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19. Oxana
ОглавлениеLautes Lachen hallte durch den Saal. Die Mädchen bewarfen sich mit Kissen und rannten um die Betten herum. Überall lagen aufgeklappte Koffer, stapelweise T-Shirts, Hosen und auf kleinen bunten Haufen die Sachen, in die die Mädchen nicht mehr reinpassten oder die sie nicht mehr mochten. Sie alle freuten sich auf den neuen Lebensabschnitt. Jeden Abend schauten sie eine Stunde deutsche Filme auf DVD an, und durch zusätzlichen Unterricht verstanden sie die Sprache bereits besser als die Erwachsenen, die sie in das neue Land begleiten sollten.
Unser Lehrer Dr. Specht und Forsthaus Falkenau liebte Oxana besonders. Nun aber saß sie bewegungslos auf dem Bett und starrte auf ihren leeren Koffer. Die Stimmen der anderen klangen so fern, als wäre sie unter Wasser.
„Kleines, was ist nur mit dir? Du gefällst mir seit ein paar Tagen gar nicht.“ Helena strich ihr liebevoll über das Haar, sorgsam darauf bedacht, das kunstvolle Flechtwerk nicht zu zerstören.
Oxana zuckte mit den Schultern und senkte den Kopf. Bloß nichts sagen! Sie versuchte, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken, der durch die unterdrückten Tränen ins schier Unendliche wuchs. Wenn sie jetzt Helenas besorgtem Blick begegnete, würde alles aus ihr herausplatzen.
„Oxana, du brauchst keine Angst zu haben. Wir kommen alle mit, bis ihr euch eingelebt habt, und ihr Mädchen bleibt doch sowieso erst mal zusammen.“
Oxana starrte weiter auf den Boden und nickte.
„Fang mal an, deine Sachen zu packen. Ich komme gleich noch mal zu dir.“ Helena stand auf und ging zu einer Gruppe kreischender Mädchen, die sich ein Stoffherz zuwarfen, während eine von ihnen weinend versuchte, es zurückzuerobern. Wie ein Hund, der beim Ballspielen nicht mitmachen durfte, hetzte es hin und her.
„Das ist von Borys! Ohne geht Anna niemals schlafen“, kicherte hinter ihr jemand.
„Ja ja! Sie hat ihn geküsst, mitten auf den Mund! Und dafür hat er es ihr geschenkt. Ich hab’s genau gesehen“, flüsterte eine andere Mädchenstimme.
„Auf den Mund? Das glaub ich nicht! Hat er da auch seine Zunge oder sogar sein Ding reingesteckt? Oder etwa unten?“
Oxana drehte den Kopf und beobachtete, wie die Mädchen hinter ihren Händen kicherten.
„Nee, das hat er bestimmt nicht! Dann darf sie doch nicht mit nach Deutschland. Das weiß ich ganz genau.“
„Du gibst doch immer nur an und weißt gar nichts. Hast du denn schon mal ein Ding reingesteckt bekommen?“ Die Mädchen schubsten sich verlegen.
„Igitt, nein! Was denkst du denn? Ich will in den glitzernden Geschäften lernen, wie man eine gute Verkäuferin wird, später Handtaschen verkaufen und tolle Kleider tragen. Und das geht nur als Jungfrau. Da sind die Deutschen ganz streng, hat Helena neulich zu einer Kollegin gesagt. Ich musste mal und habe vor ihrem Zimmer alles gehört.“
„Und wenn einem einer sein Ding reingesteckt hat, muss man hierbleiben?“
„Das wäre ja Mist. Also bei mir hat das noch keiner gemacht, obwohl ich schon blute.“
„Du? Aber du hast doch keine Brüste, wie kannst du dann bluten? Das will ich sehen.“
„Menno, du bist doof. Dir erzähle ich gar nichts mehr.“ Das Mädchen knallte den Koffer zu und rannte zur Tür.
In Oxanas Kopf dröhnte es. Sie durfte nicht mit? Er hatte ihr sein widerliches Ding überall reingesteckt. Es tat so weh wie das heiße Wasser, das sie sich in ihrer ersten Woche im Heim übergeschüttet hatte. Niemals vorher hatte sie einen so großen Kochtopf in der Hand gehabt. Der war so schwer gewesen, dass er ihr aus den Händen geglitten war. Aber damals war sofort Helena da gewesen und hatte sie jeden Tag verbunden.
Dieses Mal half ihr niemand. Andrej hatte sie zu dem Deutschen gefahren und gesagt, dass er auf dem Zimmer wartete, um ihr Bilder der neuen Schule zu zeigen. Sie sei auserwählt worden, weil sie schon so gut Deutsch spreche. Als er sie wieder abholte, sprach er gar nicht mehr mit ihr, und sie hatte wie eine Puppe stumm hinten im Auto gesessen. Zwischen den Beinen ein blutiges Handtuch mit der Aufschrift Hotel Odessa.
„Oxana? Du hast ja immer noch nicht angefangen.“ Helena setzte sich zu ihr aufs Bett.
„Darf ich dich was fragen, Helena?“ Oxanas Stimme zitterte. „Stimmt es, dass man nur als Jungfrau nach Deutschland darf?“
„Ja, das stimmt. In Deutschland ist das sehr wichtig. Da kommen nur die ehrlichsten und fleißigsten Mädchen hin. Hattest du etwa einen Freund?“
Oxana schüttelte heftig den Kopf. „Nee, ich habe da nur was gehört und war neugierig.“
„Puh, na dann ist es ja gut. Von wem hast du was gehört?“
„Weiß nicht.“ Sie wollte auf keinen Fall jemanden verraten. Vielleicht war da gar nichts.
„Na, macht nichts. Ist okay, dass du nicht petzen willst. Wir fahren von hier aus ja sowieso erst mal für ein paar Tage ins Gesundheitszentrum. Da werdet ihr alle untersucht und durchgecheckt. Und dann werden wir schnell sehen, wer gelogen hat und nicht mitdarf. Aber du musst dir ja keine Sorgen machen. Du warst immer die Bravste und Fleißigste von allen. Du wirst es in Deutschland gut haben.“
Helena streichelte ihr über die Wange und stand auf. Oxana brannten Tränen in den Augen. Alles würde rauskommen, sie war verloren. Was sollte sie nur tun? Es gab keinen Ort, wo sie bleiben konnte. Alle Mädchen würden ein besseres Leben haben. Nur sie würde zurückbleiben. Gerade erst hatten sie ihren vierzehnten Geburtstag gefeiert, und sie hatte ein schönes Kleid für Deutschland bekommen. Sie durfte nichts von dem Mann erzählen. Sonst geschah das alles jede Nacht aufs Neue. Aber wenn sie nichts sagte, dachten alle, dass sie gelogen und doch schon einen Freund gehabt hatte. Helena wäre dann furchtbar enttäuscht von ihr. Das durfte doch auch nicht sein. Mit einem erstickten Laut vergrub Oxana ihr Gesicht im Kopfkissen. Sie sah keinen Ausweg. Nirgends.