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Fünftes Kapitel

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Die Party hatte noch bis halb sechs getobt, als schließlich der Fusel ausging und die Band ihre Sachen packte und verschwand. Anscheinend waren alle auf einmal gegangen, und Remy Lelourie blieb allein zurück.

Es gab keinen traurigeren Anblick als einen Raum, in dem eine Party gefeiert worden ist, dachte sie. Das Licht der Kronleuchter schien zu hell auf die silbernen Tabletts mit den Krümeln und die Kristallgläser mit geschmolzenem Eis und Lippenstifträndern. Die Tische waren von nassen Ringen übersät, die Luft war grau vom Zigarettenrauch. Das ganze Haus roch nach schalem Champagner und saurem Gin.

Sie bezahlte die Kellner und wies ihre Haushälterin Miss Beulah an, ins Bett zu gehen und das Chaos später am Morgen zu beseitigen.

Als sie dann wirklich allein war, schlenderte sie eine Weile über den Zypressenboden der oberen Galerie, wo die Frauen ihrer Familie einst in Reifröcken und mit flatternden Fächern promeniert waren. Die aufgehende Sonne warf einen bronzenen Schimmer über das Wasser des Bayou. Nebelsträhnen wanden sich um das Rohrdickicht, wurden aber von einem starken aufkommenden Wind eingefangen und davongeweht.

Der Wind blies kalt, sie rieb sich schaudernd die nackten Arme. Ihr war, als lägen ihre Nerven bloß, ein Gefühl, das sie vom Drehen kannte, wenn sie in eine Rolle eingedrungen war und sich darin verloren hatte. Dann empfand sie die Welt wie einen überbelichteten Film: hell, scharf, grob.

Der Wind setzte zum nächsten Stoß an, riss das Moos von den Eichen und peitschte gegen die toten schwarzen Äste der ertrunkenen Zypressen. Sie umklammerte ihre Arme fester, als wollte sie verhindern, dass der Wind sie selbst auseinander riss. Ihre Freunde und Feinde behaupteten, sie sei manchmal mehr als nur ein wenig verrückt, und Remy war ganz ihrer Meinung. In ihr gähnte eine Leere – ein Hunger, der ständig gestillt werden wollte. Diese Leere machte sie wild und rücksichtslos, zwang sie, Dinge zu begehren und auch zu tun, die ihr nicht gut taten.

Gestern Abend war der Teufel in ihr Haus gekommen, der Teufel in Gestalt von Max Leeland, Chef der Bright Lights Studios. Er war mit dem Zug eigens aus Kalifornien angereist, um sie mit mehr Geld, als Gott drucken konnte, und der völligen künstlerischen Kontrolle über ihren nächsten Film in Versuchung zu führen. Niemand besaß die völlige künstlerische Kontrolle, nicht einmal Mary Pickford. Die Leute dachten, beim Film ginge es um Ruhm und Geld, doch die Insider wussten, dass Ruhm und Geld nur Hilfsmittel waren, um das zu erreichen, was wirklich zählte: Macht.

Max war also mit Geschenken und einem Vertrag aufgetaucht, der sie zur mächtigsten Frau Hollywoods machen würde. Da sie seit Wochen aller Welt erzählt hatte, Die Piratin würde ihr letzter Film sein, sie sei heimgekehrt und habe ihren Mann wieder und sei glücklich, glücklich, glücklich, hatte man wohl tatsächlich geglaubt, sie wolle dem Filmgeschäft den Rücken kehren. Sonst hätte Max kaum den weiten Weg gemacht, um es ihr auszureden. Seltsam, noch bevor er eintraf, hatte sie gespürt, wie die alte Ruhelosigkeit und Verrücktheit wieder von ihr Besitz ergriffen.

Eine Bohle hinter ihr knarrte, und sie drehte sich langsam um, lächelte. Ohne Angst, denn ein Laut in der Nacht konnte Remy Lelourie nicht schrecken. Sie hatte lang daran gearbeitet, sich gegen die Angst zu wappnen, mit ihr zu flirten und sie zu umarmen oder ihr ins Gesicht zu spucken, um ihr zu widerstehen.

Die Galerie war leer, nur die dünnen Vorhänge wehten bauschig durch ihr offenes Schlafzimmerfenster. Einen Moment lang glaubte sie einen Schatten zu sehen, der in einem Lichtstrahl verschwand, dann noch einen, dann war alles weg wie bei einem plötzlichen Schnitt im Film.

Day.

Sie spürte Erregung und Verlangen wie einen Schmerz und dachte sogleich: Erinnere dich später an dieses Gefühl, Remy, wenn du eine Frau spielen musst, die so verliebt ist, dass ihr Herz schon wehtut, wenn sie nur den Schatten des geliebten Mannes am Fenster sieht.

Sie musste sich mit dem Schatten geirrt haben, denn er war nicht da.

Dann klingelte das Telefon auf dem Tisch, und sie wollte gerade abheben, als ihr Blick aufs Bett fiel. Es war ein Louisiana-Sheridan-Bett mit drei Meter hohen Pfosten und Verzierungen in Form hölzerner Ananas, die Gastlichkeit symbolisierten. Die Bettdecke mit dem Reismuster war zurückgeschlagen, und obwohl sie noch nicht darin geschlafen hatte, sahen die seidenen Laken verknittert und das Kopfkissen eingedellt aus, als läge ein Unsichtbarer darin.

Remy Lelourie starrte auf den vibrierenden Hörer und hielt plötzlich die Luft an.

Langsam nahm sie den Hörer ab und hielt ihn ans Ohr. In der Leitung knisterte es, und sie meinte, jemanden atmen zu hören, doch das war vielleicht nur der Wind in der Galerie.

Noch langsamer hob sie die Lippen an die Sprechmuschel. »Hallo?«

Ihr Atem ging schneller, aufgeregter, und dann erklang eine tiefe, gedämpfte Stimme: »Hast du meinen Brief bekommen, Remy?«

Da sah sie ihn – einen cremeweißen Umschlag, der am runden Facettenspiegel ihrer Frisierkommode lehnte. Darauf stand in dicken Strichen in einer seltsam rostbraunen Tinte ihr Name.

Sie wollte einhängen, doch der Hörer rutschte von der Gabel und fiel klappernd auf den Tisch. Sie ging zur Frisierkommode, schwebte dahin, als spielte sie eine Rolle im Film. Sie schaute lange auf den Umschlag, bevor sie ihn in die Hand nahm und das Siegel mit einem scharlachroten Fingernagel aufschlitzte.

Hast du schon Angst, Remy?

Die letzten Sternenpunkte waren verschwunden, und die aufgehende Sonne färbte die Ränder des Himmels safrangelb. Detective Daman Rourke fuhr in seinem Stutz Bearcat am Fluss entlang, vorbei an Kaffeesäcken, die am Kai aufgestapelt lagen, vorbei an Rollwagen voller Bananen und Austernluggern, die vertäut am Ufer schaukelten. Die Hörner der Schlepper stöhnten im dichten Nebel, der vom Wasser aufstieg.

Er glaubte, sein Partner döse vor sich hin, doch dann richtete sich Fios massige Gestalt auf und klopfte mit einem dicken Finger gegen die Windschutzscheibe. »He, wieso fahren wir nicht die Canal hoch?«

»Weil wir zu Unserer Lieben Frau vom Heiligen Rosenkranz fahren.«

»Nein, tun wir nicht. Keine Chance. Nein.« Fio schaute Rourke streng von der Seite an. »Die werden uns feuern«, meinte er, als Rourke weder antwortete noch kehrtmachte, um zum Kriminalgericht zu fahren, in dem auch das Büro der Ermittler untergebracht war. »Allerdings werde nur ich gefeuert, weil du einen Schutzengel ganz oben hast und einen Filmstar bumst. Ich werde gefeuert, und meine Frau lässt mich einen Monat lang auf dem Sofa schlafen.«

»Was würden wir als Erstes tun, wenn wir einen Polizisten in diesem Zustand gefunden hätten?«, fragte Rourke.

»Ach, Mann. Jetzt komm mir nicht auf die Tour.«

»Wir würden prüfen, ob er Dreck am Stecken hat, und es dann vertuschen.«

»Willst du damit sagen, Father Patrick Walsh hatte Dreck am Stecken?«

Rourke hob die Achseln. »Ich sage nur, dass ich etwas über sein Leben erfahren will, bevor der Erzbischof die anderen braven Geistlichen in seiner Pfarrei anruft und ihnen mitteilt, dass er tot ist. Dann will jeder nur noch seinen Arsch retten.« Rourke schaute zu seinem Partner hinüber. Fio antwortete mit seinem wilden Blick.

»Ich soll also mitkommen, wenn du Priester grillst.«

»Ich grille sie ganz schonend.«

»Hm.« Fio schob die Manschette zurück, um im unterbrochenen Licht der Straßenlaternen auf die Uhr zu sehen. »Es ist zehn vor sechs.«

»Priester stehen in der Morgendämmerung auf. Nur Sünder wie du und ich haben Schlaf nachzuholen.«

»Ich soll also mitkommen, wenn du um sechs Uhr morgens an die Tür Unserer Lieben Frau vom Heiligen Rosenkranz klopfst, denen erzählst, dass einer ihrer Priester ermordet wurde, und dann fragst, ob es einer von ihnen getan hat?«

Rourke lächelte. »Na ja, mein Daddy hat immer gesagt, wenn ein Kampf bevorsteht, musst du den ersten Treffer landen.«

Fio zeigte grinsend die Zähne. »Ich dachte, du wolltest es schonend machen.«

»Vielleicht hab ich gelogen.« Rourke schwieg, dann fügte er hinzu: »Habe ich dir je von meinem Bruder erzählt?«

Stille breitete sich im Wagen aus, und erst nachdem sie zwei Häuserblocks weit gefahren waren, entgegnete Fio: »Wir sind jetzt seit elf Monaten Partner. Ich habe dir Sachen erzählt, die nicht mal meine Frau weiß, und heute erwähnst du zum ersten Mal, dass du einen Bruder hast.«

»Na ja, er ist Priester in der Pfarre vom Heiligen Rosenkranz.«

Unsere Liebe Frau vom Heiligen Rosenkranz lag am Coliseum Square in einer Gegend, die gemischt war wie Gumbo-Eintopf.

Dort lebten Schwarze, irische und deutsche Einwanderer und alte amerikanische Familien, die ihren Stammbaum bis in die Zeit vor dem Bürgerkrieg zurückverfolgen konnten.

Der Platz war eigentlich dreieckig, wobei die an der Race Street gelegene Kirche im neugotischen Stil die Grundlinie bildete. Die dazugehörige Schule lag an der Seeseite der Kirche, das Pfarrhaus an der Flussseite. Alle Gebäude stammten aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und waren aus Louisiana-Ziegeln errichtet, die in der frühen Morgensonne blutrot leuchteten. Am Bordstein stand ein Milchwagen.

Rourke und Fio blieben im Auto sitzen, während der Milchmann die Milch aus einer großen Blechkanne in Glasflaschen schöpfte und diese durch ein Tor im schwarzen Zaun trug, der über und über mit Geißblatt bewachsen war. Er bekreuzigte sich, als er durch den Schatten des achteckigen Glockenturms ging, und stellte die Milch vor der Küchentür ab.

Fio beobachtete den Milchmann, und Rourke behielt den Priester im Auge, der rasch durch die Büsche auf dem Platz herankam und einen Blick über die Schulter warf. Jetzt lief der Priester beinahe, überquerte die Straße, stieg die Treppe hinauf und betrat die Kirche durch das hölzerne Portal mit den Eisenbeschlägen.

»Warte hier«, sagte Rourke und stieg aus.

Er eilte den Weg entlang, dessen Platten durch die Kraft der Baumwurzeln geborsten waren. Der Wind ließ gelbes Laub um seine Füße tanzen. Die klingenartigen Wedel der Bananenstauden raschelten über seinem Kopf, und die knotigen, wogenden Äste der alten Feigenbäume warfen zuckende Schatten auf die ziegelroten Mauern.

Rourkes Großmutter väterlicherseits hatte Ziegel in ihrer Schürze geschleppt, um beim Bau von St. Alphonsus zu helfen, der Kirche im Irishchannel, wo er aufgewachsen war. Das Gleiche hatten gewiss auch die Frauen getan, die vor Generationen in dieser Gegend gelebt hatten. Heutzutage nahmen ihre Nachkommen als Messdiener am Gottesdienst teil, wie Rourke es einst getan hatte. Söhne, Brüder und Onkel aus diesen Familien würden einmal Priester der Gemeinde werden.

Im Inneren der Kirche war es kühl und dunkel, es roch nach Kerzenwachs und Weihrauch. Der Priester stand vor einem kleinen Altar im nördlichen Querschiff. In seiner schwarzen Soutane verschmolz er beinahe mit den langen Schatten, die die Bögen des Chorraums warfen. Nur seine weißen Hände waren zu sehen, die er vor sich gefaltet hielt. Den Kopf hatte er nicht gesenkt, sondern schaute hoch zu der marmornen Pietà auf dem Altar. Schultern und Rücken wirkten angespannt, seine Hände verkrampft. Was immer dieser Priester von der Jungfrau Maria erbitten mochte, es war gewiss eher ein Schrei der Verzweiflung als ein Gebet.

»Antwortet sie, wenn du mit ihr sprichst?«, fragte Rourke.

Father Paul Rourke fuhr herum und blinzelte, als hätte man ihn mit einem Blitzlicht geblendet. »Day? Was machst du denn hier?«

Seine Stimme hallte in der Kirche wider, dann herrschte wieder dichtes, schwarzes Schweigen.

Rourke schaute seinem Bruder forschend ins Gesicht. Das geschwungene irische Kinn und die runden Wagen waren stoppelig, wie mit Ruß bestäubt. Seine Augenwinkel waren nach unten gezogen, wodurch er schon als Junge melancholisch gewirkt hatte. An diesem Morgen lagen tiefe Schatten unter seinen Augen.

»Was ist passiert?«, fragte er, als Rourke ihn weiter wortlos ansah.

Zu den marmornen Füßen der Pietà stand ein Gestell mit brennenden Votivkerzen. Rourke trat davor und hielt die Hand knapp über die Flammen. Zuerst spürte er nur die Wärme, dann kam der Schmerz. »Weißt du, was geschieht, wenn man menschliches Fleisch lange genug über ein Feuer hält?«

Sein Bruder schaute wie gebannt zu. Die Kerze flackerte und tanzte und brannte unter Rourkes offener Handfläche, und schließlich erreichte der Schmerz eine Intensität, die ihn an einen unhörbaren schrillen Schrei erinnerte.

»Hör auf!« Rourkes Bruder packte dessen Handgelenk und zog ihn von der Flamme weg.

»Es kocht«, meinte Rourke.

»Mein Gott, Day. Wo bist du nur hineingeraten?«

Rourke lachte. Er nahm ein Taschentuch und wickelte es um seine pochende Handfläche. »Willst du mir eine Beichte anbieten? Von meinen Lippen in Gottes Ohr. Vielleicht ist es auch Zeit, dir die Beichte abzunehmen. Vermutlich hat ein Priester, der sich in der Morgendämmerung ins Pfarrhaus schleicht und die Soutane von gestern trägt, gegen das eine oder andere Gebot verstoßen.«

Selbst im zuckenden Kerzenlicht erkannte Rourke die Angst in den Augen seines Bruders, und der Verdacht überkam ihn wie ein Schauder.

Sein Bruder trat von einem Fuß auf den anderen, seine Augen wanderten von Rourkes Gesicht in die fernen Winkel des Kirchenschiffs, zu den leeren Bänken, der Kanzel und dem Altar. »Ich muss um acht Uhr die Messe lesen«, sagte er. »Du weißt, die Predigt bereitet mir immer Kopfschmerzen. Ich brauche Stunden dafür. Ich bete und schwitze, und manchmal fluche ich leider auch. Ich war die ganze Nacht auf und habe mich damit abgequält. Unter einem alten Feigenbaum draußen auf dem Platz steht eine Bank, dorthin gehe ich oft zum Meditieren. Du musst mich gesehen haben –«

Rourke ergriff das Gesicht seines Bruders mit beiden Händen. Er bohrte seine Finger in das weiche Fleisch und schüttelte ihn grob, dann bog er dessen Kopf herunter, bis sich ihre Stirnen berührten und der Griff zu einer Umarmung wurde.

»Paulie, Paulie, Paulie. Du warst schon immer ein beschissener Lügner.«

Im Dunkel der Tod

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