir eine Frage. Wenn Sie sehen, wie die Dinge jetzt stehen, überlegen Sie dann manchmal, wie das alles später werden soll?«
»Manchmal. Hören Sie, ich hab ziemlich viel zu tun.« Er schaute zur Seite, zog die Schultern hoch und wich zurück. Gehetzt.
»Ich frage mich das die ganze Zeit. Und ich sag zu mir: ›So kann’s nicht weitergehen. Der Dollar ist gerade noch zwanzig Cent wert.‹«
»In New Jersey ist’s schlimmer«, sagte Fred. »Ich hab da einen Cousin. Seit Januar haben sie Rationierung gehabt.«
»Eine ganze Welt wartet da draußen!«, rief Vater und deutete mit seinem Fingerstummel ins Weite.
Erschreckt von dem Finger, trat der Mann noch weiter zurück.
»Ein Teil der Welt ist immer noch leer«, sagte Vater. »Meist unbewohnt. Essen Sie Spargel?«
»Wie bitte?«
»Wissen Sie, warum Spargel so teuer ist – alles Gemüse, was das anbelangt? Weil die Farmer ihre Produkte horten, bis die Preise steigen. Dann bringen sie ihr Zeug auf den Markt. Wenn sie genau wissen, dass sie den Konsumenten in der Mangel haben. Sie könnten zum halben Preis verkaufen und immer noch reich werden. Das wussten Sie nicht, oder? Die Kerle, die ihn stechen, kriegen einen Dollar die Stunde, keine gewerkschaftlich organisierten Arbeiter – nur Wilde, Leute aus dem Busch, die ihn aus dem Boden reißen. Das Gemüseziehen macht keine Schwierigkeiten – die meiste Arbeit besorgt der liebe Gott. Wenn Sie mal wieder Spargel essen, denken Sie an das, was ich Ihnen gesagt hab. Die Ölgesellschaften machen’s genauso – horten ihr Produkt, bis der Preis hochgeht. Ich will damit nichts zu tun haben. Weizen? Getreide? Mais? Wir verkaufen das Zeug den Russen, um die Preise zu Hause oben zu halten, dabei könnten wir genauso leicht Schnaps zur Treibstoffgewinnung daraus brennen. In der Zwischenzeit zahlen, zahlen, von den kleinen Koreanern lassen wir uns Schlafsäcke machen, und unsere Army rüsten wir mit chinesischen Rucksäcken aus – niemand fragt, wo …«
Bei Erwähnung der chinesischen Rucksäcke sagte Fred: »He, ein paar Kunden warten auf mich.«
»Lassen Sie sich von mir nicht aufhalten, Fred.« Vater packte seine Hand und schüttelte sie. »Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt hab.«
Auf der Straße steckte Vater den Kopf aus dem Fenster und sagte: »Dem hab ich aber die Augen geöffnet!«
Manche Bäume trugen Knospen, andere winzige blasse Blätter; ein süßer Hauch von Frühling lag in der Luft. Auf einigen Weiden standen Kühe, so still wie Statuetten; zur Straße hin abfallend, schäumten kleine runde Apfelbäume förmlich in weißer Blütenpracht. An der Art, wie Vater fuhr, erkannte ich, dass er immer noch wütend war, aber in Anbetracht all dieser Schönheit – die herrlichen Bäume in der milden, blumenduftenden Luft und der Sonnenschein auf den Wiesen – verstand ich nicht, was nicht in Ordnung war oder warum Vater geschrien hatte. Kurz vor Northampton bog er in eine Nebenstraße ab. Hier gab es haufenweise gelbe Feldblumen, und die blutigrote Farbe einer Kardinalsblume leuchtete wie ein pochendes Herz zwischen den Buschrippen hervor.
Jerry sagte: »Wenn wir Camping machen, dann hab ich mein eigenes Zelt, und du darfst nicht rein.«
»Dad hat aber keine Zelte gekauft«, sagte ich.
»Ich mach mir eine Hütte, so mit schrägem Dach«, sagte er. »Dich lass ich nicht rein.«
Clover sagte: »Ich mache auch Camping.«
»Wird dir nicht gefallen«, sagte Jerry. »Du wirst heulen. Genau wie April.«
»Ich glaub nicht, dass wir Camping machen«, sagte ich.
»Und wofür ist dann all das Zeug hier?«, sagte Jerry. Wir hockten hinten auf der Ladefläche zwischen den Papiertüten und Pappschachteln. »Wohin fahren wir dann?«
»Einfach nur weg von hier.« Nachdem ich es ausgesprochen hatte, glaubte ich es.
April sagte: »Mir gefällt’s hier. Ich will nicht wegfahren. Den Sommer mag ich am liebsten.«
»Charlie weiß nicht alles«, sagte Jerry. »Er ist ein Dummkopf. Deswegen hat er auch Ausschlag.«
Clover sagte: »Ich hab gesehn, wie er dran gekratzt hat.«
»Es ist eine Krankheit«, sagte April. »Geh weg von mir – ich will mich nicht bei dir anstecken!«
Ich hasste es, mit diesen dummen, unwissenden Kindern zusammensitzen zu müssen; bei dem irren Tempo, mit dem Vater durch diese herrlichen Hügel und Felder und Obstgärten raste, die so frisch erblüht waren, dass sie noch keine einzige Blüte verloren hatten, beschlich mich das Gefühl, wir könnten jeden Moment gegen eine Mauer knallen. Ich erwartete etwas Plötzliches und Schmerzvolles, denn in diesen letzten Tagen war alles ungewöhnlich gewesen. Die Kinder hatten davon keine Ahnung, aber ich war mit Vater zusammen gewesen und hatte ihm zugehört und Dinge gesehen, die mit dem, was ich wusste, nicht zusammenpassten. Selbst vertraute Dinge wie diese Vogelscheuche – sie war wie ein Dämon aufgerichtet worden und hatte mir einen furchtbaren Schrecken eingejagt.
Ich sagte: »Irgendwas wird uns passieren.«
»Ich hab ein komisches Gefühl«, sagte Clover.
Ich erzählte nicht, was mir durch den Kopf gegangen war, während Vater in Springfield eingekauft hatte – Vater war ein enttäuschter Mann. Er war wütend und angeekelt. Aber wenn er auf irgendwas Drastisches abzielte, würde er für uns sorgen. Seine Pläne schlossen uns immer mit ein.
Als wir das Städtchen Florence erreichten, fuhr er an den Straßenrand und rief: »Charlie, du kommst mit. Die anderen bleiben hier.«
Vor gut einem Monat hatten wir hier Saatgut gekauft. Heute gingen wir wieder in dasselbe Geschäft. Es war trocken in dem Laden, und er war voller Spinnweben. Es roch nach Sackleinen. Und der Staub von Samen und Schoten reizte meinen Ausschlag; es juckte.
»Sie schon wieder.« Die Stimme kam hinter einem Stapel praller Säcke hervor. Ein Mann tauchte, seine Schürze abklopfend, auf. Tiefe Falten durchzogen sein Gesicht; sein Blick richtete sich sofort auf meinen Giftsumach-Ausschlag.
»Mr Sullivan«, sagte Vater und reichte dem Mann ein Blatt Papier, »ich brauch von jedem fünfzig Pfund. Hybriden, die ertragreichsten, die Sie haben, und wenn sie gegen Mehltau behandelt sind, umso besser. Ich hätte sie gern versiegelt in wasserdichten Beuteln. Ich brauch sie heute noch. Ich mein, jetzt sofort.«
»Sie gehen ran, Mr Fox.« Aus seiner Schürzentasche holte der Mann eine Brille, blies auf die Gläser, schob sich die Bügel über die Ohren und studierte das Blatt Papier. »Das kann ich schaffen.« Über die Brillengläser hinweg sah er Vater an. »Aber Sie und Polski haben da noch einige Arbeit vor sich, wenn Sie all den Samen in den Boden bringen wollen. Ist ein bisschen spät dafür, nicht?«
Vater sagte: »In Australien ist es Winter. In Mozambique ernten sie Kürbisse, und in Patagonien rechen sie die Blätter zusammen. In China ziehen sie sich gerade ihre Pyjamas über.«
»Ich wusste gar nicht, dass Chinesen Pyjamas tragen.«
»Sie tragen nichts anderes«, sagte Vater. »Und in Honduras pflügen sie immer noch.«
»Was soll das?«
Aber Vater beachtete ihn nicht. Aus einem Regal mit Blumensamen suchte er sich Umschläge heraus, auf denen Burpee stand. »Purpurwinden«, sagte er. »Sie lieben den Sonnenschein und werden mich an Dogtown erinnern.«
Mit all den Samensäcken und den Beuteln und Schachteln der Campingausrüstung blieb für uns Kinder hinten auf der Ladefläche des Wagens kaum noch Platz. Mir graute schon vor dem Geschleppe, aber daheim angekommen, sagte Vater: »Lasst alles, wo es ist. Ich zieh eine Plane drüber, für den Fall, dass es regnet.«
»Dad, fahren wir irgendwohin?«, fragte Clover.
»Aber sicher tun wir das, Muffin.«
»Camping?«, fragte Jerry.
»So was Ähnliches.«
»Wieso packen wir dann nicht unsere Koffer?«, fragte April.
»Wenn man seine Koffer nicht packt, heißt das noch lange nicht, dass man nicht verreist. Schon mal was davon gehört, mit leichtem Gepäck zu reisen? Schon mal was davon gehört, alles liegen zu lassen und abzuhauen?«
Zusammen mit Mutter in der Küche hörte ich mir das an. Ich sagte: »Ma, wovon redet er? Wohin fahren wir?«
Sie kam zu mir rüber und drückte meinen Kopf an ihre Schürze. »Armer Charlie. Wenn dir was im Kopf rumgeht, schaust du wie ein kleiner alter Mann aus. Mach dir keine Sorgen, alles wird gut werden.«
»Wohin?«, fragte ich wieder.
»Dad wird es uns sagen, wenn es so weit ist«, sagte sie.
Sie hatte also keine Ahnung! Sie wusste so wenig wie ich. In diesem Augenblick fühlte ich mich ihr sehr nah, und eine Mischung aus Liebe und Traurigkeit durchströmte mich. Aber es war noch mehr, denn sie war vollkommen ruhig. Ihre Loyalität Vater gegenüber gab mir Kraft. Meine Traurigkeit wurde dadurch um nichts geringer, doch ihr Glaube ließ auch mich glauben und half mir, ihre Geduld zu teilen. Trotzdem bemitleidete ich sie, wie ich auch mich selbst bemitleidete, weil ich so gar nichts wusste.
Nachmittags schien Vater locker und entspannt. Er machte keine Anstalten zu arbeiten. Zwei Stunden telefonierte er, was sehr selten vorkam – womit ich nicht sein Kreuzverhör meine, sondern die lange Zeit. »Ich rufe aus Hatfield, Massachusetts!«, sagte er in den Hörer, als riefe er um Hilfe. Normalerweise hätten wir mit dem Lastwagen die Runde durchs Farmgelände gemacht, aber an diesem Nachmittag hatten wir frei. Er sagte uns, wir könnten mit den Rädern herumfahren, und als er seine Telefonate erledigt hatte (»Wir haben Glück!«), ging er in seine Werkstatt und trug seine Werkzeuge zusammen; die ganze Zeit über pfiff er vor sich hin.
Gegen vier Uhr ging er ins Haus. Kurz darauf kam er wieder heraus, einen Briefumschlag in der Hand. Immer noch pfiff er. Er sagte mir, ich sollte den Brief zu Polski rüberbringen.
Polski spritzte, als ich ankam, mit übergestreiften Gummihandschuhen seinen Jeep ab.
»Dein Ausschlag schaut besser aus«, sagte er. »Was hast du da für mich?«
Ich gab ihm den Brief. Er stellte den Schlauch ab und sagte: »Ich wollte dir einen Vierteldollar fürs Jeepputzen geben, aber ich hab heut Morgen keine Spur von dir gesehen.« Er riss den Umschlag auf und hielt den Brief auf Armeslänge weg, um ihn lesen zu können. Auf dem Bogen waren die kühnen Schwünge von Vaters wunderschöner Handschrift zu sehen. Es war nur eine kurze Mitteilung. Und es schmerzte mich, dass Vater mich daran hinderte, so schreiben zu lernen, indem er mir nicht erlaubte, zur Schule zu gehen. Ich wusste, dass er diese elegante Schrift in der Schule gelernt hatte; bei ihrem Anblick kam ich mir armselig und dumm vor.
Polski spuckte und seufzte. Er sagte: »Ich will verdammt sein.« Und: »So also steht’s, ja?«
Sein Gesicht war so grau wie altes Fleisch. Ich wollte gehen, aber er sagte: »Charlie, komm mal her. Ich hab dir was zu sagen. Möchtest du einen Keks? Wie wär’s mit einem ordentlichen Glas Milch?«
Ich sagte okay, obwohl mir der Vierteldollar fürs Jeepwaschen oder auch nur die Erlaubnis, verschwinden zu dürfen, lieber gewesen wär, denn genau wie bei Vater schloss Polskis Freundlichkeit immer eine kleine Lektion ein. Wir gingen zur Veranda hoch. Er setzte mich auf die Schaukel und sagte: »Bin sofort wieder da.« Ich schaute über die Spargelfelder und sah im goldenen Licht des Nachmittags den Fluss und die Bäume. Unser eigenes Haus hockte klein und feierlich in dem Rechteck des Gartens. Es besaß ein goldenes Dach, und das Verandadach war eine Augenbraue, und die Farbe war so weiß wie Salz.
Polski kam mit einem Glas Milch und einem Teller mit Schokoladenplätzchen heraus. Ich trank einen Schluck Milch und nahm ein Plätzchen.
»Nimm noch eins«, sagte er. »Nimm dir, so viel du magst.«
Da wusste ich, dass es eine lange Lektion werden würde.
Er sah mir zu, wie ich zwei Kekse aß. Anscheinend brachte ihn die Art, wie ich sie zermalmte, zum Lächeln, und ich hatte das Gefühl, die Malmgeräusche drangen mir aus den Ohren.
Er sagte: »Ich wollte dir was sagen, Charlie.« Er schwieg und rückte auf der Schaukel dichter an mich heran – so dicht, dass ich das Glas Milch abstellen musste. Er sagte: »Dein Vater hält mich für einen Dummkopf.«
Ich antwortete nicht. Was er sagte, stimmte halbwegs; die ganze Wahrheit war schlimmer.
Er nickte in mein Schweigen hinein, wertete es als ein Ja. Sein Mund verzog sich zu einer lächelnden Warnung, und er sagte: »Lange vor deiner Geburt pflegte man in Massachusetts verurteilte Mörder aufzuhängen. Es klingt schrecklich, aber die meisten von ihnen verdienten es. Hier in der Gegend gab es einen Mann, der Mooney hieß – Spider Mooney nannten sie ihn, ich nehm an, du errätst, warum …«
Ich hatte keine Ahnung, warum; in meinem Kopf formte sich das Bild eines behaarten Mannes auf allen vieren, mit schwarzen hervorquellenden Augen. Polski redete weiter.
»Er lebte mit seinem Vater. Ging nie zur Schule. War nicht viel älter als du, als er mit dem Klauen anfing, zuerst kleine Sachen im Kaufhaus, dann größere Dinge. Er wurde Gewohnheitsdieb. Und dann zum Räuber. Hab ich gesagt, dass sein Vater nicht ganz richtig im Kopf war? Also ja, so war’s, vollkommen hinüber. Schützengrabenneurose sagen die Leute dazu. Wenn man ihn anschrie oder ein lautes Geräusch machte, fiel er um. Knallte wie ein Ziegelstein zu Boden. Und er steckte voller verrückter Ideen. Ganz schöner Hammer, so ein Vater, eh? Als Spider Mooney ungefähr zwanzig war, brachte er einen Mann um. Nicht einfach bloß so, er schnitt ihm mit einem Rasiermesser die Kehle durch. Hätte dem Burschen ums Haar den Kopf abgesäbelt – farbiger Bursche –, hing nur noch an einem kleinen Hautlappen. Die Polizei schnappte ihn mühelos – sie wussten, wo sie suchen mussten! Im Haus seines Vaters, wo sonst? Mooney wurde zum Tode verurteilt. Durch Erhängen.«
Polski sah plötzlich auf und sagte: »Könnte sein, dass da ein bisschen Regen auf uns zukommt.«
Er saß absolut still da, schaute eine ganze Minute lang in den Himmel, ehe er den Faden der Geschichte wieder aufnahm. Jetzt starrte er zu unserem Haus, und das Haus schien direkt zurückzustarren.
»Am Tag, als er aufgehängt werden sollte, banden sie Mooney die Hände zusammen und führten ihn in den Gefängnishof. Es war das alte Charles-Street-Gefängnis in Boston. Es war sechs Uhr morgens. Du weißt, wie miserabel man sich um sechs in der Früh fühlt? Genauso fühlte sich Mooney, bloß noch schlimmer, weil er wusste, dass er in ein paar Minuten am Strick baumeln würde. Sie führten ihn rüber zum Galgen. Unten an den Stufen blieb er stehen und sagte: ›Ich will meinem Vater was sagen.‹«
»Sein Vater war dabei?«
»Jawohl, Sir.« Polski richtete seine schmalen Augen auf mich. »Sein Vater sah sich die ganze Sache an. Als eine Art Zeuge – nächster Angehöriger, verstehst du. Mooney sagte: ›Bringt ihn her – ich will ihm was sagen.‹ Seine letzte Bitte mussten sie erfüllen. Ganz gleich, was ein Verurteilter erbat, sie mussten seinen Wunsch erfüllen. Wenn er im Januar einen Himbeerkuchen wollte, dann mussten sie ein Stück auftreiben, und wenn sie’s von Florida hochschicken ließen. Mooney verlangte nach seinem Vater. Der Vater kam herüber. Mooney schaute ihn an. Er sagte: ›Komm ein bisschen näher.‹
Der Vater trat ein paar Schritte näher.
›Ich will dir was ins Ohr flüstern‹, sagte Mooney.
Der Vater kam ganz nah an ihn heran, und Mooney beugte sich vor und brachte seinen Kopf ganz dicht an das Ohr seines Vaters, so wie man’s macht, wenn man jemand etwas zuflüstern will. Dann stieß der Vater urplötzlich einen Schrei aus, der Tote wieder lebendig gemacht hätte, und taumelte zurück, hielt sich den Kopf und schrie immer weiter.«
Polski ließ seine Worte wirken, obwohl ich mich schon darauf gefasst gemacht hatte, Polski würde mir den Schrei vorführen, damit ich wusste, wie er sich angehört hatte.
Ich fragte: »Was sagte der Sohn zu ihm?«
»Nichts.«
»Aber warum hat dann der Vater geschrien?«
Polski fuhr sich mit der Zunge über die Zähne.
Er sagte: »Weil Mooney seinem Vater das Ohr abgebissen hatte! Er hatte es immer noch im Mund. Er spuckte es aus, und dann erst sagte er: ›Für das, was du aus mir gemacht hast.‹«
Ich sah Spider Mooneys feuchte Lippen, das Blut an seinem Kinn, das kleine verkrümmte Ohr auf dem Boden.
»Biss dem alten Mann das Ohr ab«, sagte Polski.
Er stand auf.
»›Für das, was du aus mir gemacht hast.‹«
Ich blieb auf der schwankenden Schaukel sitzen. Polski war fertig, aber ich wollte mehr hören. Ich wollte einen richtigen Schluss. Aber die Geschichte war zu Ende. Mir blieb nur die Vorstellung des alten Mannes, der zusammengekrümmt seinen Kopf umklammerte, und Mooneys, der an den Stufen zum Galgen innehielt, und des Ohres, das wie ein verdorrtes Blatt auf der Erde lag.
»Dein Vater ist der übelste Bursche, den ich je kennengelernt hab«, sagte Polski. »Schlimmer noch als Zahnschmerzen – ein Alleswisser, der manchmal recht hat.«
Dann, als geriete alles Sägemehl in ihm in Bewegung, fügte er hinzu: »Inzwischen weiß ich, dass er gefährlich ist. Richte ihm das aus, Charlie. Sag ihm, er ist ein gefährlicher Mann, und eines Tages wird er euch noch alle umbringen. Richte ihm aus, ich hätte das gesagt. Und jetzt trink die Milch aus, und ab mit dir!«
Vater saß in seinem Hydraulikstuhl, als ich heimkam. Er paffte eine Zigarre. Eine Rauchwolke hing wie ein Ausdruck von Zufriedenheit über seinem lächelnden Gesicht. Er wedelte den Rauch mit der Hand weg.
»Was hat er gesagt?«
»Nichts.«
Vater lächelte immer noch. Er schüttelte den Kopf.
»Ehrlich«, sagte ich.
»Du lügst«, sagte er sanft. »Das ist in Ordnung. Aber wen versuchst du zu beschützen – ihn oder mich?«
Mein Gesicht war heiß. Ich starrte zu Boden.
Vater sagte: »In vierundzwanzig Stunden spielt all das keine Rolle mehr.«