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b) Der Einzelne als Rechtsträger, Staats- und Unionsbürger

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Die Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts seit 1949, seine Europäisierung und der Versuch, die Verwaltung als „Dienstleister“ zu begreifen, haben allerdings dazu beigetragen, diesen Bezugsrahmen des Verwaltungsrechts zu verschieben und den Einzelnen stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Insofern kann man von einer démocratie administrative im Werden sprechen.[415]

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Konstitutionalisierung und Europäisierung haben das Verwaltungsrecht aus seinem Selbststand befreit und in die größeren Zusammenhänge des Verfassungs- und des Unionsrechts eingeordnet. Sie haben seit Beginn der 1970er-Jahren der Figur des besonderen Gewaltverhältnisses in der Schule, dem Strafvollzug und dem öffentlichen Dienst den Boden entzogen oder ihren Anwendungsbereich doch wesentlich eingeschränkt,[416] einen Ausbau individueller Klagemöglichkeiten vorangetrieben und die Stellung des Einzelnen im Verwaltungsverfahren gestärkt.

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In eine vergleichbare Richtung zielt der an britische Traditionen anknüpfende, eher kulturell inspirierte Versuch, die Verwaltung weniger als gemeinwohlverpflichtete Obrigkeit zu begreifen, denn als Dienstleisterin am Bürger, wie dies paradigmatisch in der Dienstleistungsrichtlinie (Richtlinie 123/2006/EG) zum Ausdruck kommt, aber auch in den (verwaltungsinternen) chartes, die in Frankreich die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen dem service public und seinen Nutzern zum Gegenstand haben.[417] Auf diese Weise wird der Bürger ein Stück mehr zu einem Partner der Verwaltung auf Augenhöhe.

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Es passt in dieses Bild, dass die italienische Verfassung ein horizontales Subsidiaritätsprinzip anordnet, nach dem die Verwaltung „die autonome Initiative sowohl einzelner Bürger als auch von Vereinigungen bei der Wahrnehmung von Tätigkeiten im allgemeinen Interesse fördert“ (Art. 118 Abs. 4 Cost.). Das zielt darauf ab, den Bürger vom einfachen Adressaten der Verwaltungstätigkeit zu einem aktiven Rechtssubjekt und Förderer von Tätigkeiten zu Gunsten der Allgemeinheit zu machen.[418]

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Im modernen europäischen Verwaltungsrecht ist der Einzelne so mehr und mehr zum entscheidenden Bezugspunkt des Verwaltungshandelns avanciert. Das ist vielleicht noch nicht überall hinreichend präsent. Im deutschen Verwaltungsrecht, das in besonderer Weise durch die Hervorbringung des Rechtsstaats geprägt ist, wird Verwaltung bis heute weniger als Konkretisierung demokratischer Selbstbestimmung begriffen, denn als obrigkeitliche Bedrohung individueller Freiheit.[419] Dass dieser Grundansatz die Wirklichkeit nicht mehr (vollständig) erfasst, zeigt sich jedoch am tendenziellen Rückgang einseitiger und dem Ausbau konsensualer Handlungsformen, an der Aufwertung des Einzelnen im Verwaltungsverfahren, dem Ausbau der Informationsfreiheitsrechte und den Transparenzanforderungen an das Verwaltungshandeln. Die Verabschiedung der Figur des „administré“ im französischen Verwaltungsrecht[420] ist, so gesehen, weit mehr als eine bloß semantische Neuerung. Sie ist Ausdruck einer grundlegenden Neuausrichtung des Verwaltungsrechts, in dem Über- und Unterordnungsvorstellungen von Staat und Bürger nicht mehr zeitgemäß erscheinen.

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