Читать книгу Im Dunkel der Tod - Penelope Williamson - Страница 5

Erstes Kapitel

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New Orleans 1927

Heute Abend würde er ihr einen Brief mit seinem eigenen Blut schreiben.

Er plante den Brief schon länger, eigentlich seit er diesen Monumentalfilm gesehen hatte, in dem ein russisches Bauernmädchen im Sterben lag und man einen Arzt rief, der sie zur Ader lassen sollte. Dem Regisseur war eine anständige Nahaufnahme von der Lanzette gelungen, die ins Fleisch sticht und eine Ader öffnet, damit das Blut in eine Schale fließen kann. Dann hatte der Typ für die optischen Effekte die Kameralinse mit Blut besprüht. Vermutlich hatte man Schweineblut benutzt, doch beim normalen Filmtempo hatte es wie Tinte ausgesehen, und da war ihm zum ersten Mal die Idee gekommen. Dass er sie warnen könnte, indem er ihr mit seinem eigenen Blut schrieb.

Nicht dass er die anderen groß gewarnt hätte, sie hatten im Grunde keine Chance gehabt. Scheiß drauf. Sie hätten ohnehin nicht auf ihn gehört. Wenn er eine Neue auswählte, hoffte er immer, dass es diesmal anders laufen würde, doch nachdem er sie eine Weile beobachtet, in ihr Herz geschaut und dort ihr wirkliches Ich entdeckt hatte, musste er sich immer ins Unvermeidliche fügen: Die unrettbar Verlorenen konnte selbst der Tod nicht erlösen.

Klar, manchmal fickte er sie noch, bevor er sie tötete. Es war doch nur Sex, da war er nicht kleinlich. Sie sollten auch ihren Spaß haben, er wollte ihnen einen Moment des – wenn auch flüchtigen – Genusses bescheren, bevor er sie in den tiefen postkoitalen Schlummer schickte.

Na ja, die anderen ... man konnte sie als kleine Beschwichtigungsopfer bezeichnen, denn letztlich war sie die Einzige, die es wert war, gerettet zu werden. Sie war nicht irgendeine, sondern die Erwählte, und sie gehörte ihm. Sie war seine Liebe, sein Schicksal, der einzige Grund zum Atmen. Woraus logisch folgte, dass er sich selbst auch töten musste, wenn der Tod die einzige Rettung für sie war. Sie mussten gemeinsam sterben, wie Julia und ihr Romeo.

»Romeo«, sagte er laut und wollte lachen, doch das Geräusch, das er hervorstieß, klang eher wie ein Schluchzen. »Klar, das bin ich für dich, Baby. Dein verdammter Romeo, also lass es nicht drauf ankommen. Was hast du gesagt? Lass es nicht drauf ankommen ...«

Himmel, er hasste Geschichten mit einem traurigen Ende. Er war immer der arme Tropf, der hinten im Dunkeln hockte und bis zum bitteren Ende hoffte, Julia möge erwachen, bevor Romeo das Gift schluckte und starb.

Als Romeo zum ersten Mal daran gedacht hatte, etwas von seinem eigenen Blut zu opfern, um die Rettung seiner wahren Liebe voranzutreiben, hatte er versucht, sich mit einem Taschenmesser zu ritzen und mit seiner blutigen Fingerspitze zu schreiben. Aber die Buchstaben sahen ganz fleckig und verschmiert aus, und er hatte das Blatt zerknüllt und an die Wand geworfen.

Die Wände waren mit ihrem Gesicht bedeckt: glänzende Publicity-Fotos und Seiten, die er aus Fanzeitschriften gerissen hatte. Körnige Fotos aus Boulevardblättern und freizügige Bilder, die er selbst geschossen hatte. Er umgab sich mit ihrem Bild, weil sie schön war und ihm gehörte, aber das besondere Andenken, das Andenken, das zählte, hatte er in einem silbernen Rahmen neben seinem Bett stehen. Darauf hatte sie den Kopf leicht nach hinten geneigt, ihr breiter, zorniger Mund lachte, und sie fuhr sich mit den Fingern durch das kurze, dunkle Haar. So hatte die ganze Welt sie schon tausendmal gesehen, aber nur er wusste, was es bedeutete.

»He, ganz ruhig, Baby«, hatte er an jenem Tag zu ihr gesagt und sie geküsst. Das Glas, das ihr Gesicht bedeckte, lag kühl an seinen Lippen. »Wir wollen doch nichts überstürzen. Wenn wir es machen, wollen wir es auch richtig machen.«

Er brauche nur einen Satz Aderlassmesser, hatte er zu ihr gesagt.

Allerdings konnte er schlecht in einen Drugstore stiefeln und den Typen hinter der Theke danach fragen. Vielleicht hatte er auch gar nicht richtig danach gesucht. Und dann, heute Morgen, als er die Rampart Street entlanggegangen war und zur Abwechslung mal nicht an sie gedacht hatte, war sein Blick auf etwas im Schaufenster eines Kuriositätenladens gefallen. Es hatte einen dicken Griff aus Schildpatt, die drei Messerklingen waren fächerartig ausgeklappt. Er erkannte sofort das Instrument, das der Arzt bei dem russischen Bauernmädchen verwendet hatte.

Der Ladenbesitzer war runzlig wie eine vertrocknete Samenhülse und trug auf der Nasenspitze eine Brille, deren Gläser nicht größer als ein Daumenabdruck waren. Er fixierte Romeo durch seine komische kleine Brille, als wüsste er alles und hieße es gut. »Das sind hübsche Messer«, meinte er, als er die Klingen mit einem schmierigen Lappen wienerte. »Wirklich hübsch. Heutzutage finden wir Aderlässe barbarisch, aber in Wahrheit haben sie oft mehr genützt als geschadet. Sie senken die Temperatur des Patienten und wirken beruhigend. Und in einigen alten Kulturen galt der Aderlass als reinigendes Ritual.«

»Ehrlich?«, fragte Romeo lächelnd. Alte Kulturen interessierten ihn einen Scheißdreck, aber die Liebe, die er für sie empfand, war so selten und schön und rein, dass sie gewiss ein eigenes Ritual verdiente.

Gemächlich ging er mit dem Messer in der Tasche nach Hause. Er genoss sein Gewicht, freute sich auf das, was er mit den Klingen tun würde. Er bog um die Ecke in die Canal Street und stieß auf eine Menschenmenge, die sich vor dem neuen Saenger Theatre versammelt hatte, wo gerade mehrere Plakatkleber am Dach ein riesiges Kinoplakat anbrachten. Er blieb stehen und sah den Männern bei der Arbeit zu. Zuerst erschienen ihre Augen, dann ihr Mund und der Hals. Schließlich war sie über das ganze Plakat hingestreckt, und er sah, dass sie wie eine erschöpfte Geliebte quer über einem Bett lag – ihr Kopf hing an der Seite herunter, die Arme waren weit ausgebreitet. So warb sie für Verlorene Seelen, ihren neuesten Streifen. Es war ein völlig neuartiger und absolut gruseliger Film über eine tote Frau, deren gequälte, rastlose Seele nachts aus dem Grab steigt und die Gestalt einer Vampir-Fledermaus annimmt, um das Blut der Lebenden zu trinken. Das konnte nur mit einem Star wie ihr funktionieren.

Romeo lachte so laut, dass einige Leute statt des Plakates nun ihn anstarrten. Das war ihm egal; es waren Idioten, vor allem die Frauen. Spätestens Ende der Woche würden sie allesamt blutrote Lippen und Fledermaus-Capes tragen. Sie bemühten sich, wie sie zu sein: Sie schnitten sich das Haar kurz, wollten sich das exotische Gesicht über ihr eigenes malen und versuchten sogar, ihre geschmeidigen, trägen Bewegungen zu imitieren. Sie glaubten, sie könnten sie durch Schmeichelei und Verehrung besitzen, wo sie doch immer nur ihm gehören würde.

Er hatte sich in seinem Leben schon genügend Stoff gespritzt, um zu wissen, wie man eine Aderpresse anlegte und eine Ader hervortreten ließ, aber die seltsamen Messer machten ihn nervös. Jedes besaß zwei Klingen – unten eine lange, die in einer hakenförmigen Spitze endete, darüber eine kurze, dreieckige Klinge. Er hatte keine Ahnung, welche er benutzen musste, und das beunruhigte ihn. Er wollte sich nicht selbst abschlachten und verbluten. Himmel, dachte er, es wäre ein schlechter Witz, dieses Tal der Tränen ohne sie zu verlassen.

Er prüfte die Kante einer Hakenklinge und lächelte. Scharf genug, um Haut, Fleisch und blutige Adern zu durchtrennen.

Er summte vor sich hin, während er das Spritzbesteck aus dem Versteck und eine Suppenschüssel aus dem Küchenschrank holte. Er war high, aber es war ein unverfälschtes Hochgefühl, das aus der Situation geboren war. Er wickelte einen dünnen Gummischlauch um seinen Arm und zog ihn mit den Zähnen und einer Hand fest. Dann ballte er eine Faust, dass die Adern in der Armbeuge blau hervortraten.

Er starrte das Messer an, und sein High ließ etwas nach, näherte sich der Angst, doch dann dachte er Scheiß drauf, nahm das Messer und drückte die Spitze der oberen Klinge in die pulsierende Ader.

Er stieß einen Schmerzensschrei aus und ließ das Messer fallen, als ein leuchtend roter Strahl hervorspritzte. Sein Blut. Der Gedanke war beängstigend und erregend zugleich, und er starrte auf das Blut, das im hohen Bogen aus seinem Fleisch pulsierte, bis ihm einfiel, dass er den Arm über die Schüssel halten musste.

Das Blut war so wunderschön. Er wartete beinahe zu lange, dann endlich löste er die Aderpresse.

Er drückte den Handballen auf den Schnitt. Er blinzelte, schwankte ein wenig. Sein Kopf fühlte sich taub an, sein Körper schwer, als wäre er gerade aus einem Nickerchen erwacht. Er sah sich um, entdeckte belustigt die Blutspritzer auf der primelgelben Tapete, die Lache auf dem braunen Linoleum, doch seine Phantasie eilte voraus zu dem Augenblick, in dem sie seine Worte lesen und verstehen würde, dass sie endlich schlau werden und sich retten musste, sie beide retten musste, bevor es zu spät war. Keine anderen Männer mehr, keine anderen Liebschaften. Nur Julia und ihr Romeo.

Er würde nicht den Fehler begehen, den Brief mit der Post zu schicken. Sie bekam von ihren Fans zwanzigtausend Briefe pro Woche, die alle sorgfältig von den Studiosekretärinnen beantwortet wurden, die wieder und wieder den gleichen Text tippten und Remys Unterschrift mit einem Gummistempel darunter setzten. Er wollte, dass sie und nur sie die Worte las, die er mit seinem Blut geschrieben hatte. Folglich musste er den Brief selbst an einen Ort bringen, an dem sie ihn finden würde.

Er nahm das Automatic Pen genannte kalligraphische Werkzeug zur Hand, das er speziell für diese Gelegenheit gekauft hatte – die junge Frau im Schreibwarengeschäft hatte erklärt, man benutze es für dekorative Schriften und Plakate. Er hatte stunden-lang überlegt, was er schreiben wollte: den einzigen, perfekten Satz, der ihr begreiflich machen würde, wie verzweifelt die Lage war, wie viel sie ändern musste, bevor es zu spät war.

Er füllte den Kolben mit seinem Blut. Hielt die breite goldene Feder einen Augenblick lang über das jungfräuliche Blatt und schrieb los.

Hast du schon Angst, Remy?

Im Dunkel der Tod

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