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Siebtes Kapitel

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Durch die morschen Fensterläden der Flüsterkneipe an der Ecke drang das Klacken von Billardkugeln. Jemand zupfte ein Banjo. Daman Rourke hatte gerade seinen Bearcat in die Garage gebracht und war unterwegs zu seinem kreolischen Cottage in der Conti Street im Faubourg Tremé, einem alten Viertel von New Orleans, in dem die weißen Plantagenbesitzer früher ihre farbigen Geliebten untergebracht hatten.

So früh am Morgen war die Straße unter der verzierten Eisenkolonnade noch kühl, und die nassen Laken, die über dem Balkon des benachbarten Bordells hingen, flatterten im Wind. Rourke ging über den Bürgersteig aus Backstein, in Gedanken an seinen Bruder versunken ... Seinen Bruder, der mit den Familien aus seiner Gemeinde nur zu gern das Brot zu brechen schien, von Rourke aber noch nie eine Einladung zum Abendessen angenommen hatte.

Paulie hatte sich geweigert, einen Fuß in das Cottage zu setzen, weil ihre Mutter darin gewohnt hatte, nachdem sie ihre Söhne im Stich gelassen hatte. Weil sie dort dreißig Jahre lang mit ihrem verheirateten Liebhaber in Sünde gelebt hatte. Jetzt war ihre Mutter weg, und das Cottage gehörte Rourke, also musste er wohl irgendeinen Weg gefunden haben, ihr zu vergeben. Nicht dass sie ihn je um Vergebung gebeten hätte. In einem ihrer letzten Gespräche hatte sie erklärt, sie bereue nichts.

Die farbige Frau von gegenüber, die sich ein bisschen mit Voodoo beschäftigte, schrubbte gerade den Vorplatz mit pulverisierten Ziegeln und Wasser. »Wenn du die ganze Nacht bourrée spielst, solltest du lieber mein gris-gris kaufen, das bringt Glück«, rief sie herüber.

»Woher willst du wissen, dass ich die Nacht nicht mit einer Dame verbracht habe?«, rief Rourke zurück.

»Dafür hab ich auch was. Lässt deinen Knochen strammstehen und salutieren.«

Rourke lachte und warf ihr eine Kusshand zu, bevor er das verzierte Eisentor öffnete. Der gewölbte Ziegelpfad führte in den Hof, wo Remy Lelourie einem kleinen Mädchen, das einen blauen Pullover und eine Baseballkappe von den Pelicans trug, gerade einen Jo-Jo-Trick vorführte, bei dem man das Spielzeug wie einen Hund an der Leine führte.

Rourke blieb im purpurnen Schatten der Bougainvillea-Ranken stehen. Die Sonne sprengte gelbe Lichtteiche auf das Kopfsteinpflaster, und das Gelächter vermischte sich mit dem Rascheln der Bananenblätter und dem Wasser, das in dem eisernen Springbrunnen plätscherte.

Das kleine Mädchen sah ihn zuerst. Ihr voller Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln, das ihn beinahe umwarf.

»Daddy!«

Sie rannte ungestüm auf ihn los, und er fing seine Tochter Katie auf und drückte sie an sich. Umarmte sie fest. Sie duftete süß wie zerdrückte Erdbeeren.

Remy Lelourie kam langsam näher. Sie trug einen leuchtenden Pullover in Orange und Rot und eine Art Männerhose, die ihre schlanken Hüften und den Po sanft umfing und unglaublich sexy wirkte.

»Hallo«, sagte er.

Sie hob das Kinn und neigte den Kopf zur Seite. Auf ihrem kurzen Haar thronte verwegen ein rotes Barett. »Selber hallo.«

Katie wand sich in seinen Armen. »Ich hab’s dir doch gesagt, Miss Remy, ich hab gesagt, er kommt gleich nach Hause.«

»Klaro, das stimmt, Schätzchen«, meinte Remy in gespieltem Gangsterton. »Und jetzt ist er hier und grinst wie ein Opossum, das eine Hornisse erwischt hat.«

Rourke lachte. Als er Katie absetzte, stieß er ihr die schmutzige Baseballkappe vom Kopf, die sie sogar nachts im Bett trug. Er fing sie auf, bevor sie zu Boden fiel, und wollte sie ihr gerade wieder aufsetzen, da entdeckte er, dass ihre Zöpfe – ihre wunderbaren dicken braunen Zöpfe, die bis zur Taille reichten – verschwunden waren.

»Jesus. Was ist mit deinem Haar passiert?«

Sie lachte ein verspieltes Kleinmädchenlachen. »Ich hab mir einen Bubikopf gemacht. Genau wie Miss Remy.«

»Sie hat sich einen Bubikopf gemacht«, sagte Remy mit belustigtem Blick. »Ganz allein.«

Es sah aus, als wäre sein Kind wie ein Schafscherer zu Werke gegangen. Mein Gott, stellenweise schimmerte sogar die rosa Kopfhaut durch. Es wächst nach, sagte er sich. Am liebsten hätte er geheult.

»Gefällt es dir nicht, Daddy? Ich finde es schnieke.«

Er beugte sich vor und küsste den verwüsteten Kopf seiner Tochter. »Es ist das Grüne vom Ei«, sagte er.

Lachend hieb sie ihm die Faust in den Bauch. Sie liebte den Slang, den sie im Radio aufschnappte, und benutzte ihn so oft wie möglich. »Du bist doof. Und sagst es total falsch. Es ist das Gelbe vom Ei.«

»War es nicht das Blaue vom Himmel?«

Sie schlug noch einmal zu, diesmal fester. »Mrs. O’Reilly sagt, zum Glück hätte ich einen Hut.« Sie schnitt eine Grimasse in Richtung Küche, wo das neueste Kindermädchen hinter den grünen Jalousien hantierte. »Ich mag Mrs. O’Reilly nicht.«

Rourke hatte es vorausgesehen: Mrs. O’Reilly war eine vierzigjährige Witwe aus der Grafschaft Kerry, die sanft wie ein irischer Morgen war und daher große Hoffnungen in ihm geweckt hatte, als er sie vor nur drei Tagen einstellte. In letzter Zeit hatte seine Tochter ihre Kindermädchen so schnell verschlissen, dass die Bettlaken noch nicht gewechselt waren, bevor die Nachfolgerin erschien. Katie, die diesen Frauen den Krieg erklärt hatte, erwies sich als richtiger kleiner Napoleon.

Er hatte eine Ahnung, warum sie es tat, bei der ihm gar nicht wohl zumute war. Katies Mutter, seine Frau, war vor sechs Jahren gestorben, nur ein Jahr nach Katies Geburt. Rourke empfand die Verantwortung, die er als Vater trug, als die beängstigendste Herausforderung, die man ihm je gestellt hatte.

Katie hatte ihn an die Hand genommen und wollte ihn zu der Bank neben dem Springbrunnen ziehen, wo ein Drachen mit dem Muster der amerikanischen Flagge lag. »Komm schon, Daddy, bevor der Wind ganz weg ist.«

»Katie.« Er hielt sie an den Schultern fest und drehte sie zu sich herum. Dann kniete er sich vor sie, sodass er auf einer Höhe mit ihr war. Sie hatten vorgehabt, an diesem Morgen am Congo Square ihren neuen Drachen steigen zu lassen, und nun musste er sie enttäuschen. Wieder einmal. »Kleines, ich kann heute leider doch nicht. Gestern Nacht habe ich einen großen Fall erwischt und muss wahrscheinlich das Wochenende durcharbeiten.«

Ihre Unterlippe bebte, sie riss sich von ihm los.

»Katie, wie wär’s, wenn du heute mein Gast bei den Dreharbeiten zu Die Piratin wärst?«, frage Remy und nahm sie bei der Hand. »Wir filmen heute das große Schwertduell.«

Katie zog die Hand weg und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein. Ich lasse mit meinem Daddy meinen Drachen steigen.«

Rourke fuhr ihr mit dem Handrücken über die Wange. »Wir machen es an einem anderen Samstag –« Versprochen. Er konnte das Wort, das ihm so leichtfertig über die Lippen wollte, gerade noch hinunterschlucken. Katie neigte dazu, über seine Versprechen streng Buch zu führen, und er stand inzwischen tief in der Kreide.

»Ich sag dir was«, fuhr er fort. »Mit leerem Magen kann ich keine Bösewichte fangen. Sollen wir uns bei Buglin’ Sam ein paar Waffeln holen?«

Er lächelte und hoffte, ein Katie-Lächeln dafür zu ernten, doch es kam nicht.

Buglin’ Sam setzte sein Armeehorn an die Lippen und blies ein blechernes Wecksignal über den Jackson Square. Katie rannte lachend zu dem Pferdewagen und biss, als Rourke und Remy sie einholten, schon herzhaft in eine heiße Waffel mit Zuckerguss. Buglin’ Sam, der Waffelverkäufer, hatte seinen Wagen gegenüber der Saint-Louis-Kathedrale abgestellt, neben dem Eisenzaun, der den Platz umgab, und hoffte nun, die Kirchgänger mit seinen Köstlichkeiten anzulocken. Allerdings gab es Konkurrenz, denn die Luft war erfüllt von verführerischen Düften: nach Kaffee, Brot und Erdbeeren von den nahe gelegenen Ständen des French Market; nach boudin und Käse von der Central Grocery. Gleich neben Buglin’ Sam briet eine Frau im roten Turban Austern, Schinken und Eier über einem Feuer, das in einer Öltonne brannte.

Rourke kaufte Waffeln für sich und Remy. Sie schlenderten Hand in Hand dahin und schauten sich die Aquarelle und Kohlezeichnungen an, die aufstrebende Künstler an den Zaun neben dem Verkaufswagen gehängt hatten. So früh am Samstagmorgen waren nur wenige Leute unterwegs, doch sie hatten alle den Filmstar in ihrer Mitte bemerkt und zeigten flüsternd auf Remy. Rourke hasste diese Seite ihres Lebens, doch was konnte er schon dagegen unternehmen?

Er wusste nicht, was sie an diesem Morgen in sein Haus geführt hatte, und fragte auch nicht danach. Es fühlte sich einfach gut an, ihre Hand zu halten. Nein, mehr als gut, er war der Ekstase nahe. Und zwar der erwachsenen Form, in der sich Zufriedenheit und Zärtlichkeit mit einer Traurigkeit mischen, die von dem Wissen rührt, dass die guten, die schönen Augenblicke, nicht ewig dauern, sondern nur vorüberstreifen.

»Daddy, röstest du die Bösewichte bei lebendigem Leib, wenn du sie gefangen hast?«, frage Katie und berührte ihn mit ihren klebrigen Fingern.

Verblüfft schaute Rourke auf sein kleines Mädchen mit dem zuckerverschmierten Mund und der schief sitzenden Baseballkappe hinunter. Sie hatte die Augen ihrer Mutter, grau-grün mit goldenen Lichtern und so wandelbar wie der See an einem Wolkentag.

»Katie, wo ...« Er wusste, wo. Keine zehn Meter entfernt stand ein Zeitungskiosk mit einer vergrößerten Titelseite der Morning Tribune – die fette Schlagzeile lautete AUF DEM TODESSTUHL LEBENDIG GERÖSTET. Auf dem Foto darunter hatte man den Kopf eines Negerjungen auf einen Männerkörper montiert, der auf dem elektrischen Stuhl saß. Es war der Kopf des Schornsteinfegers Titus Dupre, der heute um Schlag Mitternacht im städtischen Gefängnis von New Orleans wegen der Vergewaltigung und des Mordes an Nina Duboche hingerichtet werden würde. Alle Welt glaubte, er hätte sogar zwei Mädchen auf dem Gewissen, obwohl man ihn nur wegen des einen Falles verurteilt hatte, da die Leiche des anderen Opfers nie gefunden worden war.

Hinrichtungen wurden grundsätzlich in der Gemeinde vollzogen, in der der Gefangene verurteilt worden war. Daher würde an diesem Morgen ein elektrischer Stuhl samt Generator angeliefert. Normalerweise wurden Verbrecher in Louisiana gehängt, doch die Befürworter des elektrischen Stuhls, die den Tod am Galgen als grausam und archaisch bezeichneten, hatten den Gesetzgeber überzeugt, den neuen Apparat an dem siebzehnjährigen Titus Dupre zu testen.

Rourke wusste nicht, was er seiner Tochter sagen sollte, und sah Remy Hilfe suchend an, doch sie wurde gerade von einer Band abgelenkt, die unter den Stuckbögen des French Market tanzte und mit Waschbrett und Topfdeckeln musizierte.

Katie hatte ihre Frage ohnehin schon vergessen und führte Buglin ’ Sam ihren neuen Jo-Jo-Trick vor. So blieb es ihm vorübergehend erspart, seiner siebenjährigen Tochter zu erklären, weshalb der Staat Louisiana einen Jungen auf einem Eichenstuhl festschnallen und zweitausend Volt durch seinen Körper jagen würde.

Rourkes Blick wanderte zu der Band. Die Schuhe der tanzenden Jungen schlurften über den Gehweg, die Flaschenverschlüsse unter den Sohlen ließen Funken sprühen. Hinter ihnen hackte ein Metzger unter dem Dach des French Market an einer blutigen Rinderhälfte herum.

Gütiger Gott, er hatte von einem Querbalken gehangen, an den Handgelenken festgenagelt wie ein Tierkadaver. Ein Priester. Und wo war Gott gewesen, als man ihm das angetan hatte? Wo war Gott gewesen?

Rourke holte tief Luft und atmete langsam aus. Er war müde. Katie fütterte Tauben mit Bröckchen von ihrer Waffel. Er rief sie, weil es Zeit war, nach Hause zu gehen.

»Warte, Day. Bevor wir gehen ...«

Remys Stimme klang so eindringlich, dass ihm die Haare zu Berge standen, noch bevor sie ihm den Umschlag gegeben hatte. Ihr Name stand in verschnörkelter Schrift darauf, aber es gab weder Adresse noch Briefmarke. Der Umschlag war aufgeschlitzt und enthielt ein einzelnes Blatt Papier.

»Was ist das?«, fragte er.

»Den habe ich letzte Nacht auf meiner Frisierkommode gefunden«, sagte sie. »Besser gesagt, heute Morgen. Er muss während der Party in mein Schlafzimmer gelangt sein. Und als alle gegangen waren, rief er mich an und fragte: ›Hast du meinen Brief bekommen, Remy?‹«

Rourke faltete das Blatt auseinander und las die einzelne, kalligraphisch gestaltete Zeile: Hast du schon Angst, Remy? Und die Unterschrift in größeren, kühneren Buchstaben.

»Wer ist Romeo?«

»Das ist es ja, Day – ich habe keine Ahnung. Ich kenne den Namen nur aus dem Stück, und das ist eines der wenigen Shakespeare-Dramen, die ich nicht gespielt habe. Bis auf ein Vorsprechen in New York, aber das ist Jahre her, ich stand noch ganz am Anfang. Sie haben sich nicht mehr bei mir gemeldet.«

»Und die Stimme hast du nicht erkannt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein ... vielleicht. Sie klang gedämpft, als spräche er durch Watte, aber da war etwas an der Art, wie er meinen Namen sagte ... Keine Ahnung. Eigentlich ist es nur so ein Gefühl.«

Rourke hielt das Blatt gegen das Licht. Es hatte ein Wasserzeichen, das man zurückverfolgen konnte, und die Tinte sah seltsam aus.

»Wer immer er auch sein mag, er ist wohl auf ein Spiel mit mir aus«, sagte sie.

Rourke meinte, eine gewisse Erregung in ihrer Stimme zu hören, die ihm ganz schön Angst machte. In mancher Hinsicht kannte er Remy Lelourie besser als sich selbst. Sie hatten schon mit einem geladenen Revolver russisches Roulette gespielt und versucht, schneller als ein herannahender Zug zu laufen. Keiner von ihnen hatte je ein Risiko gescheut.

»Spiel nicht mit, Remy.«

Sie lachte ihr helles, flapsiges Lachen, das ihm nicht immer gefiel. »Und das aus dem Mund eines Mannes, der letzte Nacht um ein Haar gegen einen Baum gefahren wäre. Ich dachte, Hollywood mit seinen Champagnerbädern, dem Tango und den Schmusepartys in der lila Morgendämmerung wäre aufregend, aber es geht doch nichts über New Orleans. Ich komme heim und lande als Erstes im Gefängnis, weil ich meinen Mann ermordet haben soll. Und jetzt will man anscheinend mich ermorden.«

»Verdammt, Remy«, sagte er mit gesenkter Stimme, weil Katie gerade auf sie zukam, gefolgt von Tauben, die ihre Krümel aufpickten. Er stopfte Brief und Umschlag in seine Manteltasche.

»Der Kerl will deine Aufmerksamkeit erregen, aber den Gefallen solltest du ihm nicht tun. Ich kümmere mich darum.«

Seine letzten Worte kamen ihm idiotisch vor: Ich kümmere mich darum. Daman Rourke, der edle Ritter. Remy Lelourie hatte sich ihr ganzes Leben lang um sich selbst gekümmert und das mit einer beängstigenden Rücksichtslosigkeit; nicht einmal hatte sie einen Mann um Hilfe gebeten oder diese gebraucht. Er rechnete schon damit, dass sie auf ihn losgehen würde, doch sie lächelte nur.

Er betrachtete ihr Gesicht, so überirdisch schön, dass es manchmal wehtat, sie anzusehen. Es war, als starrte man mitten in die Sonne.

Sie musste geglaubt haben, er wollte ihr etwas Unerfreuliches sagen, denn sie legte ihm unvermittelt die Hand auf den Mund. »Aber ich liebe dich«, sagte sie.

Aber? Aber ich liebe dich. Himmel, was sollte das nun wieder heißen?

Er ergriff ihre Handgelenke, führte ihre Finger an die Lippen und küsste sie, dann ließ er sie los. Ihre Hand umschloss seinen Kuss. Dann schaute sie hoch zu den Doppeltürmen der Kathedrale, die in der Sonne glitzerten, und tat etwas Eigenartiges. Sie hob langsam die Hand und öffnete sie, als ließe sie eine Hand voll Schmetterlinge frei.

In diesem Moment erklangen die Kirchenglocken. Der Vogelschwarm um Katie erhob sich mit lautem Geflatter und verdunkelte die Sonne.

Rourkes Augen brannten, weil er die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, und selbst nachdem er geduscht, sich rasiert und den Smoking gegen einen cremeweißen Leinenanzug getauscht hatte, fühlte er sich noch schmutzig. Die letzten Tage waren für Anfang Oktober kühl gewesen, doch nun schien die Sonne den Wind zu besiegen, und der Morgen wurde heiß.

Seine Bedrücktheit wuchs, als er den Mob vor dem Kriminalgericht und dem benachbarten Gefängnis entdeckte, der ihm den Weg ins Büro versperrte. Die meisten der lärmenden, polternden Zuschauer waren nur aus Neugier gekommen, um den neuartigen elektrischen Stuhl zu sehen, der gleich im Gefängnis angeliefert werden sollte. Vor dem Eingang zum Gerichtsgebäude in der Tulane Street, in dem sich die Zentrale der Polizei und das Dienstzimmer der Ermittler befanden, gärte hingegen ein spürbarer Zorn.

Rourke fand einen Parkplatz in der Canal Street gegenüber dem neuen Saenger Theatre. Als er ausstieg, kam ein magerer Junge mit Sommersprossen und Segelohren, der an der Ecke Zeitungen verkaufte, herbeigelaufen. »Für einen Dollar pass ich drauf auf, Lieutenant«, rief der Junge. Er liebte den Bearcat.

»Klar doch«, meinte Rourke. »Aber nur von außen. Letztes Mal war das Lenkrad ganz klebrig.«

Rourke gab dem Jungen vier Vierteldollarmünzen und wollte schon gehen, als er das riesengroße Plakat auf dem Dach des Kinos entdeckte. Man hatte vierundzwanzig Einzelteile gebraucht, um die Wand zu bekleben, und nachts erleuchtete ein starker Scheinwerfer es wie hundert Sonnen, sodass es praktisch von jeder Straßenecke in Downtown zu sehen war.

Remy Lelourie überlebensgroß.

Er spürte, dass er sie verlor. Wenn Die Piratin abgedreht war, würde sie nach Hollywood in ihr Leben mit Champagnerbädern, Tango und Schmusepartys in der lila Morgendämmerung zurückkehren. Und wenn sie ihn wieder so verließ wie beim letzten Mal, würde sie sich nicht einmal verabschieden.

Mit seinen rostroten Backsteinen und den Sandsteintürmchen erinnerte das Gebäude des Kriminalgerichts an ein mittelalterliches Schloss. An diesem Morgen befand es sich im Belagerungszustand. Viele Männer in der Menge trugen weiße Gewänder mit Kapuzen und schwarzen Kreuzen auf der Brust. Ihre spitzen Hüte bewegten sich im Rhythmus ihrer Lieder und der Trommelschläge. Auf den Plakaten, die sie in die Höhe reckten, standen Parolen, von denen »Brenn, Nigger, brenn« noch die harmloseste war.

Der Ku-Klux-Klan war wieder da, und mit doppelter Kraft.

Das Eingangsportal mit den drei Bögen war mit Holzböcken verbarrikadiert. Darum herum standen einige nervöse Streifenpolizisten, denen die Uniformhemden am Körper klebten. Ein stiernackiger Mann mit Hasenzähnen, der gelbe Leinenschuhe und purpurrote Hosenträger über einem gelben Hemd zur Schau trug, heftete grobe Zeichnungen, auf denen ein Schwarzer zu sehen war, der von einem Ast baumelte, an die Holzböcke. Keiner der Polizisten hinderte ihn daran.

Einige Klan-Jungs riefen einer Frau, die die weiße Schärpe des Humanitarian Cult über der Brust trug, hässliche Schimpfwörter zu. Sie versuchte vergeblich, Broschüren zur Abschaffung der Todesstrafe unter die Leute zu bringen, und teilte verbal nach allen Seiten hin aus.

Rourke hatte sich bis zu den Barrikaden vorgearbeitet, als er jemanden aus dem Augenwinkel erblickte – einen großen, schlaksigen Negerjungen mit langen, filzigen Locken, der Zylinder und Frack, die Kluft der Schornsteinfeger, trug. Cornelius Dupre, Titus’ kleiner Bruder.

Vierzig Prozent der Einwohner New Orleans’ waren farbig, aber Cornelius Dupre schien in dieser Menge der einzige Schwarze zu sein. Rourke konnte sich nicht vorstellen, dass er gekommen war, um sich den elektrischen Stuhl, auf dem sein Bruder hingerichtet werden sollte, genauer anzusehen. Ihre Blicke begegneten sich, und er las puren Hass in den Augen von Cornelius Dupre.

Rourke wollte mit ihm reden, doch in diesem Moment beging die Frau vom Humanitarian Cult den Fehler, eines der Lynchplakate abzureißen, worauf der hasenzähnige Mann im gelben Hemd knurrend auf sie losging. Einer der Streifenpolizisten wollte ihn festhalten, doch er schüttelte ihn einfach ab. Der Polizist prallte gegen Rourke und wäre auf den Hintern gefallen, wenn der Ermittler ihn nicht aufgefangen hätte.

»Schlag drauf«, sagte Rourke und zog den Polizisten auf die Füße.

Der junge Mann sah sich um, er wirkte bestürzt und verängstigt. »Was?«

Inzwischen hatte die Frau das Plakat fallen gelassen, doch der Hasenzahn ließ nicht von ihr ab. Rourke spürte die rohe Energie der Menge, der Klan-Männer, die allmählich in Fahrt kamen und richtig unangenehm wurden. Der hasenzähnige Mann schnappte der Frau die Broschüren weg und fing an, sie zu zerreißen. Die Spucke spritzte nach allen Seiten, als er sie in kaum verständlichen Worten, aus denen nur »niggerliebende Hure« herauszuhören war, beschimpfte. Die Frau spuckte zurück, wobei sie den Mann mitten ins Auge traf. Sie versuchte, ihm die Broschüren wieder zu entreißen. Der Mann brüllte auf, schmiss die Pamphlete in den Rinnstein und ballte die Faust.

Bevor er der Frau ins Gesicht schlagen konnte, hatte Rourke dem Polizisten den Gummiknüppel aus dem Gürtel gezogen und dem Hasenzahn einen Schlag hinters Ohr versetzt, worauf dieser in die Knie ging.

»Steh auf«, sagte Rourke, »sonst schlage ich noch mal zu. Nur kannst du dann eine Woche nicht aus den Augen gucken.«

Einer der Klan-Männer machte einen drohenden Schritt auf Rourke zu, erkannte jedoch die Gewalt in dessen Augen und wich zurück. Rourke starrte die Klan-Leute an, bis sie wegschauten und sich mit schlurfenden Schritten von der Frau entfernten, die gelassen auf der Straße kniete und den Rest ihrer Schriften gegen die Todesstrafe auflas.

Rourke hielt dem Streifenpolizisten den Knüppel hin. »Falls noch jemand Unruhe stiftet, verhaftet ihr ihn gefälligst wegen Körperverletzung, Anstiftung zur Meuterei, Widerstand gegen die Staatsgewalt oder was immer euch einfällt.«

Der junge Polizist riss die Augen noch weiter auf und wischte sich mit zitternder Hand über den Mund, bevor er seinen Knüppel entgegennahm. Rourke schaute sich nach Cornelius Dupre um, doch der Junge war verschwunden.

Rourke ging zwischen den Holzböcken hindurch und die flachen Stufen zum Gerichtsgebäude hinauf, schaute hoch und entdeckte Fiorello Prankowski, der ihn mit leidendem Gesichtsausdruck an der Tür erwartete.

»Mann«, sagte Fio, »das wird ein langer, übler Tag.«

Im Dienstzimmer unterhielt Detective Nate Carroll seine Kollegen gerade mit einer Schilderung seiner aufregenden Nacht.

»Also, ich sehe mir diesen Typen an. Er hockt am Küchentisch, im Kopf ein Messer, so groß wie ein Elefantenpimmel, da höre ich ein Geräusch hinter mir. Ich drehe mich rum, und da steht die Frau des Toten und hat eine verdammt große Scheißaxt in der Hand, und ich lese Mord in ihren Augen ...«

Er legte eine Kunstpause ein und wartete auf das nächste Stichwort.

Der Dienst habende Sergeant grinste mit geschwollener Backe, in der ein Pfriem Kautabak steckte. »Also hast du ihr Honig ums Maul geschmiert, damit sie die Axt weglegt, und jetzt kriegst du einen Orden vom Gouverneur.«

Nate Carrolls rundliches Babygesicht wirkte ernst, und seine roten Locken wippten, als er den Kopf schüttelte. »Himmel, nein. Ich hab die Fliege gemacht und Verstärkung geholt.«

Der Sergeant spie einen Strahl brauner Spucke in die Kaffeedose neben seinem Schreibtisch, bevor er loslachte. Dann entdeckte er Rourke und Prankowski, die auf dem Weg zu ihren Schreibtischen waren. »Der Leichenfresser will euch sehen, bevor er den Gekreuzigten aufschneidet. Ist total aus dem Häuschen. Ruft praktisch alle fünf Minuten an.«

Der Gestank im Labor des Leichenbeschauers traf Rourke wie ein Schlag ins Gesicht. Seine Augen tränten, die Nase brannte.

Der Leichenfresser stand in einer Wolke aus Zigarettenrauch und heftete gerade die Fotos vom Tatort an eine große Korkplatte, die fast eine ganze kotzgelbe Wand einnahm.

»Ach ja, die Herren Detektive«, sagte er, als die Ermittler durch die eisenbeschlagene Tür eintraten, die auch in ein Verlies gepasst hätte. »Danke, dass Sie gekommen sind.« Er deutete auf den stählernen Obduktionstisch, auf dem die sterblichen Überreste von Father Patrick Walsh lagen. Ein fleckiges Tuch ließ nur den Kopf der Leiche frei. »Sie müssen sich das Corpus Delicti noch einmal anschauen.«

Die beiden Ermittler folgten dem Leichenbeschauer zum Tisch. Der Fliesenboden war kürzlich abgespritzt worden, doch keine Seife und kein Wasser der Welt würden je die Spuren von Blut und anderen Körperflüssigkeiten aus den Fugen spülen.

Der Leichenfresser zog an dem Tuch, worauf Rourke die Hände in die Hosentaschen stieß und die Zähne zusammenbiss. Er hasste den Anblick von Leichen, vor allem von Leichen, die auf Tischen im Leichenschauhaus lagen.

Das Tuch war weg, und Rourke sah auf die nackte, weiße Leiche hinunter. »Grundgütiger.«

»Da leck mich doch einer«, stieß Fio hervor.

»In der Tat«, sagte der Leichenfresser. »Ihr ermordeter Priester ist eine Frau.«

Im Dunkel der Tod

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