Читать книгу Im Dunkel der Tod - Penelope Williamson - Страница 12
Achtes Kapitel
ОглавлениеFür eine Frau war Father Patrick Walsh groß und grobknochig gewesen, mit breiten Schultern, schmalen Hüften und kleinen Brüsten. Sie hatte ein unscheinbares Gesicht mit kantigen Zügen. Ihr kurzes Haar, das die Farbe von welkem Laub hatte, schmiegte sich eng an den knochigen Kopf. Rourke erkannte, dass die Täuschung funktioniert haben musste, solange sie aufpasste, dass niemand sie nackt sah.
»Wie Sie sehen, hatte sie kleine Brüste«, sagte der Leichenfresser, »und sie waren zusätzlich mit einer Sportbandage umwickelt, um sie noch flacher zu machen. Unter der Soutane trug sie Männerunterwäsche. Die Unterhose war unberührt.«
»Dann wurde sie also nicht vergewaltigt, bevor man sie ermordete?«, fragte Rourke, der dem Gedankengang des Leichenbeschauers gefolgt war.
»Ich habe keinerlei Anzeichen gefunden, weder für eine Vergewaltigung noch für freiwilligen Geschlechtsverkehr. Ihre Menstruationsblutung hatte gerade eingesetzt. Sie war eine normale, voll entwickelte Frau, jedenfalls im physischen Sinne. Mit offenkundig funktionierender Gebärmutter und Eierstöcken.«
Rourke schaute zwischen ihre Beine, wo sich unter dem spärlichen Schamhaar eindeutig eine Vulva abzeichnete. Über ihren Bauch zogen sich dünne, silbrig schimmernde Linien. »Sieht aus, als hätte sie irgendwann ein Baby geboren.«
»O ja, ganz sicher«, bestätigte der Leichenfresser. »Ich habe einen vernarbten Dammriss festgestellt, aber der liegt schon lange zurück.« Der Leichenbeschauer vergrub sich immer tief in seine Fälle, doch so aufgeregt wie heute hatte Rourke ihn noch nie erlebt. Sein massiger Körper wogte, als er auf den Zehenspitzen auf und ab wippte. »Ich schätze sie auf Anfang vierzig. Falls sie das Kind früh geboren hat, könnte es jetzt ein erwachsener Mann sein. Oder natürlich eine erwachsene Frau.«
Fio rieb sich mit seiner großen Hand übers Gesicht. »Oh, Jesus, das ist übel. Das ist schlimmer als jede heiße politische Kartoffel, das ist eine verdammte ... ach, ich weiß auch nicht. Eine ganz üble Sache.«
»Das ist ja herrlich. Absolut wunderbar.«
Captain Dan Malone stützte die Ellbogen auf seinen grauen Metallschreibtisch und fuhr sich durch das zerzauste, sandfarbene Haar. Er war ein liebenswerter Mann mit den guten Manieren des Südstaatlers und einer unglaublich hohen Toleranzschwelle. Nie war ihm ein übles Wort gegen seine Leute über die Lippen gekommen, und das in einem Zimmer voller Cops, die keinen Satz ohne Schimpfwort zu Ende brachten.
Doch selbst die verträglichsten Menschen stoßen irgendwann an ihre Grenzen, und Malone sah aus, als stünde er kurz davor. »Dieser Kreuzigungsmord – ein Priester, Gott steh uns bei – hat bei denen da oben schon genügend Unruhe gestiftet. Die Drähte zum Rathaus laufen heute Morgen heiß, und jetzt erzählt ihr mir auch noch, dass er eine Sie war. Himmelarsch.«
Er ließ die Hände sinken und schaute zu seinen Ermittlern hoch, als wären diese, nur weil sie ihm die Neuigkeit überbracht hatten, auch für die Folgen verantwortlich.
Rourke hockte auf einer Backe auf dem Besucherstuhl. Fio stand mit verschränkten Armen im Türrahmen. Die Tür von Malones Büro war geschlossen, die Jalousien am Fenster zum Dienstzimmer waren heruntergelassen. Aus dem offenen Fenster, das zur Straße hinausging, drang das Johlen und Grölen der Menge herauf, dazwischen eine einsame Stimme, die mit einem Lautsprecher zum Gebet aufrief.
»Habt ihr das wirklich gesehen?«, fragte Malone.
Rourke und Fio blickten gekränkt.
»Schon gut, schon gut. Wer weiß davon? Erzählt mir bitte nicht, die ganze Stadt wüsste Bescheid.«
»Nur wir drei, Boss. Und der Leichenfresser«, antwortete Rourke.
»Und womöglich derjenige, der ihn ermordet hat.«
»Sie«, warf Fio ein.
»Er ist mehr als sein halbes Leben Father Patrick Walsh gewesen«, meinte Rourke. »Ich glaube, er würde sich wünschen, dass wir ihn auch so nennen.«
Fio legte den Kopf zurück und rieb sich wieder das Gesicht. »Das ist total bescheuert.«
Malone zeigte auf Rourke. »Da fällt mir was ein. Der Erzbischof hat mir heute Morgen die Hölle heiß gemacht, weil ihr die Leute von Unserer Lieben Frau vom Heiligen Rosenkranz in die Mangel genommen habt, als wären sie irgendwelche Gangster. Und das in aller Herrgottsfrühe.«
»Das war Fio«, meinte Rourke. »Ich war nett zu ihnen.«
Fio bedachte ihn mit einem Leck-mich-Blick und grinste dann.
Malone holte eine krumme Zigarette aus der Hemdtasche, um besser nachdenken zu können. Er rauchte seit fünfzehn Jahren nicht mehr, rollte sich aber jeden Tag ein paar zum Spielen. Er behauptete, der Tabakgeruch stimuliere seine Gehirnzellen. »Erzählt mal, was ihr so habt.«
Rourke berichtete von Carlos Kelly, Tony der Ratte und dessen Gorilla Guido, dem Schuss und dem Geschrei, den Fledermäusen und Father Pats Bitte um Gnade, als er im Sterben lag. »Wir vermuten, der Mörder könnte mal in der Fabrik gearbeitet haben«, sagte er. »Ich habe jemanden auf die Lohnlisten angesetzt.«
»Und wir haben die Meldungen über Schüsse in der Gegend überprüft«, fügte Fio hinzu. »Eine Nutte hat auf ihren Luden geballert. Hat ihm das Ohr abgeschossen. Daher das Geschrei.«
Malone schüttelte den Kopf. »Guter Gott. Was man ihm ... ihr angetan hat. Father Pat. Man sollte meinen, er hätte wie ein abgestochenes Schwein gebrüllt.«
»Neben der Leiche lag zwar ein Knebel, aber er hatte ihn nicht im Mund, als der Junge ihn fand«, erklärte Fio. »Wir hören uns in der Gegend um. Vielleicht ist jemandem was aufgefallen.«
Malone rollte die Zigarette in der Handfläche, schaute die beiden aber nicht an. »Meint ihr, es war einer von ihnen? Ein Priester?«
Fio warf Rourke einen Blick zu, und als sein Kollege schwieg, entgegnete er: »In der Gemeinde ist jedenfalls was faul. Die wirkten ganz schön verschreckt, als wir auftauchten.« Er schüttelte den Kopf und kratzte sich am Nacken. »Ich weiß nicht ... Womöglich wussten die, dass Father Pat eine Frau war.« Seine Augen wanderten zu Rourke, dann zu Boden, wobei ihm die Röte in die breiten Wangen schoss. »Könnte sein, dass sie, hm, Sie wissen schon ... es mit ihr gemacht haben.«
»Nichts in seinem Leben im Pfarrhaus ließ darauf schließen, dass er eine Frau war«, dachte Rourke laut. Da war das mönchische Zimmer mit den schlichten Möbeln, ohne Spiegel. Und obwohl ihre Periode gerade eingesetzt hatte, hatten sie keine Damenbinden gefunden. Was also hatte sie verwendet? Vielleicht Lappen, die sie abends auswusch. »Wenn man zwanzig Jahre lang so ein Leben führen will, muss man wirklich davon überzeugt sein. Aus tiefstem Herzen.«
Fio machte eine ungeduldige Bewegung und stieß sich von der Wand ab. »Wer immer Father Pat getötet hat, wusste, dass er eine Frau war – darauf wette ich ein Monatsgehalt. Vertuschen oder Rache, ein anderes Motiv gibt es nicht.«
»Nur hat keine Vergewaltigung stattgefunden. Und der Mörder hat ihn nicht ausgezogen.«
Fio verdrehte die Augen zur Decke, als suchte er im wasserfleckigen Putz nach göttlichem Beistand. »Das nun wieder.«
Malones Blick war zwischen den beiden Ermittlern hin- und hergewandert und blieb nun an Rourke hängen. »Was?«
Rourke zuckte die Achseln. »Nur so ein Gefühl, das mir keine Ruhe lässt ... Die Menschen vertrauen Priestern Dinge an, die sie sonst keinem enthüllen. Sie lassen sie in die tiefsten Winkel ihres Lebens blicken. Father Pat wurde nicht nur getötet, sondern gefoltert. Vielleicht hat jemand ihn zu tief in sein Leben blicken lassen.«
Die Menge auf der Straße stieß ein Gebrüll aus. Fio sah aus dem Fenster. »Der Funkenwerfer ist da«, verkündete er.
Malone warf seine Zigarette an die Wand. »Na prima. Der hat uns gerade noch gefehlt.« Er riss die untere Schreibtischschublade auf und holte eine braune Flasche ohne Etikett und drei verbeulte Blechtassen heraus. Er füllte die Tassen bis zum Rand mit dem geschmuggelten Bourbon und verteilte sie.
Selbst so früh am Morgen schmeckte Rourke der Schnaps. Zu gut, dachte er und gestattete sich nur einen Schluck.
Malone kippte die Flasche um und goss sich den letzten Rest ein. »Dieser Pastor, bei dem der tote Priester ... Himmel, können wir sie überhaupt Priester nennen? Egal, dieser Pastor in ihrer Gemeinde ...«
»Father Frank Ghilotti.«
»Ist sein Daddy nicht der Ghilotti vom Wäscherei-Syndikat? Vielleicht haben wir alle das komische Gefühl, der Heilige Rosenkranz könnte vom Mob unterwandert sein. Es sind schon seltsamere Dinge passiert. Man erzählt sich, irgendein Typ von außerhalb wolle hier einsteigen, nachdem die Maguires von der Bildfläche verschwunden sind. Aus der Ecke könnten alle möglichen Sachen kommen.«
»Wir knöpfen uns die bekannten Gorillas vor und springen ihnen auf die Eier«, meinte Fio. »Mal sehen, ob sie singen.«
»Macht das. Dann kann ich wenigstens was Konkretes nach oben melden.«
Malones Telefon klingelte schrill. Er ließ es zweimal läuten, bevor er seufzend den Hörer von der Gabel nahm.
»Captain Malone am Apparat. Ja, Sir, Superintendent. Hm, ja, es gibt neue Entwicklungen ...« Er verzog Hilfe suchend das Gesicht und schickte die Ermittler mit einer Handbewegung hinaus.
Kurz darauf rief er sie wieder herein.
»Die Zeitungen haben gerade die Story von dem Mord gebracht«, sagte Malone. »Sie verkaufen die Extraausgaben an jeder Straßenecke, mit allen schaurigen Details: Kreuzigung, verbrannte Füße – bis auf die Tatsache, dass er eine Sie war. Der Super trifft sich mit dem Erzbischof, um das i-Tüpfelchen auf diesem ganzen vermaledeiten Albtraum zu bekakeln. Er will das Treffen heimlich abhalten, aber im Rathaus und der Kathedrale wimmelt es nur so von Reportern. Daher macht er es bei sich zu Hause in Rosa Park und will Sie dabeihaben.«
»Freude über Freude«, verkündete Fio, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte zur Tür hinaus. »Da versammelt sich so viel Macht, die können uns wie Würstchen grillen.«
»Daher brauchen Sie auch nur zwei Wörter zu kennen: Ja, Sir«, bemerkte Malone.
Rourke wollte Fio folgen, doch der Captain hielt ihn zurück. »Und für Sie gilt das gleich doppelt, Day. Kommen Sie denen nicht mit Ihrer Ihr-könnt-mich-alle-Tour. Sie tun, was die wollen, kapiert?«
Rourke lächelte und tippte sich spöttisch an den Hut.
Die Holzbarrikaden standen noch immer vor dem Gerichtsgebäude, doch die Menge war auf die Straße gedrängt und umringte nun einen Pritschenwagen, dessen Ladung mit einer schwarzen Plane bedeckt war. Der Fahrer drückte vergeblich auf die Hupe, ebenso die Autos hinter ihm. Der anhaltende, misstönende Klang zerrte an Rourkes Nerven.
Mehrere Klan-Leute waren auf die Ladefläche gesprungen und zogen gerade die Plane herunter. Fio und Rourke blieben einen Moment zwischen den Säulen am Eingangsportal stehen und schauten zu. Unter der Plane kamen ein Eichenstuhl mit hoher Lehne und Lederriemen und der dazugehörige Generator zum Vorschein.
»Ich hatte ihn mir größer vorgestellt«, meinte Fio.
Rourke fand ihn groß genug. Plötzlich traf ihn das Johlen der Menge wie Fausthiebe gegen die Schläfen, dann ließ auch noch jemand eine Reihe Feuerwerkskörper los.
Er konnte nicht sagen, warum er in genau diesem Moment zum Dach des Blue Bayou Hotel gegenüber hochblickte. Im Sonnenlicht blitzte ein Gewehrlauf auf.
Rourke rammte Fio seine Schulter in die Brust, beide stürzten zu Boden. Überall explodierten weitere Feuerwerkskörper, Hupen dröhnten, Polizeisirenen heulten, Menschen grölten: »Brenn, Nigger, brenn.« Sie konnten die Schüsse nicht hören, doch über Rourkes Kopf barsten Stücke von den Säulen.
Fios Hut flog davon. Er schnappte ihn, bevor er wegrollte, und setzte ihn wieder auf.
Die Feuerwerkskörper verhallten, das Singen und Hupen ging weiter. Rourke und Fio kauerten mit gezogenen Waffen hinter den Säulen und suchten mit den Augen das Hoteldach ab.
Ein Schatten huschte an einem Schornstein vorbei.
»Das Schwein haut ab«, rief Fio.
Sie sprangen auf und rannten über die Straße, wichen Autos, Wagen und Leuten aus, die aus der Menge um den Pritschenwagen ausgeschert waren. Niemand sonst schien die Schüsse bemerkt zu haben.
Das Hotel hatte nur sechs Stockwerke, die Feuertreppe führte in eine Gasse. Rourke lief durch die Drehtür, während Fio in die Gasse stürzte, um dem Schützen den hinteren Fluchtweg abzuschneiden.
In der Halle gab es einen Fahrstuhl in einem kleinen schwarzen Eisenkäfig, doch die Kabine war gerade im obersten Stock. Rourke blockierte sie, indem er die Tür aufdrückte, und lief dann über die Treppe bis aufs Dach.
Das Flachdach war mit Teerpappe und Kies gedeckt und völlig menschenleer, doch neben dem Schornstein gab es eine Stelle, von der aus der Schütze mühelos auf das niedrigere Dach des benachbarten Wohnhauses hatte springen können. Rourke rief Fio zu, er solle das Gebäude ebenfalls überprüfen, wusste aber bereits, dass es zu spät war.
Er trat an den Sims, von dem aus man den Eingang zum Gerichtsgebäude überblicken konnte. Hier lagen einige Patronenhülsen Kaliber .30 verstreut, vielleicht von einem Springfield-Gewehr. Mit dem Taschentuch hob er die Hülsen auf und steckte sie ein. Der Leichenfresser hatte kürzlich eine neue Erfindung gekauft, ein so genanntes Vergleichsmikroskop für ballistische Untersuchungen. Sie hatten es bisher kaum benutzt, doch Rourke setzte nach wie vor große Hoffnungen in das Gerät.
Die Tür zum Treppenhaus ging quietschend auf, und er fuhr herum.
Fio tauchte schwer atmend auf. Sein Gesicht war rot angelaufen. »Was zum Teufel geht hier vor?«
»Was fragst du mich? Immerhin hast du ein Einschussloch im Hut.«
»Meinen Hut hat’s nur erwischt, weil du dich geduckt hast.« Fio nahm den Hut ab und steckte den Finger durch das Loch im Kopfteil. »Scheiße, Mann, das war ein guter Hut.«
Rourke lachte. Das gute Stück war mindestens zehn Jahre alt. Das Kopfteil war schon eingedellt gewesen, bevor die Kugel es durchschlug, und die Krempe rollte sich bei feuchtem Wetter nach oben.
Fio warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Mein Hut wird ermordet, und du lachst.«
Fio setzte ihn mit übertriebener Würde wieder auf. Er wollte gerade zur Tür gehen, als Rourke den feuchten roten Fleck oben am Ärmel von Fios beigefarbenem Seidenanzug entdeckte.
»Sieht aus, als hätte es nicht nur deinen Hut erwischt.«
»Was?« Fio folgte Rourkes ausgestrecktem Finger und bohrte den Finger in das blutgetränkte Loch im Ärmel seines Jacketts. »Jesus, Maria und Josef, ich glaube, die Kugel steckt noch drin.«
»Ich hab ja gesagt, er hat auf dich geschossen.«
»Klar, sicher. Aber wer ist er, und was habe ich ihm je getan?« Fio schaute sich auf dem Dach um, als erwartete er, der Schütze werde hinter einem Schornstein hervorspringen und alles erklären.
Weldon Carrigan, der Superintendent der Polizei von New Orleans, lebte in einem bezaubernden Vorkriegshaus am Rosa Park im elegantesten Viertel der Innenstadt. Er hatte das Haus durch seine Heirat erworben, zusammen mit einem bescheidenen Vermögen, das er schon vor langer Zeit in ein ansehnliches Vermögen verwandelt hatte. Vom einfachen Streifenpolizisten bis zum Revierleiter hielten fast alle Polizisten von New Orleans die Hand auf, wobei Carrigan als Superintendent den dicksten Batzen erhielt. Sämtliche Syndikate – die Alkoholschmuggler, Zuhälter, Kredithaie, Schutzgelderpresser und Wucherer – hatten Weldon Carrigan und die Mächtigen im Rathaus auf ihrer Lohnliste.
Für Rourke war Weldon Carrigan allerdings mehr als nur sein oberster Chef. Er war auch der Vater seiner verstorbenen Frau Jo und der geliebte Opa von Katie. Außerdem fungierte er als Rourkes Schutzengel, der seinem Schwiegersohn den goldenen Job als Mordermittler und eine vorzeitige Beförderung verschafft hatte. Doch ihre Beziehung war äußerst wechselhaft. Weldon Carrigan hatte Rourke einmal fünfzigtausend Dollar angeboten, falls er auf eine Heirat mit seiner Tochter verzichtete, während Rourke seinem Schwiegervater den Mord an einem kriminellen Bullen hatte durchgehen lassen, wofür er im Gegenzug seine Stelle behalten durfte und bei der Bearbeitung seiner Fälle praktisch freie Hand bekam.
Vor dem Anwesen der Carrigans parkte der schwarze Jackson Touring Car des Erzbischofs. Ein uniformierter Chauffeur polierte die Messingzierleisten, die ohnehin schon wie Spiegel glänzten. Wegen der Schießerei und der Tatsache, dass er Fio ins Krankenhaus hatte bringen müssen, kam Rourke fast eine Stunde zu spät zum Treffen mit den beiden mächtigsten Männern der Stadt.
Er stieg die weißen Marmorstufen zu der breiten, säulengeschmückten Galerie hinauf und läutete an der Tür mit dem funkelnden Facettenglas. Ein Butler führte ihn durch eine lange Eingangshalle mit schwarz-weißen Marmorfliesen in das gemütliche hintere Wohnzimmer. Durch die hohen Fenster konnte er den Swimmingpool und den prachtvollen Garten seiner Schwiegermutter bewundern.
Weldon Carrigans Erscheinungsbild passte zu seiner wichtigen Position: breite Schultern, mächtiger Kopf mit ergrautem Haar und pechschwarze Augenbrauen, die wie eine Hecke über den metallgrauen Augen wucherten. Er stand am Fenster, die Hände hinter dem Rücken zu Fäusten geballt.
Er drehte sich erst um, als Rourke mitten im Zimmer war. »Wird verdammt noch mal Zeit«, sagte er.
»Und ich dachte, du würdest dich freuen, dass ich mir überhaupt die Mühe gemacht habe«, sagte Rourke und schüttelte seinem Schwiegervater lächelnd die Hand. Weldon Carrigans Griff war eisern, doch Rourke ertrug ihn wie ein Mann.
Erzbischof Peter Hannity saß in einem Gobelin-Sessel, dessen hohe Lehne an einen Thron erinnerte, neben dem Kamin. Ein winziger Mann mit Hakennase und durchdringenden blauen Augen unter schweren Lidern. Er mochte zwar klein sein, war aber noch mächtiger als Carrigan, und Rourke wusste, dass er seine ganze Macht ausspielen würde, um die Unantastbarkeit der katholischen Geistlichkeit zu schützen. Selbst wenn er damit einen Mörder schützte.
Rourke beugte sich über die feingliedrige Hand und küsste den Ring des Erzbischofs. »Guten Morgen, Exzellenz«, sagte er. Die Antwort war ein verkniffenes, herablassendes Nicken.
Ein Hausmädchen mit gestärktem Häubchen und Schürze schob einen versilberten Servierwagen mit einem Sevres-Service herein. Rourke nahm in einem Sessel dem Erzbischof gegenüber Platz, wobei das Leder einen seufzenden Ton von sich gab. Er musterte Hannity ganz unverhohlen, während sie Kaffee mit Zucker und Sahne tranken. Die Sonne warf durch die Tüllvorhänge ein flirrendes Licht auf das Gesicht des Geistlichen. Nun erst konnte Rourke den Schock in dessen Zügen erkennen. Hannity wirkte zerbrechlich wie Porzellan und sah älter als siebzig aus.
Doch die Stimme des Erzbischofs verriet keine Regung, und Rourke spürte, wie Hannity hinter seinem unbewegten Äußeren die Situation abwog: Was hatte er zu geben, womit konnte er handeln, was musste tief vergraben werden.
»Ist Ihnen bewusst, was hier auf dem Spiel steht, Detective?«, fragte der Erzbischof.
»Ich habe so eine Ahnung.«
Der Mund entspannte sich, lächelte fast. »Ja, das glaube ich gern. Die Frage ist natürlich, ob Ihre Ahnung zutrifft.« Er forschte in Rourkes Gesicht, während er innerlich urteilte und abwog. »Sagen Sie mir, ob Sie Gott über alles lieben.«
Lieben? Rourke spürte Gelächter in sich aufsteigen, unterdrückte es aber, denn es konnte auch etwas anderes sein. Meist stellte schon der Glaube an die Existenz des Guten seine Frömmigkeit auf eine harte Probe.
»Es ist nämlich möglich«, fuhr der Erzbischof fort, als hätte Rourke laut geantwortet, »dass man etwas liebt, obwohl es einem ständig das Herz bricht.«
»Ich möchte Ihnen nicht sagen, wie Sie Ihre Arbeit zu tun haben, Exzellenz«, sagte Weldon Carrigan, der sich eine lange, schmale Zigarre angezündet hatte und nun den süßlichen Rauch ausstieß und den Kringeln belustigt nachsah. »Aber wenn Sie einen Mann bestechen wollen, müssen Sie seinen Preis kennen. Und mein Schwiegersohn liebt seinen Beruf über alles.«
Rourkes Blick war zum Garten geschweift, wo ein Blauhäher ein Bad im Springbrunnen nahm. Der Vogel flatterte wild mit den Flügeln und schüttelte den Kopf, dass das Wasser in alle Richtungen spritzte. Er fragte sich, ob ein Vogel wohl Glück empfinden konnte.
»Ihr Priester wurde gefoltert«, sagte Rourke. »Seine Fußsohlen wurden mit Votivkerzen verbrannt, außerdem hat man ihn an den Handgelenken an den Querbalken eines Gestells genagelt, an dem früher Makkaroni trockneten.«
Der Erzbischof schaute ihm ins Gesicht und schwieg lange. »Wer diese böse Tat verübt hat, wird am Jüngsten Tag einer schrecklicheren Strafe anheim fallen, als man sie auf Erden je verhängen würde. Die Rache ist mein, sagt der Herr.«
»Die Rache überlasse ich gern dem Herrn«, erklärte Rourke und musste diesmal beinahe über seine eigene Arroganz lachen. »Ich suche nur nach der Wahrheit. Wussten Sie, dass Father Pat eine Frau war?«
Die Hand des Erzbischofs schnellte hoch, als wollte er sich an die Kehle greifen. Doch er schlang seine langen dünnen Finger um das Kruzifix, das er um den Hals trug. Dann schloss er die Augen und umklammerte das Kreuz so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. »Gewusst? Wie hätte irgendjemand davon wissen sollen? Es wissen und zulassen, dass es jahrelang so weitergeht? Selbst jetzt kann ich es weder glauben noch akzeptieren.«
Er schlug die Augen auf und ließ seine Hand in den Schoß sinken. »Und doch hätte ich erkennen müssen, dass er kein wahrer Priester war. Da war etwas an ihm ... ihr. Etwas Rebellisches, Auffälliges. In seinen Predigten sagte er manchmal Dinge – und wie er die Messe feierte ... er stieß die Kirchentüren weit auf und lud Jesus ein, als wäre die Wandlung von Fleisch und Blut ein Erlösungsspektakel. Er –»Hannity verzog den Mund, als läge ihm das Wort sauer auf der Zunge. »Sie ...«
Er. Sie. Bevor Rourke an diesem Morgen die Leichenhalle betreten und auf den nackten Körper von Father Patrick Walsh hinuntergeblickt hatte, war ihm nie wirklich bewusst gewesen, wie sehr die Ansammlung von Gewebe, Blut und Knochen, die einen Mensch ausmachte, von einem einzigen Pronomen bestimmt wurde. Er. Sie. Kannte man Father Patrick Walsh nur als Priester, sah man ihn in einem ganz bestimmen Licht. Kannte man ihn als Frau, ergab sich ein völlig anderes, scheinbar unvereinbares Bild.
»Man hat mir aber erzählt, dass Father Pat von allen, die ihn kannten, gemocht, wenn nicht gar geliebt wurde, Sie eingeschlossen«, drängte Rourke, der sich ein bisschen schäbig vorkam, als er das Beben der papierdünnen Haut, das Zittern der alten Hände bemerkte. Der Erzbischof musste sich von Patrick Walsh betrogen fühlen, ein schneidender, elementarer Betrug, als entdeckte eine Ehefrau, dass ihr Mann seit zwanzig Jahren mit einer anderen verheiratet ist.
Der Erzbischof schüttelte zitternd den Kopf. »Sie dürfen sie nicht mehr Father nennen. Patrick Walsh oder wie immer diese ... Person geheißen hat, war nie der geistliche Vater eines Katholiken. Priester handeln im Leben der Gläubigen als Stellvertreter Jesu Christi, sie sind seine Jünger auf Erden, und die Frau wurde nicht erschaffen, um in dieser Rolle zu dienen.«
»Vielleicht hat man eine Ausnahme gemacht.«
Der Mund des Erzbischofs wurde streng, er wandte sich ab. »Sie verspotten, was Sie nicht verstehen. Wenn unser Herr gewünscht hätte, dass Frauen zum Priester geweiht werden, hätte er seine eigene gesegnete Mutter Maria geweiht, die frei von Sünde war, doch er tat es nicht. Patrick Walsh war kein Priester.«
»Und was ist mit den Babys, die er getauft, den Sündern, denen er die Absolution erteilt hat? Er feierte die Messe, traute Paare, tröstete die Trauernden und begrub die Toten. Das alles hat er zwanzig Jahre lang getan. Wenn er kein wahrer Priester war, in wessen Namen wurden dann diese Glaubenshandlungen vollzogen, diese Sakramente gespendet?«
Der Erzbischof schaute wieder zu Rourke, und sein Gesicht offenbarte nun seine ganze Angst und Qual. »Jetzt wissen Sie, weshalb es nie bekannt werden darf. Niemals. Denn es könnte eine Glaubensprüfung sein, die mancher nicht ertragen kann. Es ist doch möglich, dass diese Frau der verkleidete Teufel oder einer seiner Dämonen war, die die Priesterschaft betrügen, sie zum Gespött machen sollten. Sie hat der Heiligen Kirche schweren Schaden zugefügt, und die Gefahr für viele Seelen muss gegen die Wahrheit, nach der Sie suchen, abgewogen werden. Wir müssen Sorge tragen, dass bei der Suche nach ihrem Mörder nicht noch schlimmerer Schaden geschieht.«
Weldon Carrigan schleuderte seine Zigarre so heftig in den leeren Kamin, dass sie in einem Funkenregen zerbarst. »Wir haben den Deckel auf dieser Bescherung, und der bleibt auch drauf.«
Er machte sich nicht einmal die Mühe, die Drohung hinter einem Lächeln zu verbergen. »Day, du wirst mitspielen, sonst krieg ich deinen Arsch zu fassen, und der gute Erzbischof schickt deinen Bruder so weit in die Pampa, dass er die Süßkartoffeln mit den Zehen ausgraben kann.«
Rourke lächelte ebenfalls, er kannte diese Tour.
Er stellte die Kaffeetasse auf ein Tablett mit Perlmuttintarsien und erhob sich. Dann wandte er sich noch einmal an den Erzbischof. »Exzellenz, ich werde diese Untersuchung nicht vermasseln, nur weil aus ihm plötzlich eine Sie geworden ist und wir uns alle fragen, was das wirklich bedeutet und was wir noch finden können, wenn wir richtig anfangen zu suchen. Was immer Patrick Walsh auch gewesen sein mag, er war vor allem ein Mensch und hat ein Recht darauf, dass jemand – und seien es nur wir drei – erfährt, wer ihn getötet hat und aus welchem Grund.«
Der Erzbischof sah ihn forschend an. »Ich glaube, Sie können ganz schön grausam sein. Aber Sie besitzen auch Mut und Ehre, und wenn die Zeit kommt, werden Sie erkennen, was richtig ist, und danach handeln. Komm her, mein Sohn.« Über seinen Mund zuckte ein Lächeln, als er die beringte Hand hob. »Komm und knie nieder, um den Segen Gottes und deiner Kirche zu empfangen, und bemühe dich, wenigstens ein bisschen demütig zu erscheinen.«
Rourke saß nachdenklich im Auto.
Die Eichen warfen dunkle Schatten auf den samtigen Rasen und die tiefen Galerien, und aus dem offenen Fenster des Nachbarhauses wehten die schmeichelnden Klänge eines Brahms-Walzers herüber. Zwei kleine Mädchen in Katies Alter spielten im Schatten der Bäume. Sie hatten einen großen getigerten Kater in ein Puppennachthemd gesteckt und wollten ihn gerade in einen Puppenwagen setzen, aber das ließ er nicht mit sich machen. Er wand sich, wollte weg, doch eines der Mädchen drückte ihn an sich und wiegte ihn wie ein Baby.
Kleine Mädchen. Seine Katie liebte Baseball und spielte prima Straßenhockey. Erst gestern hatte er gesehen, wie sie mit dem Laufburschen von der Flüsterkneipe an der Ecke redete und flirtete, eine Siebenjährige und ein Siebzehnjähriger, und hatte ihrem alten Daddy damit einen höllischen Schrecken eingejagt. Jetzt fragte er sich, wie Patrick Walsh als kleines Mädchen gewesen sein mochte, das – wenn die Times-Picayune Recht hatte – in einem Waisenhaus in Paris, Louisiana aufgewachsen war. Ob sie mit Puppen gespielt und mit Jungs geflirtet hatte. An welchem Punkt in ihrem Leben ein Er aus ihr geworden war.
Niemand ist ganz der, für den er sich ausgibt; selbst im Beichtstuhl belügt man womöglich sich selbst und Gott. Was hatte Paulie doch gleich gesagt? Ich war so eifersüchtig auf ihn. Eifersüchtig, weil er Gott und dessen Welt so sehr liebte und sich immer so verdammt sicher war. Er wusste genau, was es bedeutete, ein Priester zu sein und alles richtig zu machen ... Wenn Father Pat nun nicht Priester geworden war, um zu verbergen, was er war, sondern um noch mehr zu dem zu werden, der er in seinem Herzen schon war? Einem spirituellen Wesen, das Gott und seine Welt liebte.
Ein Mordfall glich einem Kaleidoskop, dachte Rourke. Eine kleine Drehung, schon bot sich ein völlig anderes Bild. Seit er am Morgen auf die gekreuzigte Leiche hinuntergeschaut und eine Frau gesehen hatte, empfand er den toten Priester als jemanden, der der Welt einen ungeheuren, aufwändigen und verzweifelten Betrug aufgetischt hatte, doch vielleicht hatte Father Pat es ganz anders empfunden. Vielleicht war für ihn der eigentliche Betrug der, den Gott oder der Zufall oder die Biologie an ihm begangen hatte und den er, wann immer er seinen nackten Körper erblickte, wie einen Schlag ins Gesicht empfinden musste, denn er sah ein Bild, dass nicht zu dem passte, das er in seinem Kopf trug. Er. Sie.
Wen also hatte der Mörder an den Querbalken genagelt – ihn oder sie? Den Priester oder die Frau?
Rourke saß im Wagen und sah den kleinen Mädchen zu, die mit dem Kater spielten. Plötzlich spürte er eine Art Rausch, einen inneren Flash wie nach einer Prise Kokain. Die meisten Morde wurden spontan begangen, aus Leidenschaft oder Dummheit, sie ließen sich problemlos aufklären. Doch dann und wann stieß man auf einen Fall wie diesen, bei dem der Täter starke Nerven, Verstand und einen Plan besessen hatte.
Nun lernte er Patrick Walsh kennen, durch und durch. Es war, als entwickelte man ein Foto – es wird schärfer, der Mörder tritt allmählich aus dem Hintergrund, in der Hand ein Messer, eine Schusswaffe oder eben Nägel.
Nägel. Nägel durch die Handgelenke.
»Ich kriege dich, du sadistisches Schwein«, sagte Rourke laut und lächelte bitter.
Er würde die Priester der Kirche Unserer Lieben Frau vom Heiligen Rosenkranz ordentlich aufrütteln, um zu sehen, was dabei herauskam. Er würde mit Floriane de Lassus Layton reden, die in so aufgeregten, schwungvollen Buchstaben als »Flo« in Father Pats Terminkalender verzeichnet war. Und er würde sich den Tatort einmal gründlich bei Tageslicht anschauen und mit seinen Verbindungsleuten auf der Straße reden. Ein guter Bulle kannte praktisch alle harten Jungs. Manchmal ging es nur darum, den richtigen Finsterling herauszupicken, schon war der Fall gelöst. Er ließ den Motor an, legte den ersten Gang ein und stimmte »Sweet Georgia Brown« an.
Der Superintendent hatte Recht: Er liebte seinen Beruf über alles, so viel war sicher.