Читать книгу Im Dunkel der Tod - Penelope Williamson - Страница 8

Viertes Kapitel

Оглавление

Die Makkaroni-Fabrik lag in einer üblen Gegend zwischen einem Puff und einer Absteige, in der man für zwei Mäuse ein Bett für die Nacht mieten konnte. Gegenüber befand sich hinter einem durchhängenden, rostigen Maschendraht eine Autoschieberwerkstatt, die erst letzte Woche im Rahmen des neuen Kreuzzugs gegen das Verbrechen, zu dem der Bürgermeister aufgerufen hatte, geschlossen worden war.

Rourke stieg aus dem Bearcat und sah sich um. Sein Gesicht war kalt, und die Brust tat ihm weh, als hätte ihn jemand mit einem Baseballschläger erwischt. Er fürchtete sich vor dem, was er hier finden würde. Er sagte sich, dass es in New Orleans zweihundertfünfundsiebzig Priester gab und es sich bei dem Opfer daher nicht zwangsläufig um seinen Bruder Paulie handeln musste.

Vielleicht aber um den Bruder von jemand anderem.

Ein uniformierter Polizist war an der Backsteinmauer der Fabrik zusammengesackt und stierte in die Kotzlache zwischen seinen Füßen. Als Rourke näher kam, hob er den Kopf und schaute mit trüben Augen auf dessen Detektivabzeichen.

»Haben Sie auf der Wache angerufen?«, fragte Rourke.

Der junge Polizist schluckte und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Mein Partner. Er ist drinnen. Man hat uns angewiesen, bei der Leiche zu bleiben, bis Sie kommen, aber ich konnte nicht ...« Ihm kam wieder die Galle hoch, er musste würgen. »O Gott.«

»Durch den Mund atmen«, riet ihm Rourke.

Der Polizist nickte und schluckte einen großen Mund voll Luft. Rourke winkte Fio herüber, der die Kameras, das Fingerabdruckset und eine elektrische Taschenlampe aus dem Kofferraum holte. »Vielleicht könnten Sie meinem Partner helfen«, sagte er. Dann hätte der Junge etwas zu tun, das ihn von dem Anblick ablenkte.

Der junge Polizist nickte und schnappte erneut nach Luft. Allmählich wich die grüne Farbe aus seinem Gesicht.

Rourke sah sich den Eingang zur Fabrik näher an. Der Wind hatte in einer Ecke des Eingangsportals Zeitungsfetzen, welkes Laub und Tamale-Einwickelpapier aufgetürmt. Der Boden war mit Splittern der zerbrochenen Lünette übersät, der Bügel am Türschloss zerbrochen.

»Wart ihr das mit dem Schloss?«, fragte er den Jungen.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Es sah schon so aus, als wir kamen. Der Bursche, der die Leiche gefunden hat ... Wir waren gerade in einer Flüsterkneipe um die Ecke und haben, hm, gepinkelt, als der Junge angerannt kam und etwas von einem gekreuzigten Priester brüllte. Vielleicht ist er eingebrochen.«

»Schon gut.« Rourke öffnete die Tür mit einem Taschentuch, obwohl die Streifenpolizisten und Gott weiß wer sonst noch vermutlich schon ihre Fingerabdrücke hinterlassen hatten.

Die Fabrik stand noch nicht lange leer, denn es gab noch Strom. Drahtkörbe mit Lampen hingen an Ketten von den Deckenbalken. Ungefähr die Hälfte brannte noch. Rourke wollte fragen, ob die Lampen bereits an gewesen waren, als die Männer herkamen, doch der Streifenpolizist war schon zu Fio gegangen.

Die Fabrikhalle war lang und schmal. Die Maschinen zum Teigmischen, zum Ausrollen, Schneiden und Trocknen der Makkaroni waren noch vorhanden. Am anderen Ende des Gebäudes stand ein Polizist in Uniform. Und neben ihm hing etwas, das schlimm zu werden drohte.

Die Knöpfe und das Abzeichen am Uniformhemd des Streifenpolizisten schimmerten im gelben elektrischen Licht. Er holte gerade eine Zigarette aus einer Schachtel, ließ Rourke aber nicht aus den Augen, während er die Klebekante ableckte und sich die Zigarette anzündete. Er schnippte das Streichholz auf den Boden und schwang seinen Gummiknüppel hin und her.

Rourkes Absätze klackten auf dem Steinboden. Er atmete schwer und schmerzhaft. Beim Näherkommen roch er das Blut und etwas, womit er nicht gerechnet hatte – verbranntes Fleisch. Jetzt konnte er erkennen, dass das hängende Etwas tatsächlich ein Priester war. Oder zumindest jemand, der die schwarze Soutane und den weißen Halskragen eines Priesters trug.

Rourke stieß die Hände in die Taschen, um das Zittern zu verbergen. Er hatte immer gern gewettet. Den Bearcat hatte er von seinen Glücksspielgewinnen gekauft; er war dafür bekannt, dass er beim Pferderennen einen Hunderter verlor, ohne mit der Wimper zu zucken. Ein Spieler würde auf Risiko setzen. Zweihundertfünfundsiebzig zu eins.

Es war nicht sein Bruder.

Schon die Körpergröße stimmte nicht – er war mindestens acht Zentimeter zu klein und viel zu schlank. Allerdings hätte selbst die eigene Mutter den Toten nur schwer identifizieren können. Beide Wangenknochen waren gebrochen, die Augen zugeschwollen, die Nase war eingeschlagen. Der Mund war breiig und blutverschmiert.

Er hing am Querbalken eines Trockengestells. An Nägeln, die man durch die Handgelenke geschlagen hatte. Seine nackten Füße waren mit einem Seil gefesselt, die Sohlen blutig und mit Brandblasen übersät. Der Tote hatte so gehangen, dass seine Füße nur knapp über den aufgereihten Votivkerzen baumelten. Rourke hockte sich hin. Er zog einen Füller aus der Brusttasche und drückte die Spitze in eine Kerze, gleich neben dem Docht. Das Wachs war noch weich.

Rourke starrte auf die Füße. Sie waren schlank und schön geformt, die Haut sah blass aus, wo sie nicht verbrannt war. Nackte menschliche Füße wirken ungeheuer verletzlich, dachte er. Er hatte diesen Teil seines Jobs – den Anblick von Leichen, von Ermordeten – schon immer gehasst.

Rourke sah zu dem Streifenpolizisten hoch. Der Mann war Anfang dreißig wie Rourke, hatte ein frisches, gut geschnittenes Gesicht und das rote Haar der Iren. Die tiefe, lehmige Herbstfarbe. Sein blaues Uniformhemd spannte über der gewölbten Brust und einem Bauch, der erste Ansätze von Fett zeigte. Rourkes Gegenwart veranlasste ihn zu einem hämischen Grinsen.

»Haben die Kerzen gebrannt, als Sie kamen?«, fragte Rourke.

Der Cop zog in aller Seelenruhe an seiner Zigarette, bevor er antwortete. »Nee. Der Steife war aber noch so frisch, dass man den Todesfurz riechen konnte.«

Rourke schaute wieder zu Boden, atmete tief ein. Er spürte, wie ihm das Blut in die Hände schoss. Er wollte irgendwo gegenschlagen.

Der Mörder hatte seinem Opfer Schuhe und Socken ausgezogen, die Socken sorgfältig zusammengerollt und in die Schuhe gesteckt und diese dann ordentlich nebeneinander gestellt. Neben den Schuhen lag ein blutiges Tuch, das wie ein Stück von einem Bettlaken aussah. Die Enden waren verdreht, als wären sie einmal verknotet gewesen.

»War er geknebelt?«

»Jesus, wir sollen doch nichts anfassen, oder? Wir wissen nämlich, dass wir dann von aufgeblasenen, dämlichen Schwänzen wie euch den Arsch voll kriegen.«

Rourke stemmte sich hoch und drehte sich ein wenig, sodass er genau vor dem Polizisten stand. Wenn man einen Säufer zum Vater hatte und die Dämonen selber in sich trug, erkannte man sofort, ob ein Mann an der Flasche hing. Blutunterlaufene Augen mit Tränensäcken. Der feste Griff um den Gummiknüppel, um das Zittern zu verbergen. Der Geruch von billigem Roggenwhisky, der aus allen Poren drang.

»Ich glaube, ich habe Ihren Namen nicht verstanden«, sagte Rourke mit einem bissigen Lächeln.

Der andere Bulle grinste höhnisch zurück. »Jack Murphy.«

»Gut, weiter so, Streifenpolizist Jack Murphy«, sagte Rourke und klopfte gegen dessen glänzendes Abzeichen. »Immer schön lächeln und in Ärsche kriechen, dann wirst du vielleicht auch mal so ein aufgeblasener, dämlicher Schwanz.«

Fio schnaubte laut, als er den toten Priester erblickte. »Allmächtiger.«

Rourke trat neben die Leiche und griff mit der Hand in die Tasche der Soutane. Darin fand er einen Rosenkranz, Kleingeld, einen Schlüsselring mit zwei Schlüsseln und einen Büchereiausweis. »Father Patrick Walsh«, las er laut.

Fio stöhnte. »Scheiße, Mann, sag, dass das nicht wahr ist. Warum kriegen immer wir es mit den heißesten politischen Kartoffeln zu tun?«

Es gab zweihundertfünfundsiebzig Priester in New Orleans, aber Father Patrick Walsh war als Einziger von ihnen eine Berühmtheit. Er hatte ein Buch mit seinen Kanzelreden veröffentlicht, das zu einem Bestseller geworden war, und seine Anhänger kamen sogar aus Texas und Mississippi, um zu erleben, wie er in der Kirche Unserer Lieben Frau vom Heiligen Rosenkranz die Messe las. Sein Predigtstil war eher evangeliumsgläubig als katholisch – bei ihm wurde man im Geiste Jesu getauft, sang das Evangelium und sprach in Zungen. Seine mitreißende, unorthodoxe Art hatte ihm mehr als einmal Probleme mit der kirchlichen Hierarchie beschert, doch seine Herde und seine Fans nannten ihn liebevoll »unseren Father Pat«. Sie vergötterten ihn.

So hatte zumindest die Times-Picayune vor kurzem geschrieben. Rourke erinnerte sich an den Artikel, in dem gestanden hatte, Father Patrick Walsh sei ein Waisenjunge, der nichts über seine Herkunft wisse. Er sei als Findelkind in einem Heim in Paris, Louisiana, aufgewachsen, einer kleinen Zuckerrohrstadt, sechzig Meilen westlich am Bayou Lafourche gelegen. Also war dieser Priester niemandes Bruder gewesen.

»Wissen wir genau, dass er es ist?«, fragte Fio. Er stellte gerade die Rasterkamera auf ein hohes Stativ. »Ein Büchereiausweis heißt noch nichts. Vielleicht ist er es gar nicht.«

»Doch.«

Zu Lebzeiten hatte Father Walsh offensichtlich die flachen grünen Augen, den breiten Mund und den schweren Knochenbau der Menschen aus den Bergen im Norden Louisianas besessen. Spuren davon waren trotz der Misshandlungen noch zu erkennen.

Fio machte ein Foto von der Leiche. Das Blitzlicht der Kamera fiel grellweiß auf das blutige Gesicht, auf die nackten, verbrannten Füße und die Nägel, die durch das verletzliche Fleisch gedrungen waren.

»Wo ist der Hammer?«, fragte Rourke. »Womit hat er die Nägel eingeschlagen?«

Fio betrachtete den Bereich um das Trockengestell. »Vielleicht mit einem Schuh.«

»Nicht schwer genug.«

»Vermutlich hast du Recht.« Er schaute sich gründlich im Gebäude um. »Wir brauchen eine verdammte Armee, um diesen Tatort zu durchkämmen. Ich suche mit dem Pulver nach latenten Abdrücken, aber in so einer Fabrik dürfte es Millionen davon geben.«

»Konzentrier dich auf die Kerzen und den Bereich um die Nägel. Wer weiß, vielleicht haben wir ja Glück.«

Der Streifenpolizist hatte seinen Stock geschwungen und hämisch gegrinst, während er ihnen bei der Arbeit zusah, doch nun stieß er ein lautes Schnauben aus.

»Das ist Jack Murphy«, stellte Rourke ihn vor. »Er mag uns nicht – hält uns für dämliche Schwänze oder so ähnlich. Kann aber sein, dass er nur stinkig ist, weil die Leiche diesmal ein Priester ist und es keine diamantenen Anstecknadeln oder Geldgürtel gab, die er sich unter den Nagel reißen konnte, bevor er Alarm schlug.«

Murphy warf Rourke einen drohenden Blick zu, sagte aber nichts, und Rourke vermutete, dass er gar nicht so falsch lag. Wahrscheinlich hatte Jack Murphy sich an die Tradition aller altgedienten Streifenpolizisten gehalten und die Kleidung des toten Priesters nach Wertvollem durchsucht, während sein junger Partner sich draußen die Seele aus dem Leib kotzte.

Rourke starrte Jack Murphy an, bis ein winziges Zucken unter dem rechten Auge des Streifenpolizisten erschien. Er wandte sich ab. »Was ist mit dem Jungen, der die Leiche gefunden hat?« Murphy ließ sich wieder Zeit mit der Antwort und sah den Ermittler nicht an, zog noch einmal an der Zigarette und deutete dann mit seinem Gummiknüppel in die äußerste Ecke der Fabrik, die ziemlich finster war. Rourke konnte den Schatten eines Jungen erkennen, der auf einem umgedrehten Ölfass saß und mit Handschellen an ein Wasserrohr gefesselt war.

»Der Kleine heißt Carlos Kelly«, erklärte Murphy. »Vermutlich war er’s nicht, aber Sie können ihn dafür drankriegen, ihr Mordermittler seid doch immer so scharf drauf, die Fälle schnell abzuschließen. Macht sich gut bei den Jungs da oben. Und so ein armes Schwein mit ’ner spanischen Schlampe als Mutter ist ohnehin kein großer Verlust für die Gesellschaft.«

Er fischte den Handschellenschlüssel aus der Tasche und warf ihn Rourke zu. »Außer, Sie hängen es einem Nigger vom Hafen an. Da könnte ich Ihnen ein paar Namen liefern.«

Rourke fing den Schlüssel auf, schaute Fio an und seufzte gequält. »Und du wolltest mir weismachen, wir hätten einen schwierigen Fall am Hals.«

Selbst jetzt, da Carlos Kelly schmutzig und verängstigt war, sah er mit seinen vollen Lippen, den dunklen Locken und himmelblauen Augen aus wie ein Heiliger. Die Handschellen wirkten angesichts seiner Schönheit wie ein Schlag ins Gesicht.

Rourke nahm sie ab, zog ein Ölfass heran und setzte sich neben Kelly. Er ließ das Schweigen wirken. Hier konnte man das Blut und das verbrannte Fleisch nicht riechen, sondern nur Staub, Rost und Öl, das im Laufe der Zeit in den Boden gesickert war.

Der Junge hatte sich das Handgelenk gerieben und schaute nun hoch. Sein Blick wanderte von Rourke zu der Leiche und glitt wieder weg.

Rourke holte seinen Flachmann aus der Smokingtasche und hielt ihn Kelly wortlos hin. Die Hände des Jungen zitterten, als er einen Schluck nahm, und seine Zähne schlugen gegen die silberne Tülle.

Er gab Rourke die Flasche zurück und versuchte zu lächeln.

»Du sitzt ganz schön in der Patsche, Carlos«, sagte Rourke scharf. »Mann, einen Priester zu ermorden. Die Richter werden sagen, der neue elektrische Stuhl sei noch zu gnädig für jemanden, der so was getan hat.«

Der Kopf des Jungen schoss hoch, als hätte man ihn geschlagen. »He, Moment mal. Was wollen Sie ...? Oh, Jesus, ich war es nicht. Warum sollte ich das tun und danach Hilfe holen?«

Rourke sagte nichts. Der Junge beugte sich stöhnend vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Mitunter«, meinte Rourke sanfter, »gerät ein Mann in Schwierigkeiten, die ihm über den Kopf wachsen.«

Der Junge drückte das Gesicht in die Hände, holte tief Luft und hob langsam den Kopf. »Kennen Sie den Wucherer Tony die Ratte?«

»Klar«, meinte Rourke lächelnd. »Wir kennen uns schon ewig.« Tony Benato war ein Kredithai, der gelegentlich ein bisschen mit Koks handelte, um seinen eigenen Konsum zu finanzieren. Den Spitznamen Tony die Ratte verdankte er dem Loch in seiner spitzen Nase, das entstanden war, nachdem er sich jahrelang alles Erdenkliche reingestopft hatte, das einen Höhenflug versprach.

»Meine Mama war krank und musste operiert werden, sonst wäre sie gestorben, und da habe ich mir von Tony ein paar Riesen geliehen, aber er wollte fünfzig Prozent, und ich kam nicht mal mit den Zinsen nach, ganz zu schweigen von den eigentlichen zweitausend Mäusen. Dabei habe ich Doppelschichten auf den Docks geschoben.«

»Ja, das ist hart. Und dann hat er dir seinen Schläger geschickt, um ein Exempel zu statuieren«, meinte Rourke. Er tat, als kaufte er dem Jungen die traurige Geschichte ab, weil er hoffte, dass seine Lügen wenigstens mit einem Hauch von Wahrheit überzogen waren.

Carlos Kelly nickte eifrig. »Tonys Gorilla hat mich zum Kai an der Esplanade geschleppt und mir seine Riesenknarre direkt an den Kopf gedrückt, aber dann ging irgendwo ein Schuss los, und jemand hat geschrien. Der Gorilla hat nicht aufgepasst, da bin ich abgehauen.«

Rourke machte sich nicht die Mühe, nach dem Namen des Schlägers mit der Knarre zu fragen. Tony die Ratte war ein kleiner Kredithai und Wochenenddealer, der nur einen einzigen Gorilla beschäftigte. Ironischerweise trug dieser ebenfalls den Spitznamen die Ratte, Guido die Ratte. Guido hatte sich den Namen als Kind verdient, als er für zehn Cent Ratten den Kopf abbiss.

»Warum bist du hergekommen, nachdem du Tonys Gorilla entwischt warst?«

Der Junge zuckte die Achseln. »Hab nicht weiter nachgedacht. Bin einfach gerannt.«

Fio hatte sich auf ein Ölfass gestellt und bestäubte nun den Querbalken mit Quecksilber- und Kreidepulver. Carlos Kelly sah hin und schluckte schwer. »Ich wollte nur für eine Weile untertauchen.« Er schauderte. »Ich hätte sofort abhauen sollen, als ich die verfluchten Fledermäuse entdeckt hab.«

Rourke schaute hoch. Um die Lampen huschten Motten und fliegende Kakerlaken, doch er sah keine pelzigen Körper von den Balken hängen. »Fledermäuse?«

Carlos Kelly deutete zu dem Laufgitter, das sich unterhalb der Decke an den Wänden der Fabrik entlangzog. »Sie haben da oben genistet oder so. Ich habe die Flügel flattern sehen und das Quieken gehört. Dann entdeckte ich das Feuer – jedenfalls hab ich es dafür gehalten. Dachte, ein paar Tramps wollten was trinken und sich was kochen. Aber als ich näher kam, sah ich ... ihn. Wie er da hing. Er atmete ganz schwer. Blutige Blasen kamen aus dem Mund. Er sagte: ›Mercy‹, ›Gnade‹, als wollte er Gott um Vergebung bitten, vielleicht sollte ich ihm auch helfen.« Der Junge holte keuchend Luft. »Oh, Jesus. Ich dachte, da brät jemand Fleisch, dabei waren es seine Füße.«

»Und da hast du die Kerzen ausgemacht.«

Der Junge nickte, Tränen schimmerten auf seinen Wangen. Er weinte schon eine ganze Weile. »Er hat noch gelebt, als ich loslief, um Hilfe zu holen. Das schwöre ich. Er hat noch gelebt ...« »Schon gut«, meinte Rourke.

Carlos Kelly war vermutlich ein kleines Licht, der Geldeintreiber eines billigen Kredithais, der seinen Arbeitgeber bestohlen und um ein Haar den zu erwartenden Preis bezahlt hatte. Allerdings hatte es schon etwas Mut gebraucht, sein Versteck zu verlassen, obwohl Tony Benatos Gorilla draußen nach ihm suchte. Rourke schaute nachdenklich vom gesenkten Kopf des Jungen zu dem gefolterten Priester. Fio hatte den Balken eingestäubt und machte gerade eine Nahaufnahme von den durchbohrten Handgelenken. Soeben war auch der städtische Leichenbeschauer eingetroffen.

»Ich kann dich aufs Revier in Mid-City bringen und eine Weile inkognito als wichtigen Zeugen dabehalten.«

Carlos Kelly atmete langsam aus. »Wie lange?«

»Hast du Familie, Freunde? Dann lange genug, bis sie die Sache mit Tony Benato geregelt haben«, sagte Rourke, als der Junge nickte. Er klopfte ihm auf die Schulter und erhob sich. »Aber lass die Finger von den Pinokel-Partien, die die Cops da laufen haben. Die würden ihre eigene Mutter über den Tisch ziehen.«

Carlos Kelly lachte, was eher wie ein Schluchzen klang. Er wischte sich das Gesicht ab und betrachtete dann seine Hand, als wäre er erstaunt, dass sie nass war. Er bekreuzigte sich und errötete, weil Rourke ihn dabei beobachtet hatte.

»Als ich reinkam, war es so dunkel, und dann die Maschinen und die Fledermäuse und die Flammen – ich musste an die Hölle denken. Und dann sah ich ihn ... da hängen. Ich meine, wer außer dem Teufel würde einem Priester so was antun?«

Der Streifenpolizist Jack Murphy laberte Fio zu. »Muss ja hart sein, so einen als Partner zu haben – einen Schönling mit College-Diplom. Nur weil der Typ einen Schutzengel ganz oben hat und einen Filmstar bumst, meint er, seine Scheiße riecht nach Rosen. Ich wette, Sie machen die ganze Arbeit, und er steht dauernd in der Zeitung.«

»Klar, die Welt ist ungerecht«, meinte Fio. Er begegnete Rourkes Blick, ohne zu lächeln. Sie arbeiteten seit fast einem Jahr zusammen und das nicht ohne Probleme. Vor allem, weil Fio vermutete, dass Rourke die Wahrheit über den Mord an Remy Lelouries Ehemann, den man in einer heißen Julinacht mit einem Rohrmesser in Stücke gehackt hatte, kannte und unter Verschluss hielt. Und Rourke konnte nichts daran ändern, weil Fio auf seinem Verdacht beharrte. Rourke kannte die Wahrheit und sprach nicht darüber, und das Misstrauen stand zwischen ihnen wie ein schmerzender Zahn, an dem man ständig herumbohrte, den man einfach nicht vergessen konnte.

Rourke sah, wie der Leichenbeschauer den Mund des Opfers aus der Nähe betrachtete und etwas Undeutliches murmelte, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. Er drehte sich um, als Rourke näher trat. »Ah, Lieutenant, das ist also Ihr Fall. Sehr schön.«

Moses Mueller war ein kleiner, fetter Mann, der altmodische Gehröcke trug, stets in einem grünen Packard mit Chauffeur vorfuhr und von seinem eigenen Geld die neueste Laborausstattung gekauft hatte. Unter den Kollegen hieß er nur der Leichenfresser, weil er sich leidenschaftlich für den Tod interessierte und immer von einem stechenden Geruch umweht wurde, den kein Schwall von Lucky Tiger Eau de Cologne übertünchen konnte. Der Leichenfresser seinerseits verachtete alle Polizisten, weil sie, wie er Rourke einmal in seiner geschraubten, altmodischen Redeweise erklärt hatte, »allesamt Ignoranten sind, die eine Obduktion für das Gegenstück zur Zigarette nach dem Geschlechtsverkehr halten.«

Nur vor Rourke schien die Verachtung des Leichenfressers Halt zu machen, was ihm den Spott seiner Kollegen eintrug, die darauf wetteten, wann ihn der Leichenfresser endlich zum Abendessen in sein Verlies bitten würde.

Im Augenblick stand Mueller auf Zehenspitzen, um sich die Stelle näher anzusehen, an der jemand einen Nagel durch Father Patrick Walshs linkes Handgelenk getrieben hatte. »Das ist nun interessant«, sagte er. »Wie ich sehe, hat Ihr Mörder es richtig gemacht.«

»Was?« Fio lachte, und Jack Murphy stimmte ein. »Gibt es dafür ein beschissenes Handbuch oder so?«

Der Leichenfresser seufzte tief, wobei sein Doppelkinn wabbelte. »Sie missverstehen mich wie üblich, Mr. Prankowski. Was sehen Sie, wenn Sie Statuen und Gemälde der Kreuzigung betrachten? Nägel in den Handflächen. Aber so wurde es nicht gemacht. Gewöhnlich wurden die ausgestreckten Arme des Verurteilten mit Seilen an den Querbalken, das patibulum, gefesselt, oder man schlug Nägel durch die Handgelenke, genau zwischen Elle und Speiche. Cicero betrachtete es als die furchtbarste Todesart.«

Rourke zwang sich, die Nägel zu betrachten. Eigentlich waren es Stifte von mindestens achtzehn Zentimetern Länge, deren Köpfe groß wie ein Daumennagel waren. Das war auch nötig, um sie durch das Handgelenk und so tief in den Balken zu schlagen, dass sie das Gewicht des Körpers halten konnten. An den Stellen, an denen sie ins Fleisch gedrungen waren, hatte sich die Haut blau verfärbt, und Blutrinnsale sickerten über die Arme des Priesters bis in die Ärmel. Allerdings nicht genügend Blut, um auf einen Tod durch Verbluten zu schließen.

»Was war die genaue Todesursache?«

Der Leichenfresser lächelte fast – eine Seltenheit. »Ach, das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Die rein medizinische Todesursache bei einer Kreuzigung wurde nie richtig erforscht. Vielleicht versagt das Herz oder man erstickt. Oder man stirbt an purer Erschöpfung, wenn man lange genug da hängt.«

»Unser Zeuge behauptet, er habe, kurz bevor er ihn fand, Schreie und einen Schuss gehört.«

»Klar doch«, meinte Fio, »das ergibt natürlich einen Sinn. Man macht sich die Mühe, einen Kerl ans Nudelgestell zu nageln, und erschießt ihn dann.«

»Sicher«, stimmte Jack Murphy ein. »Vielleicht wurde er bei einem Fluchtversuch erschossen.«

Der Leichenfresser bedachte sie mit einem säuerlichen Blick. »Womöglich denken Sie an einen Gnadenschuss«, sagte er zu Rourke. »Ich sehe zwar keine Einschusslöcher, aber wir können erst sicher sein, wenn ich ihn mir im Leichenschauhaus genau angesehen habe.«

Er trat zurück und betrachtete die Leiche von oben bis unten. »Ich frage mich, warum man ihn nicht ausgezogen hat. Die Römer haben sie immer ausgezogen, bevor sie sie an den Querbalken nagelten.«

Dichter Nebel stieg vom Fluss auf und wand sich wie nasse Gaze durch die engen, schmalen Gassen des French Quarter. Rourke stand vor dem Eingangsportal der Makkaroni-Fabrik und atmete tief die kühle, feuchte Luft ein, um den Geruch von Blut und verbranntem Fleisch aus seiner Nase zu vertreiben.

Der Leichenwagen war vorgefahren, und man hatte Father Patrick Walsh vom Kreuz genommen, in eine graue Decke gewickelt und auf einer Bahre davongetragen. Der Leichenfresser war vom Chauffeur im grünen Packard abgeholt worden. Fio hatte weitere Fotos gemacht und die Suche nach Fingerabdrücken abgeschlossen, während die Streifenpolizisten Wache hielten, falls der Mörder noch einmal zurückkehrte. So etwas war vorgekommen, dachte Rourke, doch er selbst hatte nie so viel Glück gehabt.

Nun trat Fio aus der Fabrik und machte die Tür hinter sich zu. Er hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen, als wollte er einem Schlag ausweichen. Er warf Rourke, der sich abgewandt hatte, einen langen Blick zu und zündete sich eine Castle Morro an.

»Mann«, sagte er, als die Zigarre brannte, »ich hab ja schon viel kranken Scheiß gesehen, aber das ...«

Der Wind wehte Rourke den süßen Duft des Havanna-Tabaks ins Gesicht, und er schloss kurz die Augen. Gegenüber peitschte der Wind ein Zeitungsblatt gegen den Maschendraht, hinter dem noch die gestohlenen Autos standen, und setzte ein Victory-Gasoline-Schild in Bewegung, das quietschend an seinen Ketten schwang. Eine leere Dose Schweinefleisch mit Bohnen schabte durch den Rinnstein.

Fio atmete schwer zwischen den Zähnen aus. »Jetzt werd mir bloß nicht launisch und verrückt, Day.«

»Schon gut.« Rourke hatte die Hände tief in die Taschen gesteckt und zu Fäusten geballt. Er zwang sich, sie zu öffnen, gleichmäßig zu atmen. Alle sagten ihm, er nehme jede zerschlagene, abgeschlachtete und entstellte Leiche zu persönlich. Allmählich glaubte er, dass sie Recht hatten.

Fio schaute ihn wieder lange an. »Schön, also reden wir über den Fall. Wir haben hier einen Kerl mit verbrannten Fußsohlen und denken an die Mafia, nur würde die sich nicht an einem Priester vergreifen.«

»Sie gehen jeden Sonntag zur Messe und lassen ihre Babys taufen und holen den Erzbischof persönlich für die Grabrede, aber sie würden den Papst umlegen, wenn es ihren Geschäften dienlich wäre«, meinte Rourke kopfschüttelnd. »Aber nicht so. Der Kerl, der das getan hat, war kein Gangster-Gorilla. Die Schläge ins Gesicht – das war persönlich. Der Mörder kannte Father Patrick Walsh und war höllisch wütend auf ihn.«

»Und dass er ihn an den Scheißbalken genagelt hat, war nicht persönlich?«

Rourke hatte drinnen geglaubt, etwas zu spüren, einen Gestank, den der Mörder hinterlassen hatte. Doch er konnte es noch nicht benennen. Zorn. Frustration. Verzweiflung. Raserei ... Was auch immer.

Fio rieb sich die Augen, als wollte er die Bilder wegwischen. »Wir sagen dauernd er, aber ich würde meinen, man braucht schon zwei Männer, um jemanden an den Balken zu nageln.«

Rourke zuckte die Achseln. »Für einen wäre es schwer, aber nicht unmöglich. Falls er sein Opfer erst bewusstlos geschlagen hat.«

»Da stand doch vor ein paar Wochen ein Riesenartikel über Walsh in der Zeitung«, meinte Fio. »Vielleicht hat der Täter eine Vendetta gegen die katholische Kirche angezettelt und sich den guten Father als Zielscheibe ausgesucht, an der er seinen ganzen Hass auslassen konnte.«

»Nur war die Leiche nicht nackt.«

»Jesus, du bist ja schlimmer als der Leichenfresser. Was macht es denn schon, ob das arme Schwein Klamotten anhatte oder nicht?«

»Die Sache mit den Nägeln stimmte. Durch die Handgelenke. Doch er hat ihn nicht ausgezogen. Wenn es eine Art symbolische Kreuzigung der Kirche sein sollte, hätte er sich exakt an das Ritual gehalten.«

»Wie du meinst. Mit Sex hatte es wohl auch nichts zu tun. Ich hatte vor ein paar Jahren mal einen Fall in Des Moines. Der Typ stand nur auf Nonnen, aber er zog sie aus, bevor er sie fi-, bevor er es mit ihnen machte.«

Fio schnippte die halb gerauchte Zigarre auf die Straße. Sie landete in einem Funkenregen und lag mit glimmender Spitze da.

Es würde eine Weile dauern, bis Votivkerzen einem Mann die Fußsohlen so verbrannt hatten, dass verkohltes Fleisch und Blasen zurückblieben, dachte Rourke. Der Mörder hatte genau geplant, was er brauchte, und alles mitgebracht: Kerzen, Nägel und was er als Hammer benutzt hatte. Dann hatte er sein Opfer geholt, um die Tat zu vollbringen, und sich Zeit dabei gelassen. »Er muss diesen Ort gekannt haben«, sagte Rourke. »Vielleicht hat er früher hier gearbeitet.«

»Oder er wohnt in der Gegend.« Fio reckte sich und ließ seine Gelenke knacken. »Wie schön, denk nur an die ganzen Kaschemmen und Puffs, die wir besuchen dürfen. Ich komme nach Hause und stinke nach Sour Mash Whisky und billigem Parfum, dass mich meine Frau eine Woche lang auf dem Sofa schlafen lässt.« Die Männer grinsten einander an, und die Spannung, die zwischen ihnen gehangen hatte, löste sich ein wenig.

»Eine Frage lässt mir aber keine Ruhe«, meinte Fio.

»Und die wäre?«

»Wie macht man eigentlich Makkaroni?«

Rourke musste lachen. »Keine Ahnung.«

Er sah sich noch einmal gründlich um. Morgen ... nein, heute, denn es dämmerte schon, heute würde der ganze Tatort noch einmal abgesucht. Eine zynische Stimme sagte ihm, dass Menschen schon immer auf obszöne Weise und aus obszönen Gründen gestorben seien und dass Laster und Leid in der Welt gediehen, doch in diesem Fall wollte er unbedingt Gerechtigkeit.

»Warum sollten Landstreicher wohl eine verlassene Fabrik meiden, in der es trocken ist und man viel Brennholz für kalte Nächte findet?«

Fio, der schon im Gehen begriffen war, drehte sich um. »Was?« Rourke deutete auf die Zinke an der Tür. »Ein Landstreicher hat eine Warnung hinterlassen, dass dieser Ort unsicher sei.«

Fio starrte das Zeichen an und zuckte dann mit den Achseln.

»Mal ehrlich – es ist nicht gerade das Ritz.«

Am Auto blieb Rourke stehen und schaute zum unendlichen Himmel empor, an dem kaum noch Sterne zu sehen waren. Die schwarzen Löcher zwischen ihnen füllten sich mit Licht. Er ließ seine Gedanken wandern, suchte nach einer Verbindung, und dann lächelte er ... Der Mörder hatte einen Plan und den Mut gehabt, ihn trotz aller Schwierigkeiten durchzuziehen, und er war schlau. Schlau, vorsichtig und arrogant. Schlau und vorsichtig, weil er versuchte, damit durchzukommen, und arrogant genug, um zu glauben, dass ihm das auch gelingen würde.

»Wir kriegen ihn, Day«, sagte Fio. Sein runzliges Gesicht wirkte besorgt, denn er hatte die grausame Schärfe in Rourkes Lächeln bemerkt und wusste, was sie bedeutete.

»Wir werden seinen beschissenen Arsch an den Querbalken nageln.«

Im Dunkel der Tod

Подняться наверх