Читать книгу Thriller Collection I - Penelope Williamson - Страница 35
23. Oxana
ОглавлениеTränen schnürten ihr die Kehle zu. Gedämpft drang das Lachen der anderen Mädchen zu ihr. Sie fühlte sich von allen abgeschnitten und war völlig verzweifelt. Bäume und Häuser rauschten vorüber, während Oxana ihre heiße Stirn an die Scheibe drückte und nach draußen in den grauen Himmel starrte. Irgendwann sah sie nur noch Wald. Hier war sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gewesen. Wo fuhren sie bloß hin? Durch die kahlen Bäume, die erst in einigen Wochen ihre Blätter der Sonne entgegenstrecken würden, sah sie in der Ferne die oberen Etagen von Hochhäusern, die mitten im Wald seltsam fehl am Platz wirkten.
Der Bus fuhr in eine Siedlung mit großen Straßenkreuzungen, Menschen oder Autos waren keine zu sehen. Eine rostige, gelbe Straßenbahn fuhr an ihnen vorbei. Zwei geduckte Mütterchen mit Kopftüchern und Tüten verließen die Bahn und schlurften ihres Weges. Hinter bröckelnden Mauern und Maschendrahtzäunen verfielen Gebäude. Sie fuhren über breite Straßen aus Betonplatten und stoppten vor einem Tor, das beinahe so hoch wie der Bus war. Eine orange Signallampe drehte sich lautlos, als es aufglitt.
Oxanas Panik drohte sie zu zerreißen. Luft! Sie brauchte Luft. Die Türen des Busses öffneten sich mit einem Seufzer. Oxana rannte an den Sitzplätzen vorbei nach vorne und fiel auf der Treppe nach draußen einer Frau, die die grauen Haare in einem Dutt trug, in die Arme.
„Nanu? Was hast du es denn so eilig?“
„Ich … ich muss mal. Dringend.“
Die Frau wechselte einen Blick mit dem Busfahrer, der mit den Schultern zuckte, und kniff die Lippen zusammen.
„Du hast dich zu gedulden. Erst steigen alle aus, und wir teilen die Gruppen ein. Dann bringen wir euch rein. Da sind dann auch sanitäre Anlagen“, herrschte sie Oxana an.
„Warum ist Helena nicht hier? Sie hat es versprochen“, jammerte Oxana. „Ich möchte zu Helena zurück.“
„Jetzt pass mal gut auf“, zischte die Frau, und ihre Finger umschlossen schmerzhaft Oxanas Arm. „Deine Helena hat sich um andere Dinge zu kümmern, als sich dein Geheule anzuhören. Jetzt bist du hier und hast zu tun, was ich dir sage. Kapiert?“
Ihr Gesicht war jetzt so nah, dass Oxana die großen Poren und die schlaffe Haut um die Augen wie durch eine Lupe sehen konnte. Durch den strammen Haarknoten wirkte ihr Gesicht wie hinten angetackert. Sie roch faulig aus dem Mund, und Oxana wurde übel. Sie senkte den Blick und atmete flach durch den Mund. „Aber, aber … wir fahren doch schon bald weiter. Nach Deutschland! In die moderne Schule! Wie bei Unser Lehrer Dr. Specht.“ Ihre Stimme wurde immer leiser, und sie schaute wieder in das Gesicht der Frau.
„Doktor wer? Ja, klar. Was erzählen die euch nur immer für einen Mist? Jedes Mal der gleiche Ärger. Ihr bleibt jetzt hier und das für sehr lange Zeit. Gewöhn dich lieber gleich dran. Sonst bringen wir dich heute schon in das Zimmer für die bösen Kinder.“ Die Frau ließ Oxana so abrupt los, dass sie taumelte. Hinter ihr schloss sich das automatische Tor, durch das eben noch der Bus gerollt war, mit einem Klacken. Oxana fühlte sich gefangen.
„Warum kann ich hier nicht rausschauen? Warum ist das Tor verschlossen?“ Sie konnte nichts dagegen tun. Die Fragen purzelten nur so aus ihr heraus.
„Gib jetzt endlich Ruhe“, bellte die Frau sie an. Sie wandte sich von Oxana ab und las vier Namen vor. „Ihr geht jetzt mit Ludmilla rüber in die Untersuchungsräume.“ Sie zeigte auf eine dralle Frau in einem weißen Kittel und studierte wieder ihre Liste. Sie blickte auf die nächsten Mädchen. Eines fing an zu weinen. Hier war etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Was für Untersuchungsräume? Wurde jetzt schon gleich geschaut, ob sie alle noch keinen Freund gehabt hatten? Was sollte sie tun? Was machten die mit ihr, wenn sie alles rausfanden?
Der Fahrer hatte derweil mithilfe zweier Männer alle Koffer ausgeladen und schwang sich wieder auf seinen Sitz. Die orange Lampe drehte sich, und das Tor glitt wieder auf. Die Aufseherin griff ungeduldig nach dem Arm eines weinenden Mädchens und schubste es zu den anderen. Das Mädchen stolperte und fiel mitten in die Gruppe.
Oxana fühlte sich durch den Tumult unbeobachtet und ging rückwärts auf die andere Seite des Busses. Niemand achtete auf sie. Die Frauen herrschten die aufgerufenen Mädchen an, und die beiden Männer waren mit den ersten Koffern in einem langen, flachen Gebäude verschwunden. Der Fahrer setzte den Bus zurück auf die Straße, kurbelte mit der einen Hand am Lenkrad und hielt sich mit der anderen Hand ein Telefon ans Ohr, in das er lachend sprach. Mit zwei Sätzen war Oxana neben dem Bus, lief durch das offene Tor und sprang in eine ungepflegte Hecke. In einer stinkenden Abgaswolke fuhr der Bus los. Oxana lief geduckt in die andere Richtung und war mit wenigen Schritten im Wald verschwunden.
Was tat sie hier nur? Wo sollte sie denn hin? Warum lief sie weg? Oxana stoppte. Sollte sie nicht lieber zurückgehen und sagen, dass sie nur mal schnell hinter den Busch musste? Nein! Nein! Dieses Haus machte ihr große Angst.
Unter Schmerzen lief sie los. Aus welcher Richtung waren sie gekommen? Wo sollte sie hinlaufen? Zurück ins Internat? Die würden sie anschreien und sofort wieder zurück in das Haus bringen. Wohin? Wohin bloß? Hier waren keine Straßen oder Wege. Hier gab es nur überall Bäume, nichts als Bäume, Sträucher und feuchtes Laub unter ihren Füßen. Sie fror in ihrer dünnen Jacke.
Niemals vorher war sie so allein gewesen. Immer hatte ihr jemand gesagt, was sie tun sollte. Auf der Straße waren es die älteren Kinder, im ersten Heim die strengen Aufseherinnen, die sie auch schlugen, aber sie gehörte immer irgendwo hin. Helena fehlte ihr so sehr. Völlig alleine wollte sie nicht sein. Der Kloß, der den ganzen Tag größer geworden war, löste sich brennend in Tränen auf, die nasse Spuren auf ihren Wangen hinterließen.
Oxana stürzte, rappelte sich wieder hoch und klopfte das feuchte Laub von ihren Sachen. Weiter hinten teilten Gleise den Wald in zwei Hälften und reichten weiter, als sie schauen konnte. Wenn sie immer neben den Schienen gehen würde, müsste sie doch wieder in die Stadt kommen. Auf der einen Seite ragten die Hochhäuser der Siedlung, durch die der Bus gefahren war, aus dem Wald heraus. Da durfte sie auf keinen Fall hin. Die andere Richtung war richtig. Sie straffte sich, wischte mit dem Handrücken die Tränen ab und ging los.
Oxana war noch nicht lange unterwegs, als es hinter ihr rumpelte. Sie drehte sich um und sah in der Ferne, wie die Bahn aus der Siedlung kommend auf sie zu fuhr. Die suchten nach ihr! Sie sprang mit einem Satz zur Seite und schaute nach einem Versteck. Die Bäume waren hier nicht dicker als ihr Oberschenkel und würden sie auf keinen Fall verbergen. Sie blickte nach links und rechts. Nirgendwo war Schutz. So blieb sie mit hängenden Schultern neben den Schienen stehen und ergab sich ihrem Schicksal. Sie schaute nicht hoch. Hoffentlich schlugen sie sie nicht. Dann würde sie unten wieder bluten. Das passierte schon beim Niesen. Sie wollte keine Schmerzen mehr aushalten. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie wischte sie nicht weg. Die Bahn kam langsam, aber stetig näher.