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Das Rotkehlchen.
ОглавлениеIn jeder richtigen Bauernstube gibt es Schaben. Die wohnen an dem grossen Ofen. Mit Insektenpulver liessen wir uns nicht ein. Da hätte der Hund oder die Katze dran lecken können, oder die kleine Bertha konnte denken, das sei Kuchenstreusel. Wir fingen im Herbst mittels eines Vogelkastens ein Rotkehlchen. Der Grossvater sagte: „Das ist vernünftig; denn erstens macht es Spass, zweitens braucht es im Winter nicht zu frieren und zu hungern, und drittens frisst es die Schwaben.“ Hierzu muss bemerkt werden, dass in Schlesien die Schaben „Schwaben“ heissen. Wahrscheinlich heissen in Schwaben die Schaben „Schlesinger“. Es wäre nicht mehr als recht und billig.
Wenn wir nun das Rotkehlchen im Kasten hatten, trugen wir es sorgsam nach Hause. Unterwegs redeten wir dem verängstigten Tierchen gut zu. „Fürcht’ dich nicht! Sollst es gut haben, fast so gut wie unser Hund!“ — „Und“, sagte ich, „die Katze mache ich morgen tot.“ Da zwinkerte der Grossvater das Rotkehlchen an und sagte: „Schwindel! Lass dir nichts vorreden!“
Dann liessen wir das Rotkehlchen in der grossen Bauernstube, die sechs Fenster hatte, fliegen. Es wurde bald so zahm, dass es auf den Tisch kam und sich sein Teil wegholte. Alle passten auf die Katze auf. Der Hund war ein so dummguter Kerl, dass ihm das Rotkehlchen auf den Kopf flog und ihn ins Ohr piekte. Höchstens dass er mal leise brummte: „Lass das! Es zwickt mich!“ Aber das Rotkehlchen liess es nicht. Da liess sich der Hund zwicken. Das Rotkehlchen flog wie ein kleines, rotbrüstiges Wunder den ganzen langen Winter durch unsere Stube. Manchmal sahen wir drei, das Rotkehlchen und ich und der Hund traurig durch die Eisblumen zum Fenster hinaus und wünschten, dass es Sommer würde. Aber gleich darauf waren wir alle wieder lustig.
Das ging so bis zum St. Georgstag, dem 23. April. An diesem Tage ist für die schlesischen Bauern der Winter aus. Ich erhielt dann stets vom Grossvater die Erlaubnis, nach Belieben barfuss zu gehen, und an diesem Tage wurde das Rotkehlchen entlassen. Ich trennte mich mit grossem Schmerz von dem lieben Tierchen. Dem Hunde war’s egal. Traurig sagte ich zum Grossvater: „Die Schwaben sind zwar weg, aber sie haben doch in die Risse hinter dem Ofen Eier gelegt. Da werden wieder Kleine! Vielleicht eine Million!“
„Zwei Millionen,“ sagte der Grossvater; „aber wenn ich dich jetzt den ganzen Sommer über einsperrte und du solltest von zwei Millionen eben ausgekrochener Schwaben leben, da würdest du abmagern.“
„Es war diesmal ein so tüchtiges Rotkehlchen,“ sagte ich noch. Aber auch das nutzte nichts.
Da liessen wir’s dann fliegen, und ich rannte hinterher und fand es nicht mehr und setzte mich ins junge Frühlingsgras und weinte ein wenig um den entschwundenen Freund. Der aber war im Freien, im Grünen.