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30. Liv

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Es klopfte. Liv erstarrte, während erneut Adrenalin durch ihre Blutgefäße jagte. Sie sind zurück!

Wo war das Reizgas? Das hatte sie doch eben noch auf den Sessel geworfen. Liv riss die Vorhänge hoch und zerrte den Nachttisch zur Seite. Der hintere Bettpfosten hatte die wegrollende Dose gestoppt. Liv angelte nach ihr. Vor der Tür polterte es. Liv umklammerte die Spraydose. Mist! Es wäre ein Leichtes für die Männer, die angeknackste Zimmertür endgültig einzutreten. Liv scannte das Zimmer. Sie kam so schnell an kein schweres Möbelstück heran, um das zu verhindern.

Liv sprang zur Tür und stieß sie auf. Sie riss das Reizgas hoch. Beatrice wollte gerade wieder an die Tür pochen und griff unversehens ins Leere. Sie stolperte ins Zimmer, ruderte mit den Armen. Liv sprang einen Schritt zurück. Die Dose glitt ihr aus der Hand.

„Verdammt, Beatrice! Ich hätte dir beinahe eine Ladung Tränengas verpasst!“

„Oh! Liv, du biss doch da.“ Sie starrte Liv an, als wären ihr drei neue Köpfe gewachsen, und schaute dann auf die bunte Dose. „Was isn mit meiner Frisur nich okay?“

Liv bekam einen Schwall Alkoholdunst ab und verzog das Gesicht. Beatrice blinzelte. Ihr Lidstrich war verwischt. Die Farbe klebte unterhalb der Augenbrauen als abstraktes Muster fest. Hatte sie geweint?

„Hast du getrunken?“

„Getrunken? Ich? Nur ein winziges bisschen probiert …“ Beatrice zeigte mit ihren manikürten Fingern die Größe eines Schnapsglases und kicherte. „... und gekauft!“ Sie griff nach zwei klirrenden Plastiktüten, die wie Torpfosten auf einem Bolzplatz links und rechts neben der Tür standen.

Wodkaflaschen? Hatte die Frau noch alle Latten am Zaun? Liv verfolgte Oxana quer durch Kiew, schleppte sie ins Hotel, wurde überfallen, und Frau Doktor ging literweise Wodka kaufen?

Liv versuchte, ihre Atmung zu beruhigen, gleichzeitig ließ sie Beatrice nicht aus den Augen. Die wuchtete die Tüten ins Zimmer. Keuchend ließ sie sich in einen Sessel fallen und blickte sich mit offenem Mund im Zimmer um.

„Räumst du um? Sieht chaotisch aus.“

Liv ignorierte die Bemerkung. „Seit wann wird bei Hilfsorganisationen denn Alkohol verkauft? Ist das so eine Art Damenprogramm für mitreisende Begleitpersonen?“

„Sei nicht so gemein!“

„Gemein? Weswegen sind wir hier? Damit du dich wo auch immer betrinken kannst, und ich absolviere während der Zeit mein Sprintprogramm? Himmel! Wo warst du?“ In Liv kochte der Ärger hoch.

„Menno, Liv, ich hätte euch nie eingeholt, und da habe ich bei einem Wodkaladen einen Boxenstopp gemacht.“

Beatrice verstummte, hielt sich eine Hand vor den Mund und blinzelte. Fing sie gleich an zu weinen? Sie schaute sich im Zimmer um.

„Ist denn Oxana noch da?“, wechselte sie das Thema.

Liv starrte Beatrice an und stieß sich von der Wand ab. „Bin gleich zurück“, murmelte sie. Ihre Hände zitterten, als sie die Badtür hinter sich abschloss. Sie musste nachdenken. Liv drehte das kalte Wasser auf. Sie hielt die Hände unter den Strahl und wusch sich das Gesicht.

„Liv, ist dir nicht gut?“ Beatrice klopfte.

„Alles okay. Komme sofort!“ Liv setzte sich auf den Toilettendeckel. Was meinte Beatrice mit „noch da“? Woher konnte sie wissen, dass Oxana mit ihr im Hotel gewesen war? Was lief hier? War sie gar nicht so betrunken, wie sie vorgab?

Liv drückte auf die Klospülung. Sie atmete tief durch und ging zurück ins Zimmer.

„Oxana? Wieso sollte sie hier gewesen sein?“ Liv ließ die Frage so beiläufig wie möglich klingen und fühlte einen Knoten im Bauch. Irgendwas stimmte hier nicht.

„Ja, aber … ich dachte … also nicht?“

Entweder war sie eine begnadete Schauspielerin, oder Liv konnte Beatrice’ umnebelten Sinnen tatsächlich beim Denken zugucken.

Liv zuckte mit den Achseln. Sie beobachtete jede Regung von Beatrice mit einem unguten Gefühl im Bauch. „Ich hab sie nicht mehr eingeholt. Sie war zu schnell in einer der Straßen verschwunden.“

„Was soll’s. Die wird schon ihre Gründe haben, wenn sie einfach so abhaut. Ich hab das alles schon erlebt. Man kann nur Frauen helfen, die das auch wollen.“ Beatrice kramte in den mitgebrachten Plastiktüten. „Schau mal! Der hier hat Goldplättchen in der Flasche. Auf den Schreck köpfen wir das Fläschchen jetzt.“ Sie hielt sich die Wodkaflasche dicht vors Gesicht und versuchte, die Schrift zu entziffern.

„Ist ukrainisch. Kann ich nicht lesen. Ich mach mal ein Foto und zeige es Andrej.“

Beatrice kramte ihr Smartphone aus der Tasche, gab den Code ein und schoss mit wackeliger Hand ein Foto. Es pochte in Livs Kopf. Träumte sie dieses Gespräch, oder saß ihr wirklich eine engagierte Ärztin gegenüber, die nun aber blitzeblau war und den Zweck der Reise irgendwie aus den Augen verloren hatte, aber dafür Wodkaflaschen knipste? Wieso ging sie einfach darüber hinweg, dass Liv Oxana nicht mehr eingeholt hatte? Die Besorgnis um das Schicksal des Mädchens schien wie ausradiert. Wieso flog sie mit in dieses Land, wenn sie gar kein Interesse am Schicksal der Mädchen hatte?

„Ich schlage vor, dass du bei dir drüben schon mal anfängst. Ich will noch ein paar Sachen nachschauen und komme dann rüber.“ Liv sammelte die Tüten auf und zog die verdutzte Beatrice aus dem Sessel.

„Lass dir nicht zu lange Zeit. Ich habe Durst.“ Beatrice nahm die Taschen in eine Hand und stützte sich beim Gehen mit der anderen Hand erst an der Kommode und dann am Bett ab, bis sie unfallfrei durch die Tür stolperte.

Das konnte einfach nicht wahr sein. Was für ein Problem hatte diese Frau nur? Liv trat ans Fenster und lehnte die Stirn an die kühle Scheibe. Das schlammig graue Wasser des Dnjepr floss träge an ihrem seltsamen Hotelschiff vorbei. Mit den luxuriösen Zimmern und dem exquisiten Restaurant auf der einen Seite und den langen, dunklen Gängen, die an die dritte Klasse der Titanic erinnerten, auf der anderen, wurde Liv das Schiff immer unheimlicher.

Sie hatten das Hotel ausgewählt, weil Beatrice es wiedererkannt hatte und es ihre einzige Spur war. Gab es einen Zusammenhang zwischen den Männern, vor denen Oxana geflüchtet war? Oder steckten die am Ende alle unter einer Decke? Liv erinnerte sich an Beatrice’ Erklärung, dass die Mafia zur Fußballeuropameisterschaft Hotels feindlich übernommen hatte. Vielleicht war das die Plattform eines Prostituiertenrings, der sich hier unbehelligt austoben konnte. Den normalen Hotelbetrieb ließen sie vielleicht nur zur Tarnung weiterlaufen.

Liv ließ ihren Blick schweifen. Draußen parkten blendend weiße Porsche Cayennes und andere westeuropäische SUVs in engen Reihen, überwiegend trugen die Wagen Kennzeichen aus Kiew. War das nicht auch mehr als seltsam? In Hotels stiegen doch sonst Menschen ab, die nicht aus der Gegend kamen. Unbehagen kroch Livs Rücken hoch. Wenige Meter von diesen Statussymbolen entfernt, versuchten alte Mütterchen, gebeugt, zahnlos und mit abgetragenen Mänteln, den wenigen Touristen Blumen zu verkaufen. Drinnen baggerten dröhnend selbstbewusste Männer in gelben Trainingsanzügen Frauen an der Hotelbar an, die Liv für junge Prostituierte gehalten hätte, wenn Beatrice sie nicht über die Rolle der Frau in der Ukraine aufgeklärt hätte.

Die Prostitution und die damit verbundene hohe Infektionsrate mit HIV lagen auch daran, dass die Frauen sich so widerspruchslos ihrem Schicksal ergaben. Hilfe von anderen erwarteten die Mädchen nicht. Männern war alles erlaubt. Sie nahmen sich die Frauen, die sie wollten.

Liv blickte an sich herunter und stellte fest, dass das eindimensionale Frauenbild dieses Landes sie nahezu unsichtbar machte. Cargohose, Kapuzenpulli, Turnschuhe. Vermutlich konnte man diese Art der Kleidung in Kiew nicht mal kaufen. Seufzend ließ sie sich in den Sessel fallen. Sofort sprang sie wieder auf. Etwas bohrte sich schmerzhaft in ihren Oberschenkel. Beatrice’ Smartphone! Niemals vorher hatte Liv eine goldene Telefonhülle gesehen. Sie erschrak, als das Telefon in ihrer Hand vibrierend eine Kurznachricht ankündigte. Es war eine deutsche Mobilnummer.

„Es muss geheim bleiben! Tut mir leid. Melde dich!“

Sollte sie? Oder besser nicht? Liv angelte in ihrer Hosentasche nach dem Blackberry und fotografierte die Nachricht mit der unbekannten Nummer ab. Das Telefon hatte sich noch nicht automatisch gesperrt. Livs Finger schwebte über dem Telefon. Sie zögerte. Dann ging sie über den Bildschirm in die Anrufliste und machte auch davon ein Foto. Beatrice hatte immer wieder versucht, dieselbe Nummer anzurufen. War das ihre Praxis? Liv rief Beatrice’ Kontaktdaten in ihrem Blackberry auf. Nein, die Praxis war es nicht. Die hatte nur einen Festnetzanschluss. Aber die Nummer war identisch mit dem Absender der Kurznachricht.

Neugierig geworden schaltete Liv ihre Rufnummernerkennung aus und fing an zu wählen.

Jemand hämmerte gegen die Tür. Liv fiel das Telefon aus der Hand. Nicht schon wieder! Wo war das Reizgas?

„Liiiiv! Mach mal auf. Ist mein Telefon bei dir? Vorhin hatte ich es noch!“

Liv sperrte das Smartphone und schob es wieder in den Sessel.

„Moment! Komme sofort!“ Sie lief ins Bad und betätigte die Klospülung. Gott, was tat sie hier nur? Beatrice war nicht ihre Freundin, aber doch auch niemand vom KGB. Warum machte sie nicht einfach auf und gab Beatrice das Telefon? Liv schob den Gedanken zur Seite und öffnete die Tür.

„Es muss hier sein.“ Beatrice stürmte an Liv vorbei und wirkte jetzt deutlich nüchterner. Sie blickte sich im Zimmer um, robbte auf den Knien, tastete unter dem Bett. Schließlich tauchte sie mit beiden Händen in die Sesselfalten ein.

„Ah. Da ist es!“ Beatrice hielt das glitzernde Telefon hoch.

„Erwartest du noch einen Anruf von der örtlichen Wodkahandlung?“ Liv bemühte sich um einen beiläufigen Ton und lächelte Beatrice an.

„Ich? Einen Anruf? Nee, wieso?“

„Du warst nur fünf Minuten ohne Goldie. Mir würde ein fehlendes Handy vermutlich erst nach Stunden auffallen, wenn ich nicht auf einen Anruf warten würde.“ Falsch, Liv, ganz falsch. Das klang zu sehr nach Verhör.

„Ach so. Ich muss ja in der Praxis nachfragen wegen der Termine. Ob das alles geklappt hat mit dem Umlegen der Patienten. Wir saßen so schnell im Flieger, dass ich nicht mehr alles selber regeln konnte, und vorhin ging keiner dran. Wäre ja nicht gut für den Umsatz, wenn die da umsonst vor der Tür stehen. Bis gleich!“

Liv schaute der noch leicht schwankenden Beatrice nachdenklich hinterher. Was wusste sie von ihr? Eine Ärztin, die neben ihren Luxuspatienten aus vermeintlicher Überzeugung Gutes tat und sich in der HIV-Prävention engagierte, die sofort bereit war, mit ihr nach Kiew zu fliegen, als sie vom Verdacht des Missbrauchs oder der Zwangsprostitution hörte. Welche Fragen hatte Beatrice ihr im Flieger alle gestellt? Liv überlegte, ob ihr etwas ungewöhnlich vorkam. Wieso war Beatrice so hilfsbereit? Liv versuchte, ihre Fragen in ein logisches Gesamtbild zu bringen. Ein möglicher Grund verursachte ihr so viel Unbehagen, dass sie ihm als Erstes nachgehen musste. Vielleicht war Beatrice nur dabei, um die Kontrolle über Liv zu haben, um zu sehen, was sie tat oder wie viel sie wusste? Wem konnte sie vertrauen?

Mit einem flauen Gefühl öffnete Liv die abfotografierte Anruferliste, wählte den Absender der Kurznachricht und lauschte auf das Freizeichen.

„Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration. Mobilnummer der Ministerin, guten Tag?“

Liv trennte die Verbindung. Das gab’s doch nicht. Das war das Ministerium von Bögershausen! Was hatte Beatrice getan? Hatte sie brühwarm weitererzählt, dass sie Oxana gefunden hatten? War das Mädchen dadurch in noch größerer Gefahr als vorher? Liv wurde schwindelig bei dem Gedanken, was Beatrice angerichtet haben könnte.

Thriller Collection I

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