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In dieser Nacht öffnete ich die Augen im Dunkeln und wusste, dass mein Vater nicht im Haus war. Das Gefühl, dass jemand fehlt, ist stärker als das Gefühl, wenn jemand da ist. Nicht nur, dass mir sein pfeifendes Schnarchen fehlte (gewöhnlich hörte es sich an wie eines seiner selbstgefertigten Druckventile) oder dass alle Lichter gelöscht waren. Es war ein Gefühl einsamer Leere, als befände sich ein menschenförmiges Loch in der Luft, dort, wo mein Vater hätte sein sollen. Und ich hatte Angst, dass dieser unberechenbare Mann tot war oder schlimmer noch als tot – dass er ausgehöhlt auf dem Grundstück herumgeisterte. Ich wusste, dass er fortgegangen war, und auf eine besorgte schuldbewusste Art – ich war dreizehn Jahre alt – fühlte ich mich verantwortlich für ihn.

Der Mond schien nicht, aber auch so ließ sich das Haus leicht durchsuchen, da es nirgendwo Schlösser gab. Vater missbilligte verschlossene Türen. Er drohte uns Schläge an, wenn wir uns einschlossen. Jemand hinter einer verschlossenen Tür führt nichts Gutes im Schilde, sagte er. Oft brüllte er vor der Badezimmertür: »Verbarrikadier dich bloß nicht da drinnen!« Er war in einem kleinen Fischerdorf an der Küste von Maine aufgewachsen – er nannte es »Dogtown« –, wo verschlossene Türen unbekannt gewesen waren. In den Jahren, die er in Indien und Afrika verbracht hatte, habe er sich auch an diese Regel gehalten, sagte er. Ich wusste nie genau, ob er wirklich dort gewesen war. Ich wuchs auf in dem Glauben, dass die Welt ihm gehörte und dass alles, was er sagte, der Wahrheit entsprach.

In allem, was er tat, wirkte er groß und kühn. Das einzig Gewöhnliche an ihm war, dass er Zigarren rauchte und den ganzen Tag über eine Baseballmütze trug.

Zuerst schaute ich ins Schlafzimmer; nur eine Gestalt lag auf dem Messingbett, eine aufgebauschte Decke – Mutter. Ich war sicher, dass er weg war, weil er stets seine Overalls an den Bettpfosten hängte. Jetzt hing nichts da. Ich ging hinunter und wanderte durch die Räume. Die Katze schlief zusammengerollt auf dem Fußboden. Im Gang blieb ich stehen und horchte. Es war Frühling, und der sanfte Wind trug den kräftigen Duft von Flieder und umgegrabener Erde herein. Die Grillen draußen ließen wahre Tonkaskaden ertönen, und eine wütende, im Innern des Hauses gefangene Grille zirpte mürrisch. Sonst herrschte tiefe Stille.

Meine Gummistiefel standen innen direkt neben der Tür. Ich zog sie an und trabte, immer noch im Pyjama, den Pfad entlang, um meinen Alten zu suchen.

Unser Haus war von umgepflügten Feldern umgeben. Die Ränder eines jeden Feldes waren mit Buschwerk besetzt, das als Windschutz zurechtgestutzt war. Mais und Tabak hatten zu sprießen begonnen, und obwohl man zwischen den Furchen leichter vorankam, hielt ich mich an den Pfad, die Arme schützend vor dem Gesicht, um die Zweige abzuwehren. Nicht die Zweige, die Spinnweben hasste ich, die sich quer über den Weg zogen und mir die Augenwimpern verklebten. Diese Wälder steckten voller morastiger Sümpfe, und die Geräusche dieser Nacht stammten von den Frühlingslaubfröschen, den kleinen schlüpfrigen Fröschen, glänzend wie Fischköder, die ein derartiges Getriller erzeugten. Die Bäume waren blau und schwarz, wie hoch aufragende Hexen. Wo war mein Vater?

Eingehüllt und geschützt von der Dunkelheit, so hatte ich das Haus verlassen, aber je weiter ich ging, desto heller schien es zu werden. Jetzt war das Land schlammig gelb. Manche Bäume waren aschfarben, die Spitzen ragten wie Eisendorne in den schweren, grauen Himmel. Ich konnte ein paar Wolken sehen. Eine hatte die Form eines Brotes, und ich vermutete den Mond dahinter, denn sie leuchtete hell und ölig, als verberge sie eine Fabrikstadt im Himmel.

Nach einer Weile wünschte ich mir, ich hätte das Haus nicht in solcher Hast verlassen. Die Stiefel schlappten an meinen Füßen und machten klatschende Geräusche. Mücken stachen mich durch meinen Pyjama. Brombeerranken hatten meine Arme zerkratzt. Ich hätte meinen Hut aufsetzen sollen – Käfer krabbelten mir im Haar herum. Immer wieder hatte ich das Gefühl, dass jemand hinter mir her war. Ich wirbelte herum, um den grinsenden Totenschädeln auf borkenlosen Bäumen oder den zugreifenden Knochenfingern aus toten Zweigen die Stirn zu bieten. Das war die eine Furcht. Außerdem jagte mir der Gedanke Angst ein, ich könnte auf ein Stinktier treten und von seiner stinkenden Flüssigkeit getroffen werden. Dann hätte ich meinen Pyjama in einem Loch vergraben und splitternackt nach Hause gehen müssen.

Der Wald wurde dünner. Ich sah einzelne Bäume vor dem Himmel und eine weitere Reihe vor einem gelblichen Feld. Ein Haufen Felsbrocken verriet, wo ich mich befand. Dieser Hügel war übrig geblieben, weil er sich unmöglich pflügen ließ. Er war schmal und stieg vom Waldrand her steil an; das Ganze wirkte wie ein Schiff. Bei Tageslicht war es, von der Seite gesehen, ein Schoner mit steinernem Bug, einer Fracht auf Deck und dreißig belaubten Masten – gestrandet im Spargelfeld, zwischen den Windbrechern, die wie Inseln aussahen.

Die meisten Felder hier waren Spargelfelder. Es war so weit, die Ernte hatte begonnen. Ein merkwürdiger Anblick, denn der Spargel wächst nicht in Furchen und Reihen. Die Felder sind flach und glatt wie ein Parkplatz. Aus der Entfernung kann man Spargelpflanzen nicht erkennen, erst wenn man nah herankommt, sieht man die Spitzen – keine Blüten, keine Blätter –, einfach nur dicke grüne Kerzen, die überall aus dem Boden hervorbrechen. Von meinem Standort sah ich nichts als die glatte, plattgewalzte Erde und ihr stumpfes Schimmern – es war die Dünung in einem wellenlosen Meer. Und hinter diesen Feldern erstreckte sich das schwarze Band der Nacht; dort, so fürchtete ich, befand sich mein Vater.

Leuchtkäfer flimmerten durch die Nacht. Sie waren winzig und leuchteten nicht sehr hell, schwächer als ein Streichholzflämmchen, flackerten an und aus, nie zweimal an der gleichen Stelle. Sie hatten ihr eigenes Licht, erhellten aber nichts von ihrer Umgebung, schwache, unzuverlässige Sterne, die in der Dunkelheit starben.

Aber ein Haufen kleiner Lichter in der Ferne erstarb nicht. Sie schwankten; es waren Fackeln, und als ich sicher war, dass sie von Männern getragen wurden, machte ich mich auf den Weg zu ihnen, quer durch die Spargelfelder, ohne Rücksicht auf die Spitzen, die ich umtrat, wobei meine Stiefel tief in die Erdkruste einsanken.

Als ich näher kam, sah ich, dass die Flammen alle in einer Reihe flackerten – eine Prozession von Leuten, einzeln hintereinander, die Fackeln über ihre Köpfe hielten, deren Flammen wie Fahnen im Wind flatterten. Die breitkrempigen Hüte wurden beleuchtet, aber die Gestalten konnte ich nicht erkennen. Sie strömten aus einem Pinienwäldchen, in dem ein altes Gebäude stand, das wir das Affenhaus nannten.

Männer mit Fackeln, die um Mitternacht durch die Felder des Tales marschierten – nie hatte ich etwas Ähnliches gesehen. Es war wie eine Flammenschlange, und ich glaubte, ein Klappern zu hören, wie Bohnen, die in einer Büchse geschüttelt werden. Meine Neugierde überwog meine Angst, außerdem hatte ich mich so gut versteckt und war immer noch so weit entfernt, dass ich mich nicht bedroht fühlte.

Die Prozession hielt sich jenseits einer Steinmauer, die sich zwischen den Feldern hindurchzog – Spargel hier, junger Mais dort. Ich musste bleiben, wo ich war. Wenn sie mich entdeckten, so stellte ich mir vor, würden sie über mich herfallen und in Brand stecken. Dieser Gedanke und die Gewissheit, dass ich hier in Sicherheit war, ließen mich erschauern. Ich bückte mich, rannte bis zum Graben, legte mich flach hin und hielt Ausschau.

Dann änderten sie die Richtung und kamen auf mich zu. Hatten sie mich rennen sehen? Mein Herz setzte fast aus, als die Fackeln durch ein Tor in der Steinmauer schwankten, und ich dachte: O Gott, sie werden mich verbrennen.

Rückwärts kroch ich in den Graben; und während ich dort lag, sickerte das Grabenwasser oben zu meinen Stiefeln herein. Bald schon waren meine Stiefel voller Wasser. Aber ich gab keinen Laut von mir. Eine der Lieblingsgeschichten meines Vaters handelte von einem Spartanerjungen mit einem Fuchs unter dem Hemd, ich weiß nicht mehr, warum und wieso der sich von dem Tier den Bauch zerfetzen ließ, weil er zu tapfer war, um nach Hilfe zu rufen. Was waren dagegen nasse Füße. In der Nähe wuchsen ein paar niedrige Kletterpflanzen. Ich wusste, dass meine Beine in Schlamm und Wasser versunken waren, also zerrte ich an den Ranken, zog sie mir über den Kopf und presste mich flach an den Grabenrand. Ich war vollständig verborgen.

Die Männer kamen immer näher. Sie schnatterten und schwätzten immer noch – es hörte sich froh und glücklich an –, und das Zischen der Fackeln drang an meine Ohren, die Flammen klangen wie Bettlaken, die an der Wäscheleine flatterten – kein Knacken und Knistern, bloß das Schlagen des Feuers. Ich schaute auf. Ich war darauf gefasst, Fackelträger mit wirren Gesichtern zu erblicken, aber was ich sah, ließ mich beinahe einen Schrei ausstoßen. Der Mann ganz vorn trug ein riesiges schwarzes Kreuz.

Das Kreuz war nicht aus Brettern gemacht, sondern rund – zwei kräftige, zusammengebundene Stämme. Die Stellen, wo die Äste abgehackt worden waren, leuchteten schrecklich weiß, wie ovale Wunden auf der Haut. Und hinter dem Mann mit dem Kreuz, noch erschreckender, schleppte ein Mann einen menschlichen Körper, der schlaff über seiner Schulter hing, mit baumelndem Kopf und Füßen und schwingenden Armen. Er trug die Leiche so wie einen Sack mit Saat; groß und weich und schwer. Es war furchtbar, wie die Glieder hin und her pendelten. Im Schein der Fackeln leuchtete das Gesicht des Trägers gelb. Er lächelte.

Ich mochte nicht mehr hinschauen. Ich zitterte vor Kälte. Du kannst aus Feuer Eis machen, sagte Vater. Jetzt glaubte ich ihm. Dieses Feuer ließ meine Eingeweide erstarren.

Ich hielt den Kopf unten und den Mund geschlossen, obwohl ich schlammbedeckt und nass und von Insekten zerstochen war. Ich hatte die Hitze gespürt und die Fackeln gerochen – so nah waren sie. Dann waren sie verschwunden. Langsam sah ich hoch und entdeckte das Flackern ihrer Fackeln in dem schiffsförmigen Wald, durch den auch ich gekommen war. Die Äste tanzten im Feuerschein, und diese springende Linie heißglühender Streifen und Schatten wanderte zur anderen Waldseite hinüber, wo sie als flackernde Lichtpunkte zur Ruhe kam und leuchtete.

Ich befreite mich von den Ranken, kroch aus dem Graben und leerte meine Stiefel aus. Dann watete ich den Graben entlang, so weit es ging, und schlich schließlich über das Spargelfeld zum Wald. Mittlerweile befand sich die Prozession hinter den Bäumen. Zurückgeblieben war nur noch der Geruch benzingetränkter Lumpen und verbrannter Blätter. Mein Versteck an dieser Stelle war gut. Hinter einem Felshaufen verborgen, konnte ich alles genau sehen.

Zwei der Männer standen vornübergebeugt. Sie mussten den Toten an das Kreuz gebunden haben, denn kurz darauf sah ich im Schein des Fackelkreises, wie das Kreuz mit einem Mann daran hochgezogen wurde; seine Hände waren gebunden, die Füße hingen hinunter, der Kopf zur Seite weggekippt.

Es sah schlimm aus, und ich erwartete, dass die Männer toben und schreien würden. Aber nein, alles blieb still, fast fröhlich, und das war schlimmer, wie in einem Albtraum, den man durchmacht und den man nicht erklären kann. Bei all dem Hin und Her war meine Angst, entdeckt und bei lebendigem Leib verbrannt zu werden, so groß gewesen, dass ich ganz vergessen hatte, weshalb ich hier war. Genau in dem Moment, wo ich zu dem erhobenen Kreuz hinsah, fiel mir wieder ein, dass ich meinen Vater suchte. Die Erinnerung und der Anblick kamen im gleichen Augenblick, und ich dachte: Der verkrümmte Tote dort ist mein Vater.

Ich saß da, presste die Hände auf die Augen und versuchte, die Tränen zu stoppen, aber ich schluchzte weiter, bis sich mein ganzer Kopf klein und nass anfühlte. Ohne zu wissen, warum, dachte ich, dass man mir die Schuld für alles geben würde.

Außer zusehen und zuhören konnte ich nichts tun. Ich hatte mich an den düsteren Anblick gewöhnt, und je länger ich hinsah, desto mehr fühlte ich mich dafür verantwortlich, so als wäre es meiner Phantasie entsprungen, ein böser Gedanke, der erst in meinem Kopf lebendig geworden war. Und dass ich alles beobachtete, machte mich zum Komplizen.

Für Sorgen blieb keine Zeit. Auf einen Schlag löschten die Männer die Fackeln. Nach dem Flammenschein und den Schatten und dem erleuchteten Kreuz gab es jetzt nur noch Hemden und Hüte zu sehen – skelettweise Lumpen, die sich ohne Körper bewegten –, und Schweigen, als diese in Lumpen gehüllten Männer auf mich zuströmten.

Ich sprang auf und rannte um mein Leben.

Ich bin der letzte Mann! Oft genug hatte Vater das gerufen.

Ich lag wieder in meinem Bett, in dem dunklen, unversperrten Haus; es schmerzte, nicht mehr zu träumen, sondern zu denken. Ich kam mir klein und geschrumpft vor. Vater, der glaubte, dass es in Amerika Krieg geben würde, hatte mich auf seinen Tod vorbereitet. Den ganzen Winter über hatte er gesagt: »Es kommt – etwas Schreckliches wird hier geschehen.« Er war ruhelos und redselig. Er sagte, die Zeichen mehrten sich. Die hohen Preise, die Gereiztheit, die Sorgen tief im Bauch. Und die Dummheit und Gier der Leute und ihre Fettleibigkeit – wie die Schweine. Blutige Verbrechen wurden in den Städten begangen, und Verbrecher blieben unbestraft. Es würde kein normaler Krieg sein, sagte er, sondern einer, an dem niemand unschuldig sei.

»Dicke Dummköpfe werden ausgehungerte Verbrecher bekämpfen«, sagte er. »Die einen wirst du hassen und die anderen fürchten. Es wird zu einem nationalen Hirnschaden kommen. Wer bleibt da noch, dem man vertrauen könnte?«

Es klang angeekelt, und in den dunklen Wochen dieses weißen Winters versank er manchmal in düstere Stimmungen. Eines Tages froren Tiny Polskis Wasserleitungen ein, und Vater wurde geholt, um sie zu enteisen. Wir standen im Schnee, am Rande der frisch ausgehobenen Grube, und schlossen die Rohre an Vaters »Donnerbüchse« an, um sie aufzutauen. (Dieses Gerät war seine eigene Erfindung, und er war stolz darauf – Patentantrag lief noch –, obwohl er bei der ersten Anwendung damit ums Haar Ma Polski umgebracht hätte, deren Hand auf einem Wasserhahn lag, als er Saft draufgab.) Er beobachtete, wie sich die Rohre erhitzten und zu dampfen begannen. Eis knackte innen und knisterte und rasselte wie Kiesel. Voller Vergnügen lauschte er den Schmelzgeräuschen in den Rohren, dann wandte er mir am Rande der schneeverkrusteten Grube sein Gesicht zu.

»Wenn es soweit ist, werden sie mich als Ersten töten. Sie bringen immer zuerst die Cleveren um – diejenigen, bei denen sie Angst haben, sie könnten von ihnen überlistet werden. Dann, wenn sie niemand mehr aufhalten kann, werden sie sich gegenseitig in Fetzen reißen. Werden dieses schöne Land in eine Müllgrube verwandeln.«

Aus seinen Worten sprach keine Verzweiflung – er stellte nur eine Tatsache fest. Der Krieg war Gewissheit, aber noch hoffte er. Er sagte, er glaube an sich selbst und an uns. »Ich werd euch fortbringen – wir werden zusammenpacken und verschwinden. Und wir werden hinter all dem die Tür zuschlagen.«

Ihm gefiel der Gedanke, sich aufzumachen, wegzuziehen, irgendwo an einem unberührten Ort neu anzufangen, mit nichts anderem als seinem Verstand und seiner Werkzeugkiste.

»Mich werden sie als Ersten erwischen.«

»Nein.«

»Die Cleveren erwischen sie immer zuerst.«

Das konnte ich nicht leugnen. Er war der klügste Mann, den ich kannte. Es konnte nicht anders sein, er musste als Erster sterben.

Ehe ich die Prozession um Mitternacht und den Toten am Kreuz sah, hatte ich mir nicht vorstellen können, wie jemand in der Lage sein sollte, ihn umzubringen. Aber diese Nacht reichte dafür völlig aus. Nun war ich überzeugt; ich fühlte mich allein. Der stärkste Mann, den ich kannte, war an zwei Baumstämme gebunden und in einem Maisfeld zurückgelassen worden. Es bedeutete das Ende der Welt. »Ich bin der letzte Mann, Charlie!«

Die dunklen Stunden verstrichen. Bald schon würde es Morgen sein, ich musste jedermann ins Gesicht sehen und ihnen sagen, dass Vater es vorausgesagt hatte. Ich lag im Bett und dachte daran, dass Vater gesagt hatte, das Land sei dem Untergang geweiht. Er hatte versprochen, uns zu retten und uns hinauszubringen, ehe es zu spät war. Aber er war nicht mehr da, und ich war zu schwach, die anderen zu retten, und in dem Traum, in den ich mich schließlich im kalten Morgengrauen flüchtete, führte ich Mutter und die Zwillinge und Jerry durch brennende Felder unter einer wunden Sonne und einem blutroten Himmel, und unsere Kleider hingen in Fetzen, und überall war Rauch, und wir hatten nichts zu essen. Sie verließen sich auf mich, und nur ich wusste Bescheid, hatte aber Angst, ihnen zu sagen, dass ich den falschen Weg eingeschlagen hatte, weil es zur Umkehr zu spät war.

An dem zerrissenen rotschwarzen Himmel tauchte das spöttische Gesicht meines Vaters auf, nachdem wir stundenlang gelaufen waren, und sagte: »Wo bist du gewesen, Sonny?«

Ich bedeckte die Augen. Ich träumte immer noch, alles tat mir weh, Mutter und die Kinder hinter mir, vor mir die Katastrophe und kein Ausweg, keine Rettung.

»Wo bist du gewesen?«

Ich erwachte und sah sein Gesicht, sonnenverbrannt und ärgerlich, und setzte mich auf, weil ich damit rechnete, geschlagen zu werden – ich hatte Angst, er sei tot, dann Angst, weil er drohend vor mir stand. Seine Zigarre machte mir klar, dass ich nicht träumte. Ich war zu entsetzt, um in Tränen auszubrechen.

»Ich hatte einen schlimmen Traum.«

Und ich dachte: Alles ist nur ein Traum gewesen – die Männer mit den Fackeln, der Tote am Kreuz, die lachenden Wilden, die blutige Sonne und der Himmel. Ich war sehr glücklich. Der Sonnenschein schimmerte durch die Vorhänge, Vögel kreischten überall.

»Du musst von Giftsumach geträumt haben«, sagte Vater. »So einen schlimmen Fall hab ich noch nie gesehn.«

Während er noch sprach, spürte ich die Schmerzen. Mein Gesicht fühlte sich körnig und verletzlich an, und meine Arme ebenso.

»Nicht hinlangen. Damit breitest du’s nur aus. Raus aus dem Bett, und zieh dir was an.« Er ging aus dem Zimmer, und während ich meine Kleider anzog, sagte er: »Du hast dich in den Büschen herumgetrieben – das ist’s.«

Das lose Brett an der Schwelle sagte mir, dass alles normal war. Ich roch Kaffee und Schinken und hörte die Zwillinge kreischen; in meinem ganzen Leben war ich noch nie so froh gewesen. Ich ging ins Bad. Mein Gesicht sah im Spiegel wie ein Granatapfel aus, meine Arme und Schultern flammten vom Ausschlag des Giftsumachs. Ich rieb die Stellen mit Zinkspat ein und ging in die Küche.

»Ein Gespenst«, sagte Jerry beim Anblick meines weißen Gesichts.

»Du Ärmster«, sagte Mutter. Sie stellte einen Teller mit Eiern vor mich hin und gab mir einen Kuss auf den Kopf.

Vater sagte: »Ist seine eigene Schuld.«

Aber es war nicht der Rede wert. Nach allem, was ich gesehen hatte, war mein Ausschlag wie eine Erlösung.

»Iss auf«, sagte Vater. »Die Arbeit wartet.«

Ich wollte arbeiten, die Werkzeugkiste tragen und ihm das Ölkännchen reichen und sein Sklave sein und alles tun, was er von mir verlangte. Ich verdiente es, bestraft zu werden. Ich wollte die Fackeln und die Männer vergessen. Ich war wieder dreizehn Jahre alt. Ich hatte mich wie vierzig gefühlt.

Vater sagte: »Komm in die Werkstatt, wenn du fertig bist.«

»Armer Charlie«, sagte Mutter. »Wo hast du dir diesen Ausschlag geholt?«

Ich sagte sanft: »Ich hab mich in den Büschen herumgetrieben, Ma. War meine eigene Schuld.«

Sie schüttelte den Kopf und lächelte. Sie wusste, dass es mir leid tat.

»Ma!«, schrie Jerry. »Charlie starrt mich mit seinem weißen Gesicht an.«

Vaters Werkstatt lag hinter dem Haus. Sprüche und Zitate auf Pappkarton waren an Bretter und Regale geheftet; Werkzeug und Rohre und Drahtspulen und verschiedene Geräte lagen herum. Neben allen möglichen Motoren und einer Schmierpresse und seiner Drehbank, die der Werkstatt das Aussehen eines Arsenals gaben, standen hier auch seine Donnerbüchse und ein Allzweckapparat, den er als seinen »Atomzertrümmerer« bezeichnete.

Auf dem Boden, so groß ungefähr wie eine Truhe, stand hochkant eine Holzkiste, an der er fast den ganzen Frühling hindurch gebaut und herumgebastelt hatte. In ihrem Inneren waren keine Drähte und kein Motor. Mit einem Schweißbrenner hatte er alles zusammengeschweißt, lauter Rohre und Gitter und Tanks, darunter Kupferröhren und eine Tür, die zu einer oben angebrachten Blechschachtel führte. Es roch nach Kerosin, und ich hielt es für eine Art Ofen, weil an der Rückwand ein rußiges Ofenrohr angeklammert war. Vater sagte, wir müssten dieses Ding auf den Pick-up-Truck schaffen.

Ich versuchte, die Kiste anzuheben. Sie rührte sich nicht.

»Willst du dir einen Bruch heben?«, sagte Vater.

Er ließ sich Zeit; mit übertriebener Sorgfalt baute er Block und Flaschenzug auf ein Dreibein, und wir schwangen die Kiste mit den eingepassten Rohren auf den Wagen.

»Was ist das?«

»Nenn es eine Kühlanlage. Du wirst’s erfahren, wenn Doktor Polski Bescheid weiß.«

Er nahm den hinteren Weg, fuhr auf den Traktorspuren am Rande der Felder auf Polskis Farmhaus zu. Als wir an dem wie ein Schiff gebauten Windschutz vorbeikamen, fiel mir ein, dass ich hier die Prozession fackeltragender Männer gesehen hatte. Unterhalb des Gehölzes hatten sich die Männer versammelt, und der Tote war am Kreuz aufgerichtet worden. Ich hoffte, Vater würde die rechte Weggabelung einschlagen, damit ich sicher sein konnte – beim Anblick von Fußspuren oder zertretenem Mais –, dass ich nicht geträumt hatte. Vater wandte sich nach rechts. Ich hielt den Atem an.

Was war das da in dem umgepflügten Feld? Ein Kreuz, ein Toter hing daran, schwarze Lumpen und ein schwarzer Hut, ein Knochenschädel und gebrochene Hände und verdrehte Füße.

Ich erstarrte; ich stammelte und zitterte, als ich ihn fragte, was das war.

Vater fuhr noch immer schnell die Wagenspuren entlang. Er wandte nicht den Kopf. Er grinste bloß und sagte: »Erzähl mir nicht, du hättest noch nie eine Vogelscheuche gesehen.«

Er trat aufs Gas.

»Und es muss eine verdammt gute sein.«

Ich blickte zurück und sah sie im leeren Feld hängen, die alten Kleider mit Stroh ausgestopft. Mein Hautausschlag vom Giftsumach juckte vom Schweiß, und am liebsten hätte ich mir das Gesicht zerkratzt.

»Sie hat dich ganz schön erschreckt!« Er lachte.

Moskito-Küste

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