Читать книгу Moskito-Küste - Paul Theroux - Страница 11

8

Оглавление

Unser Schiff, die Unicorn, legte mitten in der Nacht in Baltimore ab. Die Kabinenwände vibrierten, als würden sie auf den Zähnen einer Kreissäge herumtanzen. Meine Koje grummelte und rüttelte mich wach. Ich drückte mein Gesicht gegen das Bullauge und sah das Schwappen der Dünung; als würde weiße Tünche über schwarzes Eis gespritzt. Ein Nebelhorn heulte, der Klang einer Glockenboje und Gischt, als würden Steinchen in einem Blecheimer geschüttelt. Die Eisentür ratterte, aber von den Kindern wachte keines auf. Am Morgen waren wir auf hoher See.

Und dann, mitten im Ozean, erwachte das Schiff zum Leben. Beim Frühstück war der Speisesaal voll – zwei Familien besetzten die anderen drei Tische. Die eine Familie war sehr groß. Wir stellten uns vor, die Erwachsenen sagten guten Morgen zu Vater und Mutter, und die Kinder schnitten uns Grimassen. Wir waren stille Fremde, sie lärmten und schienen hier richtig zu Hause zu sein. Es waren die Spellgoods und die Bummicks.

»Sie sind Mr Fox«, sagte einer der Männer an unserem ersten Tag auf See zu Vater. »Meinen Namen werden Sie schon vergessen haben. Aber ich erinnere mich an Ihren.«

»Natürlich tun Sie das«, sagte Vater. »Meiner lässt sich auch leichter merken als Ihrer.«

Es war der Reverend Gurney Spellgood. Er war Missionar. Zu jeder Mahlzeit sang er mit seiner Familie – zwei vollbesetzte Tische – einen Choral, ein Danklied, ehe sie über das Essen herfielen. Das Benehmen der Bummicks war noch merkwürdiger, denn diese vierköpfige braungesichtige Familie stritt ständig, und während sie sich gegenseitig an Lautstärke zu übertreffen suchten, fingen sie mittendrin an, sich in einer anderen Sprache anzuschreien. Vater sagte, es sei Spanisch und die Leute seien Mestizen. Mr Bummick, fett wie ein Schwein, erzählte Vater eines Tages auf dem Achterdeck, dass es schon immer sein Wunsch gewesen sei, ein Fenster in Baltimore einzuschmeißen, dann an Bord eines Schiffes zu rennen und abzudampfen. »Sie würden mich nie erwischen!« Vater sagte, wir sollten uns von den Bummicks fern halten.

Außer bei der täglichen Andacht der Spellgoods sahen wir sie selten, abgesehen von den Mahlzeiten. Am zweiten Tag saßen die neun Spellgoods beim Dinner nicht an ihren Tischen.

Vater sagte zu Mr Bummick: »Was ist aus unseren singenden Freunden geworden? Ich nehme an, sie sind seekrank – füttern die Fische, eh?«

Mr Bummick sagte nein, sie seien beim Kapitän. Es gehörte zu den Gepflogenheiten des Kapitäns, seine Passagiere abwechselnd zu sich zum Essen einzuladen.

»Merkwürdig«, sagte Vater, »ich hab daran gedacht, den Kapitän einzuladen, mit mir zu essen. Hab mich aber dagegen entschieden. Mir gefällt seine äußere Erscheinung nicht.«

Die Bummicks starrten ihn an. »Bloß ein Scherz«, sagte Vater.

Er lächelte nie, wenn er einen Witz machte. Tatsächlich klang er besonders mürrisch, wenn er komisch sein wollte. Es war peinlich, die Verwirrung in anderer Leute Gesichter zu sehen und genau zu wissen, dass er scherzte.

Am nächsten Abend aßen die Bummicks beim Kapitän.

»Ich glaube, er hat uns vergessen, Reverend«, sagte Vater zu Gurney Spellgood. »Ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie für uns ein Gebet sprächen.«

»Die Letzten werden die Ersten sein«, sagte Reverend Spellgood und faltete lächelnd die Hände.

Vater sagte: »Einige.«

»Bitte?«

»Männer werden kommen von Norden und Süden und sitzen am Tische des Königreichs Gottes. Und siehe da, einige der Letzten werden die Ersten und einige der Ersten werden die Letzten sein.‹ Lukas.«

Reverend Spellgood sagte: »Ich habe Matthäus zitiert.«

»Sie haben falsch zitiert«, sagte Vater. Sein Fingerstumpf schnellte nach oben. »Matthäus sagt viele, nicht einige. Aber das Beste kommt in Kapitel neunzehn. ›Jeder, der verlassen hat Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Land um meines Namens willen, wird hundertfacher Lohn zuteil, und sein ist das ewige Leben.‹«

Reverend Spellgood sagte: »Das ist meine Losung, Bruder. Sie kennen meine Mission.«

»Trotzdem fiel mir auf«, sagte Vater und wedelte mit seinem Finger in Richtung der zwei Tische mit den Spellgoods – auch eine Oma war dabei –, »dass Sie niemand zurückgelassen haben.« Schnell fügte er hinzu: »Kleiner Scherz.«

Von da an versuchte Reverend Spellgood, Vater in Gespräche über die Heilige Schrift zu verwickeln und bei Andachten an Deck dabeizuhaben. Am nächsten Morgen hielt ihn Reverend Spellgood an, als er auf Deck mit seinen Karten herummarschierte. Ich stand in der Nähe und fischte von der Reling aus.

Vater sagte: »Im Augenblick sehen wir nach nichts Besonderem aus, Reverend, aber Zeit und Erfahrung werden uns glätten, und wir beten, dass wir zu blanken Pfeilen im Köcher des Allmächtigen werden.«

»Hesekiel?«, sagte Reverend Spellgood.

»Joe Smith«, sagte Vater und lachte. »Prophet und Märtyrer und Gründer einer der zwanzig reichsten Gesellschaften der Vereinigten Staaten.«

Gesellschaften – Vater würzte das Wort mit einem Schuss reinen Hasses.

Reverend Spellgood blickte über das Meer hin und sagte: »›Du tratest nieder seine Rosse im Meer, im Schlamm der Wasserfluten.‹«

»Hosea.«

»Nein, Habakuk«, sagte Reverend Spellgood. »Drittes Kapitel.«

»Das ist Chloroform«, sagte Vater. Aber es wurmte ihn, dass er das Zitat falsch eingeordnet hatte. Er wandte sich an Spellgood vor dessen großer Familie und sagte verärgert: »Und wie viele Liegestütze schaffen Sie? Hah!«

Die Spellgoods schwiegen.

Vater sagte: »›Denn des vielen Büchermachens ist kein Ende, und viel studieren macht den Leib müde.‹ Salomo. Außerdem hab ich Wichtigeres zu tun.« Und er widmete sich wieder seinen Landkarten.

Von einer von Reverend Spellgoods Töchtern, einem Mädchen namens Emily mit einem kinnlosen, entenartigen Gesicht, erfuhr ich, wohin die Unicorn fuhr. Es war jetzt heiß und sonnig. Baltimore lag drei Tage hinter uns, und es schien, als wäre aus dem Frühling Sommer geworden. Die Mannschaft lief ohne Hemden herum. Den größten Teil des Tages brachte ich mit Fischen zu.

Emily kam auf mich zu und sagte: »Du fängst ja nie was.«

»Ist zu heiß«, sagte ich, weil ich zuvor immer nur in Bächen oder an schattigen Stellen des Connecticut River gefischt hatte. »Bei heißem Wetter gehn die Fische auf Grund und fressen nichts.«

»Wenn das hier bei dir heiß ist, dann wart mal, bis du nach La Ceiba kommst«, sagte sie.

»Wo ist das?«

»Dort, wo das Schiff hinfährt, Dummkopf. In Honduras.«

Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich diesen Namen; er klang nach einem düsteren Geheimnis.

Dann gesellte sich ein junger Spellgood zu uns. Emily sagte: »Der Junge hier weiß nicht mal, wohin wir fahren!« Beide lachten sie über mich.

Dafür, dass ich jetzt wusste, wohin Vater uns brachte, ließ ich mich gern auslachen. Und nun verstand ich auch die Sache mit Mr Semper und den Wilden. Sie stammten aus Honduras. Vater tauschte die Plätze mit ihnen. Auf der Karte vor der Funkkabine sah Honduras wie die Landstirn auf Vaters Karte aus, nur kleiner, ein leerer Schildkrötenpanzer, von der Seite gesehen, mit Fingerabdrücken kreuz und quer, und La Ceiba ein kleines Pünktchen an der Küste. Vom vielen Betatschen war die Stadt kaum noch zu sehen. Nadeln auf der Karte zeigten, wie wir seit Baltimore vorankamen. Die letzte Nadel steckte in gleicher Höhe wie Florida, deshalb also war es so heiß.

Die See war glatt wie eine Rollschuhbahn – grün nahe beim Schiff, in der Ferne blau. Keine Brise wehte. Das Deck war die reinste Bratpfanne; in der Hitze hatte die Farbe Blasen geworfen. Ich fischte weiter.

Emily Spellgood ließ mich nicht in Ruhe. Sie war ungefähr in meinem Alter und trug dreiviertellange Hosen. Sie sagte: »In La Ceiba ist es viel, viel heißer. Du bist noch nie dort gewesen, aber wir schon. Mein Vater ist dort richtig berühmt. Wir haben eine Mission im Dschungel. Es ist wirklich schön.«

Ich wollte einen Fisch fangen, um ihr etwas unter die Nase halten zu können. Ich zog meine Angelschnur ein und beobachtete die Schwärme der Seemöwen, die uns folgten. Sie hingen starrend über dem Heck, sie kreisten in unserem Kielwasser, sie tauchten nach Abfällen, die aus der Kombüse gespült wurden. Nie ließen sie sich auf dem Schiff nieder, aber sie rissen mir Brotbrocken aus der Hand, wenn ich sie ihnen hinhielt. Vater hasste sie. »Geier!« Aber durch sie kam ich auf eine Idee. Ein paar von ihnen hatte ich dabei beobachtet, wie sie makrelengroße Fische hinter dem Schiff aus dem Meer holten.

Für den Haken nahm ich Speckschwarte – keinen Schwimmer und nur so viel Senkblei, damit ich die Leine auswerfen und schleppen konnte. Emily blieb hinter mir stehen und sagte: »Es heißt Guampu, wir haben ein phantastisches Motorboot und all die Indianer …«

Meine Leine spannte sich. Ich riss an. Zwischen all dem Möwengekreisch ertönte ein menschlicher Schrei. Ich hatte einen Vogel an der Angel. Der Haken musste ihm mitten im Hals stecken, denn als er aufflog, nahm er meine Leine mit, zerrte sie wie eine Drachenschnur hinter sich her und kreischte. Er schlug hart mit den Flügeln und versuchte freizukommen. Er stürzte ins Kielwasser des Schiffes, kam wieder hoch; es sah aus, als würde er über meinen Kopf hinweg fortfliegen. Aber als sich die Leine straffte, taumelte er durch die Luft und stieß jämmerliche Schreie aus. Die anderen Möwen umflatterten ihn närrisch, hackten aus Neugier und Furcht nach seinem Kopf.

Ich ließ die Leine los. Wie ein Forellenköder peitschte sie über das Wasser, und der große, in Panik geratene Vogel strich mit verzweifelten Flügelschlägen, fünfzig Meter Angelschnur mit dem Schnabel hinter sich herzerrend, über die Wellen. Er flog nicht weit. In kurzer Entfernung klatschte er ins Wasser, planschte mit dem Kopf wie eine Hausente und harkte mit den Flügeln die See.

»Du hast ihn getötet«, sagte Emily. »Du hast den armen Vogel getötet. Das bringt Unglück – und grausam ist es auch! Ich dachte, du wärst nett, aber du bist ein Mörder!« Sie rannte das Deck hinunter, und kurz darauf hörte ich sie schreien: »Dad, der Junge hat eine Seemöwe getötet!«

Den restlichen Tag lief ich herum, einen Druck im Hals, als hätte ich einen Haken geschluckt.

Vater sagte: »Bring eine für mich um, Charlie« – wie hatte er es erfahren? –, »aber lass dich von niemand erwischen.«

Als ich das nächste Mal Reverend Spellgood begegnete, sah er mich an, als würde er mich am liebsten über Bord werfen. Dann sagte er: »Hast du Jesus guten Morgen gesagt? Oder machst du bloß wie dein Dad Liegestütze und kehrst dem Herrn den Rücken zu?«

Ich sagte: »Mein Vater schafft fünfzig Liegestütze.«

»Samson schaffte fünfhundert. Aber er war besonders kräftig.«

An diesem Abend waren wir zum Dinner beim Kapitän eingeladen. Zuvor hatte ich ihn nur einmal zur Kenntnis genommen, als er seine Kapitänsmütze trug. Ohne die Mütze, in seiner Khakikleidung, wirkte er wie ein beliebiger Farmer, ein bisschen mürrisch, mit beginnender Glatze, ungefähr in Polskis Alter. Er hatte so gut wie keinen Hals, sodass seine Ohrläppchen bis zum Kragen reichten. Seine blauen Augen waren wimpernlos, was ihm einen Ausdruck gab, als würde er alles, was man sagte, bezweifeln, eine Art fischiges Starren, wie ein kalter Kabeljau auf einer Platte. Er hatte einen kleinen schmalen Mund und Fischlippen, die Luft einsaugten, ohne sich zu öffnen.

Sein Esszimmer hatte eine niedrige Decke, und die Möbel waren so dunkel, dass sie wie gepökelt wirkten – gepökelte Regale, gepökelte Wandschränke und eine gepökelte Holztruhe, auf deren Deckel Capt. Ambrose Smalls stand.

Kapitän Smalls sprach mit einem anderen Mann, als wir das Zimmer betraten. Über einige Pläne gebeugt, standen sie am Tisch, und der Mann, dessen Hemd und Hände schmierig waren, riss sich die Kappe herunter, als er uns sah, redete aber weiter.

»Es müssen die Schweißnähte sein«, sagte er. »Kann mir nicht vorstellen, was es sonst hier sein könnte. Es sei denn, die Pumpe verliert ihre Saugkraft. Glauben Sie, wir sollten das Schott dicht machen?«

»Es ist Nummer sechs – eines der größten«, sagte der Kapitän. »Kontrollieren Sie lieber die Ballasttanks. Sie sagen, es sieht schlimm aus?«

»Im Augenblick ist es nur ein Kondensationsproblem.«

Der Kapitän richtete sich auf und straffte die Schultern. »Die guten Leute hier haben Hunger. Bis später.«

Der Mann rollte seine Pläne zusammen und schob sich aus dem Zimmer.

Vater sagte: »Warum bringen Sie Ihren Problemen nicht das Schwimmen bei, anstatt sie zu ertränken?«

Der Kapitän presste den Mund zusammen und betrachtete Vater mit seinen flachen, wimpernlosen Augen.

»Haben Sie ein Leck in Ihrem Kahn, eh?« Vater runzelte die Stirn – er scherzte.

Der Kapitän sah ihn mit seinen fischigen Augen an. »Eine Bilgenpumpe auf der Backbordseite tanzt aus der Reihe. Nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssten. Mein Problem.«

»Wird wohl eine Zylinderkopfdichtung sein«, sagte Vater. »Seewasser ist Gift für Dichtungen. Zerstört das Material, selbst eure so genannten Wunderfasern. Diese Hitze. Und Dichtungen vertragen keine Nachlässigkeit. Sie sterben einem einfach unter den Händen weg. Aber macht nichts – wir können schwimmen.«

»Keine Zylinder – es ist eine Zentrifugalpumpe. Und wir sind noch nicht mal sicher, ob’s die Pumpe ist«, sagte der Kapitän. »Nehmen Sie bitte Platz.«

Vater entfaltete seine Serviette, indem er sie wie ein Wäschestück ausschlug. Er stopfte sie sich unters Kinn, machte sich ein Lätzchen. Jerry und die Zwillinge machten es ebenso; ich legte meine Serviette über meinen Bauch, so wie Kapitän Smalls es getan hatte. Mutter breitete ihre Serviette über den Schoß. Vater schaute mich an und lächelte, weil ich’s dem Kapitän nachgemacht hatte.

»Müssen die Propellerflügel sein«, sagte Vater. »Oder der Motor. Würde Ihnen nicht raten, das Schott abzudichten. Füllt sich bloß auf, und vor lauter Zufriedenheit stellen Sie die Pumpe ab. Das würde Schwingungen auslösen. Resonanzschwingungen. Würde Ihre Zähne klappern lassen, Ihr ganzes Schiff auf Teufel komm raus …«

»Ihre Suppe wird kalt«, sagte der Kapitän. »Besuchen Sie Honduras zum ersten Mal?«

Vater löffelte Suppe und antwortete nicht.

Mutter sagte: »Es ist mehr als ein Besuch. Wir haben vor, eine Weile dort zu bleiben.«

»Jemals zuvor dort gewesen?«

Vater sagte: »Ich kenn einen Wilden, der einst dort gelebt hat. Und ich hab mal eine Banane aus Honduras gegessen. Schmeckte mächtig gut, also dachte ich mir, warum nicht auswandern?«

Der Kapitän ignorierte ihn. Zu Mutter sagte er: »In vielen Punkten hinkt Honduras fünfzig Jahre hinter unserer Zeit her. La Ceiba ist ein Provinznest.«

»Passt mir ausgezeichnet«, sagte Vater. »Bin selbst ein Überbleibsel aus der alten Zeit. Aber wir gehen nach Mosquitia.«

Mutter starrte ihn an. Das war ihr neu.

»Dort herrscht noch die Steinzeit«, sagte der Kapitän. »Wie Amerika vor den ersten Siedlern. Nur Indianer und Wälder. Keine Straßen. Alles Dschungel.«

»Amerika wird auch immer mehr zum Dschungel«, sagte Vater und runzelte erneut die Stirn.

»Und Sümpfe«, sagte der Kapitän. »Sie sind so schlimm, dass man nie mehr rauskommt, wenn man mal drin ist.«

»Klingt toll«, sagte Vater. Er schien ehrlich erfreut. »Sie kennen das alles wie Ihre Hosentasche, ja?«

»Nur den Küstenstreifen, aber der ist schon schlimm genug. Im Landesinneren werden Sie mich nie zu sehen kriegen. Ein paar von der Mannschaft stammen von dort. Einer sitzt zur Zeit im Schiffsgefängnis. Ich zahl ihn im Hafen aus, und er wird nie wieder einen Fuß auf irgendein Schiff setzen. Eine Menge dieser Kerle machten mir Kopfschmerzen, aber ich hab hier nun mal das Kommando.«

»Muss nett sein, wenn man König im eigenen Land ist«, sagte Vater.

Der Kapitän starrte ihn an, dabei war ich überzeugt davon, dass er es ernst meinte und ihm ein Kompliment gemacht hatte.

»Gurney Spellgood hat da eine Missionsstation. Seine Kirche liegt irgendwo flussaufwärts.«

Vater sagte: »Ich glaube, seine Theologie steht auf wackligen Füßen.«

»Und in welcher Branche sind Sie tätig?«, fragte der Kapitän, verärgert über das, was Vater über Reverend Spellgood gesagt hatte.

Vater gab keine Antwort. Er hasste direkte Fragen, wie beispielsweise: Wohin wollen Sie? Was machen Sie? Und: Wozu ist das? Wir fragten nie.

Um das Schweigen zu brechen, sagte Mutter: »Allie – mein Mann – hat sich immer sehr für die Bibel interessiert. Er und Reverend Spellgood sprachen darüber. Mehr hat er damit nicht sagen wollen. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der tatsächlich Zeugen Jehovas in sein Haus einlädt. Er verhilft ihnen zum Dritten Grad.«

Vater sagte: »Ich hab damit herumexperimentiert, auf ganz allgemeine Art und Weise. Die Bibel ist wie eine Bedienungsanleitung, nicht wahr? Für die westliche Zivilisation. Aber die Sache funktioniert nicht. Und so habe ich überlegt: Wo liegt das Problem? Sind wir es, oder ist es das Handbuch?«

»Und was haben Sie mit Ihrer netten Familie in Mosquitia vor?«

Eine direkte Frage. Aber Vater sah ihr ins Auge.

»Mir die Haare wachsen lassen«, sagte Vater. »Sie werden bemerkt haben, dass ich das Haar lang trage? Es gibt einen Grund dafür. Ich bin viel gereist, aber ich bleib lieber für mich. In Amerika fällt das schwer – all diese persönlichen Fragen. Ich ertrag’s nicht, sie zu beantworten. Was das mit Haaren zu tun hat? Ich werd’s Ihnen sagen. Die Frisöre haben mir immer die meisten Fragen gestellt. Sie veranstalteten regelrechte Interviews mit mir. Aber nachdem ich mir nicht mehr die Haare schneiden ließ, hörten die Fragen auf. Um des lieben Friedens willen, denk ich, werd ich mir einfach weiter die Haare wachsen lassen.«

»Vor ein paar Jahren hatten wir noch einen wie Sie an Bord. Er wollte den Rest seines Lebens in Honduras verbringen. Er ging an Land. Wir übernahmen unsere Fracht. Ananas. Der Bursche kam wieder mit uns mit. Konnte es nicht ertragen. Zwei Tage hielt er durch.«

»Warten Sie nicht auf uns«, sagte Vater, »außer Sie wollen, dass Ihre Ananas verfaulen.«

Der Kapitän sagte: »Einmal habe ich meine Familie auf einen Törn mitgenommen. Sie verbrachten ein paar Tage oben in Tegoose und besichtigten dann die Ruinen. Netter Urlaub.«

»Ich hab eher das Gefühl, wir haben die Ruinen hinter uns gelassen«, sagte Vater. »Und was bittere, gehetzte Nationen anbelangt, kurz bevor wir nach Baltimore kamen, mussten wir noch ein bisschen einkaufen. Wir fuhren nach Springfield, zu einem dieser Einkaufszentren, die mehr Einkaufsirrgärten sind. Wir kauften Schuhe, und als ich die Rechnung zahlte, schaute ich durch eine Tür in den Lagerraum, wo ein schwarzes Brett für die Angestellten hing. In großen Lettern stand da eine Parole: ›Wenn du dem Kunden genau das verkauft hast, was er wollte, dann hast du ihm nichts verkauft.‹ Ein Schuhgeschäft. Am liebsten wär ich in meinen alten Schuhen davongelaufen.«

»Das ist Verkaufsförderung«, sagte der Kapitän.

»Das ist der Ruin«, sagte Vater. »Wir essen, wenn wir keinen Hunger haben, wir trinken, wenn wir nicht durstig sind, wir kaufen, was wir nicht brauchen, und werfen weg, was nützlich ist. Bloß keinem das verkaufen, was er wirklich will – verkauf ihm, was er nicht will. Tu so, als hätte er acht Füße und zwei Mägen und Geld wie Heu. Das ist nicht etwa nur unlogisch – das ist böse.«

»Deshalb gehen Sie also nach Honduras.«

»Wir haben einen Urlaub nötig. Hätten wir Geld, wären wir zur Insel von Juan Fernandez gefahren. Aber wir wollten das Schwein nicht verkaufen.«

Mutter lachte darüber. Sie lachte oft – sie fand Vater witzig.

»Meine Familie ist erwachsen«, sagte der Kapitän. »Meine Frau ist glücklich, wo sie ist, und zwar in Verona, Florida. Und das Schiff hier ist mein Zuhause. Ich hab schon in vielen Häfen festgemacht – die Ostküste, Mexiko, Mittelamerika, durch den Panamakanal und auf der anderen Seite wieder rauf. Ich sage Ihnen, abgesehen von ein paar Palmen mehr oder weniger, ist es aber überall das Gleiche.«

»Sie haben Angst«, sagte Vater. »Wenn ein Mann sagt, die Frauen sind alle gleich, dann zeigt das, er hat Angst vor ihnen. Ich bin in der ganzen Welt rumgekommen. Ich war an Orten, wo es nie regnet, und an Orten, wo es nie aufhört zu regnen. Ich würde nicht sagen, diese Länder sind alle gleich, und die Menschen sind so unterschiedlich wie Hunde. Ich würde nicht fortgehen, wenn ich glaubte, sie wären alle gleich, und wenn ich Schiffskapitän wär, würde ich in meiner Koje bleiben. Ich erwarte, dass verschiedene Orte verschieden sind. Wenn Honduras das nicht ist, werden wir wieder nach Hause fahren.«

»Gurney singt ein Loblied darauf. Bummick arbeitet für die Fruit-Company. Das ist eine andere Geschichte, aber es muss ihm wohl gefallen, sonst würde er nicht bleiben.«

»Wenn genügend Freiraum vorhanden ist, werden wir glücklich sein. In Amerika ist uns der Platz ausgegangen, und ich sagte: ›Haun wir ab!‹ Normalerweise sagen die Leute so was nicht. Ist Ihnen das jemals aufgefallen? Die Amerikaner gehen nie von zu Hause weg. Sie sagen, sie wollen ein neues Leben anfangen. Also gehn sie nach Pittsburgh. Wo ist also das neue Leben? Oder sie ziehen nach Florida und glauben, sie wären emigriert. Wie ich schon sagte, ich bin viel gereist, aber ich hab nie Amerikaner getroffen, die vorhatten, dort zu bleiben, wo sie waren, mit Ausnahme von ein paar Krüppeln und Schwachsinnigen, die sowieso nicht wussten, wo sie waren. Die meisten Amerikaner sind Tauben, die ihren eigenen Schlag suchen, und keiner von ihnen hat den Mut, das zu tun, was wir tun – sich aufzuraffen und für immer in ein fremdes Land zu gehen. Ich vermute, Sie halten das für treulos, aber ein Mann kann nur soundsoviel schlucken. Ich? Schon auf diesem Schiff fühl ich mich besser. Deshalb erzähl ich Ihnen, was ich daheim niemand erzählen konnte. Wenn ich gesagt hätte, ich verschwinde, dann hätten sie mich einen Verbrecher genannt. Die Amerikaner glauben, die Staaten endgültig zu verlassen stellt einen kriminellen Akt dar, aber ich seh keine andere Möglichkeit. Wir brauchen Ellbogenfreiheit, damit wir denken können. Gerade jetzt«, fuhr Vater fort – und nun lachte er –, »denke ich mit meinen Ellbogen, wie Sie vielleicht bemerkt haben!«

Die ganze Zeit über waren die Zwillinge, Jerry und ich an die Wand gequetscht; beim Essen stießen wir uns mit den Armen. Die Zwillinge hatten, genau wie der Kapitän, zerkrümelte Crackers in ihrer Suppe. Aber sie hatten sie nicht gegessen, weil sie wie Spülwasser aussah. Und Jerry, der Würste hasste (Vater sagte immer, sie würden Pferdelippen und Kuhohren reintun), rührte bis auf ein paar Erbsen das Hauptgericht nicht an. Die Kleinen traten sich gegenseitig unter dem Tisch. Ich schämte mich ihretwegen und aß deshalb alles, was der schwarze Kellner vor mich hinstellte. Ich saß am Tischende des Kapitäns, und er lobte mich, sagte, ich hätte ja einen ordentlichen Appetit und würde zu einem großen Burschen heranwachsen, und fragte, ob ich ein Loch im Magen hätte.

Er sagte zu mir: »Wenn du willst, zeig ich dir die Brücke. Ich habe dich fischen sehen. Wir haben Sonar an Bord – du kannst die Fischschwärme auf dem Schirm ausmachen und weißt genau, wann du deine Angel auswerfen musst. Willst du raufkommen?«

Ich fragte Vater, ob ich dürfte.

»Du hast gehört, was er gesagt hat, Charlie. Hier führt der Kapitän das Kommando. Das Schiff ist sein Land. Er kann tun, was ihm gefällt. Er macht die Gesetze. All die Männer hier und Bilgenpumpen gehören ihm, egal, ob sie funktionieren oder nicht.«

»Ich zeig Flagge, die Stars and Stripes, Mr Fox«, sagte der Kapitän. »Ich mach mein Land nicht runter.«

»Ich auch nicht«, sagte Vater.

Der Kapitän saugte langsam Luft ein, dann sagte er: »Ich hab gehört, wie Sie es taten.«

»Ich habe kein Land«, sagte Vater. »Und eines Tages, bald schon, werden Sie auch keins haben, mein Freund.«

Mutter sagte: »Kapitän, ich würde gern unter Deck gehen und die Frachträume, den Maschinenraum und die Mannschaftsräume sehen. Interessiert sicher auch die Kinder. Wäre ein guter Unterricht – sie könnten ein paar Bilder davon machen.«

»Sie müssen wissen, wir unterrichten unsere Kinder selbst«, sagte Vater. »Ich war unzufrieden mit den Schulen. Bloß Spielwiesen und Malen mit den Fingern. Fließbandlehrer, analphabetische Kinder. Der Blinde führt den Blinden. Natürlich kommen sie alle total vermurkst heraus – zum Verzweifeln.«

»Heimunterricht hat seine Grenzen«, sagte der Kapitän.

»Haben Sie’s auch versucht?«, sagte Vater.

Der Kapitän sagte, er fände die öffentlichen Schulen in Ordnung, und: »Ich hab nie irgendwelchen Ärger mit dem Schulsystem gehabt.«

Daraufhin langte Vater zu einem der Borde hoch und zog ein Buch hervor. Er drückte es Clover in die Hand und sagte: »Schlag es auf, Muffin, und lies vor, was du siehst.«

Clover öffnete das Buch und las: »Kompassfehler werden manchmal bei Kompassklakuationen als spa-spezifischer Terminus verwandt. Es ist die al-alga-algabraasche Summe der Vari-variationen und der Dah-viation. Weil Vari-variation von der geegeographischen Lage abhängig ist und Dah-deviation von der Fahrtrichtung des Schiffes …«

»Das genügt«, sagte Vater und klappte das Buch zu. »Fünf Jahre alt. Würd das gern mal von einem Schulkind hören.«

Clover lächelte den Kapitän an.

»Kluges Mädchen«, sagte der Kapitän.

»Nehmen Sie die Energiekrise«, sagte Vater. »Schuld daran sind die Schulen. Windenergie, Wellenenergie, Solarenergie, Gasgewinnung – das läuft alles bloß so nebenbei mit. Es macht ihnen Spaß, darüber zu reden, aber jeder fährt mit arabischem Sprit und dem Öl der Eskimos zur Schule, während sie über Windmühlen quatschen. Überhaupt, was ist so neu an Windmühlen? Die Holländer verwenden sie seit einer Ewigkeit. Die Schulen lehren weiter veraltete Lektionen und hinken hinter den neuesten Entwicklungen her – kein Wunder, dass die Kinder Klebstoff schnüffeln und Drogen nehmen! Ich mach ihnen keinen Vorwurf. Ich würde auch Drogen nehmen, wenn ich mir all diesen Quatsch anhören müsste! Und keiner erkennt, wie einfach alles sein könnte. Also, ich denk nur laut, aber nehmen wir mal den Magnetismus. Haben Sie je ein vernünftiges Wort über magnetische Energie gehört?«

»Generatoren haben Magneten«, sagte der Kapitän.

»Elektromagneten. Sie verbrauchen Energie. Das bedeutet Brennstoff. Ich rede von natürlichen Magneten.«

»Mir ist nicht klar, wie das funktionieren sollte.«

»Von der Größe eines Riesenrads«, sagte Vater.

»Gibt keine in der Größe.«

»Tausend Stück, an einem Räderpaar.«

»Sie würden einfach zusammenhängen«, sagte der Kapitän.

»Da bin ich Ihnen voraus«, sagte Vater. »Man baut sie in verschiedener Winkelstellung ein, über dreihundertsechzig Grad weg, sodass man durch die wechselnden Magnetfelder einen Anziehungs-Abstoßungs-Effekt erhält.«

»Wozu soll das gut sein?«

»Eine Maschine, die ewig läuft, ein Perpetuum mobile. Der Witz ist, dass man mit so was eine ganze Stadt erleuchten könnte. Aber erzählen Sie irgendjemandem davon, und er sieht Sie an, als wären Sie verrückt.« Vater sah den Kapitän an, als wollte er ihn herausfordern, ihn auf diese Art und Weise anzuschauen.

Mutter sagte: »Allie ist ein Erfinder.«

»Ich hab mich schon immer gewundert«, sagte der Kapitän.

»Genau genommen«, sagte Vater, »gibt es so was wie eine Erfindung nicht. Ich mein, es ist keine Schöpfung. Man vergrößert lediglich etwas, das bereits existiert. Bringt die Sachen auf einen Nenner, dass sie zusammenpassen. Sie könnten es in der Schule unterrichten – Edison wollte das ›Erfinden‹ als Schulfach eingeführt wissen, wie Staatsbürgerkunde oder Französisch. Aber die Schulen haben sich fürs Fingermalen entschieden, anstatt den Kindern das Lesen beizubringen. Sie ermutigen Widerreden. Die Schule als Spielplatz! Selbst Harvard ist ein Spielplatz!«

»Der Kapitän bietet dir Kaffee an, Allie.«

Der Kapitän hielt die Kaffeekanne über Vaters Tasse.

Vater sagte: »Ist’s nicht immer so? Man kommt auf ein wirklich ernsthaftes Thema zu sprechen, wie zum Beispiel das Ende der Zivilisation, so wie wir sie kennen, und die Leute sagen: ›Ah, vergiss es – nimm einen Drink.‹ Eine komische Welt. Bin verdammt froh, dass wir ihr auf Wiedersehn sagen.«

»Sie wollen also keinen Kaffee?«, sagte der Kapitän.

»Nein, danke. Das Koffein macht mich nur redselig. Mir gefällt dieses Bananenschiff! Ich geh jetzt zurück in meine Kabine und rauche einen Joint.«

Ich dachte, dem Kapitän würden die Augen rausplatzen.

»Nur ein Scherz«, sagte Vater.

Moskito-Küste

Подняться наверх