Читать книгу Im Dunkel der Tod - Penelope Williamson - Страница 6

Zweites Kapitel

Оглавление

Carlos Kelly stand am Ende des Piers. Der Lauf eines fetten Revolvers drückte gegen den Knochen hinter seinem linken Ohr. Schwarzes, öliges Flusswasser schwappte gegen die Holzpfähle unter seinen Füßen, und der Wind stank nach totem Fisch, saurem Schlamm und den gärenden Kartoffeln in den Destillierapparaten der Schnapsbrennereien am Kai. Dennoch war das Leben süß, und er wollte nicht sterben.

»Oh, Jesus«, sagte er. »Tu das nicht.«

Der Gorilla mit der Knarre lachte nur und bohrte den Lauf tiefer in Carlos Kellys Kopf.

Dieser holte schluchzend Luft und schloss die Augen. »Noch einen Tag, okay? Gib mir einen Tag, und ich bringe die Sache mit Tony in Ordnung.«

»Klar doch.« Der Gorilla lachte knarzend, wie eine stumpfe Säge in frischem Holz. »Mann, du hast deine Tage hinter dir, kapiert?«

»Bitte. Ich habe Mutter und Schwester.« Jetzt weinte er, sein Gesicht war glitschig nass, der Rotz tropfte ihm aus der Nase. »Oh, Jesus, oh, Jesus, das kannst du nicht machen. Das kannst du nicht.«

Carlos Kelly war erst siebzehn und hatte bis zu diesem Augenblick geglaubt, er würde ewig leben. Er konnte sich mit dem Gedanken an den Tod einfach nicht anfreunden, begriff aber, dass er in der schlimmsten Klemme seines Lebens steckte.

Nur die Karten waren schuld, aber man konnte nicht spielen, ohne zu zahlen, und wer hätte gedacht, dass so eine lausige Pechsträhne einen ganzen Monat anhalten könnte? Also hatte er sich ein bisschen von dem Geld geliehen, das er für Tony die Ratte überbringen sollte, und das hatte der Typ irgendwie herausgefunden und zahlte es ihm nun heim. Allerdings gab Tony die Ratte sich nicht mit Schlagringen oder Totschlägern ab. Das Brechen von Kiefern und Kniescheiben war ihm zu subtil. Wenn er seinen Gorilla vorbeischickte, durfte man danach mit den Welsen Walzer tanzen.

Der Wind legte sich. Carlos Kelly hörte das Klicken, als der Hahn gespannt wurde.

Oh, Jesus.

Ein krachender Schuss hallte über das Wasser, und Carlos Kelly sank auf alle viere nieder. Seine Handflächen brannten, beißender Uringestank stieg ihm in die Nase, und dann begriff er, dass er nicht tot sein konnte, wenn er sich in die Hose pisste.

Das begriff auch der Gorilla. Er war bei dem Schuss und dem Geschrei von hinten herumgewirbelt, drehte sich aber schon wieder um und richtete den großkalibrigen Revolver auf Carlos Kellys Gesicht.

Der Junge rollte sich beiseite und trat aus, als der Gorilla gerade den Abzug betätigte. Zum ersten Mal in seinem jungen Leben hatte Carlos Kelly Glück. Sein schwerer Schuh traf den Gorilla in die Kniekehle und zog ihm das rechte Bein weg. Der Schuss ging weit daneben. Carlos Kelly trat noch einmal zu.

Der Gorilla taumelte, verfing sich mit dem Absatz in einem Spalt zwischen den verbogenen Planken. Stolperte und plumpste vom Pier rückwärts in den Fluss.

Carlos Kelly hörte nicht mehr, wie er aufklatschte. Er war schon auf den Beinen und rannte, weg vom Fluss, hinein in das Gewirr enger, heruntergekommener Straßen, aus denen das Quarter bestand.

Selbst um zwei Uhr morgens schlief das Quarter nicht, doch hier spielte sich alles hinter den verriegelten Türen und vernagelten Fenstern der Flüsterkneipen ab. Die Straßenmädchen und Säufer, die noch unterwegs waren, konnten keinem helfen. Carlos Kelly tauchte in den Schatten eines bogenförmigen Eingangsportals, das zu einer leer stehenden Makkaroni-Fabrik gehörte. Er horchte auf Schritte, doch sein Atem rasselte zu laut in seiner Kehle, und sein Herz schlug zu schnell, er hörte nur seine eigene Angst. Seine Beine zitterten so sehr, dass er sich kaum aufrecht halten konnte.

Die Ziegelwand, gegen die er gesackt war, war mit abblätternden Plakaten bedeckt, die einen längst entschiedenen Boxkampf ankündigten. Die zerbrochenen Scheiben in der Lünette über seinem Kopf knirschten und stöhnten im Wind. Die scheunenähnliche Doppeltür zur Fabrik war mit einem Vorhängeschloss versehen, doch er konnte erkennen, wo sich der Bügel gelöst hatte. Das verwitterte Holz trug eine Zinke: zwei parallele Wellenlinien, durch die fünf Striche verliefen. Er wusste nicht, was das Zeichen bedeutete, es war ihm auch egal. Er wollte sich nur verstecken.

Der Wind blies um die Ecke, und Carlos Kelly schauderte plötzlich, seine Haut war ganz feucht. Himmel, er war vor Angst durchgeschwitzt. Er fürchtete sich noch immer, verspürte allmählich aber auch eine gewisse Scham wegen seines Verhaltens, des Gejammers und der Tränen.

Ein Müllereimer klapperte, dann zerbrach ein Glas auf dem Kopfsteinpflaster, gefolgt von einem knurrenden Fluch. Um ein Haar hätte Carlos Kelly sich noch mal in die Hose gemacht.

Seine Füße zuckten, wollten weglaufen, die Straße lag verlassen da, grell erleuchtet von den weiß glühenden Laternen, doch er drückte sich tiefer in den Eingang und tastete hinter sich nach dem zerbrochenen Vorhängeschloss.

Er zog es aus dem morschen Holz und öffnete vorsichtig die Tür. Wenn nur die Scharniere nicht quietschten.

Drinnen war es dunkel bis auf das wenige Licht, das durch die Ritzen in den vernagelten Fenstern drang. Er hörte ein Rascheln und sah durch das Laufgitter über seinem Kopf. Er fuhr zusammen, als er aus dem Augenwinkel flatternde, dunkle Flügel erspähte. Ein schrilles Quieken hallte zwischen den Balken der hohen, schrägen Decke wider.

Jesus, das waren Fledermäuse.

Das Blut pochte in seinen Ohren, ein Schrei steckte tief in seiner Kehle, doch er wollte ihn nicht hinauslassen. Er hasste Fledermäuse, hasste sie abgrundtief, aber im Moment waren sie ihm lieber als ein weiteres Stelldichein mit dem Gorilla von Tony der Ratte.

Er blieb lange reglos stehen und wagte kaum zu atmen, während sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Langsam legte er den Kopf in den Nacken und schaute noch einmal durch das Metallgitter nach oben. Gott sei Dank, die Fledermäuse waren verschwunden.

Maschinen warfen ungeheure Schatten an die Wände der Makkaroni-Fabrik, sein Blick glitt über Zementbottiche und lange Holztröge, riesige Räder und Flaschenzüge, die durch dicke Ventilatorriemen miteinander verbunden waren und an gigantische Steinschleudern erinnerten. Dann entdeckte er in der hintersten Ecke ein flackerndes Feuer.

Landstreicher, dachte er, doch anders als die Fledermäuse machten sie ihm keine Angst. Ihre Gesellschaft wäre jetzt ganz nett, und vielleicht konnte er am Morgen mit ihnen auf einen Zug springen. Carlos Kelly musste zusehen, dass er seinen Arsch aus der Stadt bugsierte.

Landstreicher, die auf Zügen mitfuhren, waren allerdings immer bewaffnet. Daher bewegte er sich absichtlich laut durch die höhlenartige Fabrik. »He, ihr da drüben«, rief er freundlich. Er roch Fleisch, das gebraten wurde, doch beim Näherkommen stellte er fest, dass das Flackern von dicht nebeneinander stehenden Votivkerzen stammte. Über den brennenden Kerzen hing etwas vom Querbalken eines großen Trockengestells.

Etwas, das wimmerte und dann ein entsetzliches Geräusch von sich gab. Ein Geräusch, das er nur einmal gehört und nie vergessen hatte – das nasse, knackende Gurgeln eines Menschen, der in seinem Blut ertrinkt.

Als er nahe genug war, um alles sehen zu können, fiel Carlos Kelly zum zweiten Mal in dieser Nacht schluchzend auf die Knie.

»Oh, Jesus.«

Im Dunkel der Tod

Подняться наверх