Читать книгу Thriller Collection I - Penelope Williamson - Страница 38
26. Liv
ОглавлениеLiv rollte den Kopf und drückte die Schultern abwechselnd herunter, bis es in den Halswirbeln knirschte.
„Himmel! Ist was durchgebrochen?“ Beatrice schaute zu Liv herüber, kontrollierte aber sofort wieder die vorbeihuschenden Gesichter auf der Straße. Das Taxi kreuzte mit ihnen durch die Straßen der Altstadt Podols. Beatrice hatte nach dem Beinahe-Zusammenstoß mit dem Bus den Mietwagen wieder abgegeben, weil sie auf keinen Fall in einen Unfall verwickelt werden wollte.
„Beatrice, so bringt das nichts. Lass uns zu Connect Positive fahren. Dein Verein hat vielleicht eine bessere Idee, als planlos durch die Stadt zu fahren.“ Liv blinzelte die Tränen vom Auf-die-Straße-Starren weg.
Beatrice seufzte und tippte dem Fahrer auf die Schulter. „Bitte bringen Sie uns zu dieser Adresse.“ Liv dankte dem Gott der Taxifahrer in Gedanken, dass sie einen Fahrer mit minimalen Deutschkenntnissen erwischt hatten. So fühlte sie sich nicht immer vom Gespräch ausgeschlossen. Beatrice ließ nicht durchblicken, dass sie seine Sprache verstand.
„Ist gleich da vorne.“ Der Fahrer zeigte in eine typische Straße der Altstadt und bremste an der nächsten Querstraße. Liv zählte die muffigen Scheine ab, gab dem Fahrer das Geld, und sie stiegen aus.
Fröstelnd zog sie den Reißverschluss ihrer Jacke zu und schaute an den Fassaden hoch. Mehrstöckige Häuser in unterschiedlichen Stadien des Verfalls säumten die Straße, die von verrosteten Schienen durchschnitten war. Teilweise bildeten die wie Schubladen vorspringenden, mit Plexiglas in Eigenbau verschlossenen Balkons kleine Extra-Zimmer. Die Wohnungen waren vermutlich winzig, und in ihrer Not hatten die Bewohner so noch zwei Quadratmeter gewonnen. Kleine Kioskbetriebe und Geschäfte mit verstaubten Haushaltsartikeln oder irgendwas Elektronischem säumten die Straßen des alten Stadtteils.
„Hier müssen wir rein.“ Beatrice zeigte auf ein rotes Schild und stöckelte voraus. Sie bog in einen Durchgang ab, der unangenehm feucht und muffig roch. Liv erkannte die Zentrale des deutschen Hilfsprojektes anhand der Fotos, die Beatrice ihr im Flugzeug gezeigt hatte, wieder.
Beatrice’ Schuhe klackten auf dem rissigen Asphalt des Tunnels. Sie traten in einen Eingang, der von außen unbewohnt wirkte. Hinter der Haustür leuchtete eine türkis gestrichene Treppe mit Verzierungen aus dem Flur, in dem sonst unverputzte Leitungen und abblätternde Farbe vorherrschten.
„Oh! Hier gibt es wohl einen Renovierungsstau.“ Liv blickte auf die feuchten Wände und die krümeligen Betonreste, die sich auf der Stufe sammelten.
„Nein, das ist schon sehr lange so. Die Wohnungen in Kiew sind vielfach teuer verkauft worden, aber für die Flure fühlt sich niemand verantwortlich. Zum Teil sieht es hinter einer Wohnungstür aus wie in einem Palast, aber der Flur erinnert oft an ein Abbruchhaus. Das gute deutsche Teileigentum im Eigentumsrecht ist hier nicht so bekannt.“ Beatrice klopfte. Ein Mädchen, dessen Arme gerade so bis an die Klinke reichten, öffnete mit einem Teddy im Arm und musterte sie aus kugelrunden braunen Augen.
Beatrice sprach das Kind auf Russisch an. Es ließ die Tür aufschwingen und trat zur Seite.
Beatrice lächelte in die Runde und fragte die anwesenden Frauen etwas auf Russisch. Die Gespräche in der fremden Sprache verstummten. Ein Dutzend überwiegend junge Frauen musterte Liv und Beatrice abweisend.
„Beatrice! Was für eine Überraschung. Was treibt dich hierher?“
Liv staunte über die deutsche Begrüßung. Hinter einer billigen Bistrotheke tauchte eine lächelnde Mittfünfzigerin auf, die ihre Arme ausbreitete und auf Beatrice zusteuerte. Die Frauen begrüßten sich herzlich, und Liv wurde vorgestellt. Während sie auf eine zerschlissene Sitzecke zusteuerten, schilderte Beatrice ihr Anliegen. Liv musterte die Frauen, die jedoch alle wieder zu Boden sahen oder sich wegdrehten.
„Ihr sucht ein junges Mädchen? Wie alt? Kennt sie uns?“
„Wir wissen es nicht. Liv, zeig Irina das Bild, bitte.“
Liv zog ihren Blackberry aus der Tasche, öffnete das Bild des Mädchens darauf und reichte ihn Irina. Sie musterte das Bild einen Moment und schüttelte den Kopf. „Es ist wieder und wieder der gleiche Mist. Wir kämpfen gegen Windmühlen. Ich glaube, dass ich das Mädchen kenne. Ich meine, sie heißt Oxana und ist mal mit Helena hier gewesen. Das muss kurz nach ihrer Einstellung im Internat gewesen sein. Sie brachte Kuchen mit und wollte sich bei uns für die Stelle bedanken.“
„Sie vermitteln auch Mitarbeiterinnen?“, hakte Liv nach.
„Nur ab und an in besonderen Fällen. Helena braucht Medikamente, und zwar lebenslang. Die sind teuer und in der Ukraine schwer zu bekommen. Alle Mitarbeiterinnen des Heims werden medizinisch bestens versorgt. Außerhalb dieser Einrichtung kämpfen wir schwer, um die Therapie staatlich finanziert zu kommen.“
„Was für eine Therapie?“, fragte Liv.
Irina zog die Augenbrauen hoch. „Eine HIV-Therapie natürlich.“
„Aber was hat das mit dem Internat zu tun?“
„Erst mal nichts. Aber Frau Züchner hatte immer schon ein Herz für die Straßenmädchen. Wir sagen ihr, welche der jungen Frauen unserer Meinung nach eine Chance verdient hat, dann folgen ein paar Gespräche und Probewochen. Macht das Mädchen sich gut, kann es im Internat arbeiten, bekommt ein kleines Gehalt und eine HIV-Therapie. Das ist ein wunderbares Projekt, das hoffentlich noch Nachahmer findet.“
Von so einem Deal hatte Liv noch nie gehört. Was war da für die Züchner wohl der Mehrwert? Bevor sie fragen konnte, klopfte es.
„Das ist ja heute hier wie auf einem Bahnhof“, murmelte Irina und ging zur Tür.
Irina blieb in der Tür stehen und begrüßte jemanden. Sie klang erstaunt. Liv versuchte, an ihr vorbeizuschauen, um zu sehen, wen sie auf Russisch begrüßt hatte. Beatrice klappte der Unterkiefer herunter.
„Oxana? Wo kommst du denn her?“, fragte Beatrice auf Deutsch.
In der Tür stand mit einem gehetzten Blick das wunderschöne junge Mädchen, das Liv bisher nur von den Bildern kannte. Es sah aus wie ein blonder Engel und schaute Beatrice und Liv so entsetzt an, als wären sie die doppelte Ausführung der bösen Stiefmutter. Oxana blickte zwischen den beiden Frauen hin und her, Tränen kullerten aus ihren tiefbraunen Augen. Wortlos drehte sie sich um und rannte die Treppe runter.
Liv schaltete sofort und sprintete los. Sie sprang mit einem Satz über die verstreuten Spielzeuge, rutschte auf einer Decke aus und schlug hart auf den Boden. Sie keuchte, rappelte sich hoch und hechtete an den Mädchen vorbei, die mit aufgerissenen Augen die Szene verfolgten.
Liv nahm zwei Stufen auf einmal und rannte durch den Durchgang auf die Straße. Oxana war einen Häuserblock entfernt. Sie rannte wie um ihr Leben. Liv setzte ihr nach. Oxana verschwand zwischen den Häusern und hastete eine Treppe hinunter. Mit einem Satz griff Liv nach dem Geländer. Sie sprang ein Dutzend Stufen runter und kam federnd unten auf. Aus den Knien drückte sie sich hoch und sprang seitwärts über das Geländer. Sie landete auf Kies und verringerte den Abstand. Oxana drehte sich um. Sie fiel und schrie auf. Liv sprintete auf sie zu.
„Oxana! Warte!“
Oxana kam auf die Beine und rannte weiter. Kies spritzte, als sie an Containern vorbei schlitternd um die Ecke bog. Liv schätzte die Distanz ab, sprang hoch und rannte über die Container. Sie sah Oxana unter sich und sprang mit einem Satz vor das Mädchen. Oxana überrannte sie regelrecht, Liv taumelte. Oxana erreichte schnell das Ende des kleinen, ungepflegten Parks. Sie verschwand in der nächsten Gasse. Liv setzte ihr nach und konnte am Ende der Gasse nur mühsam stoppen. Sie sah Oxana über die Hauptstraße laufen, Autos hupten und die Ampel sprang auf Rot. Für einen Moment verlor Liv sie aus den Augen, dann rannte sie im Slalom durch die langsamer werdenden Wagen. Die Straße war belebt, und Liv trabte suchend durch die Menschen. Da! Liv sah Oxanas lange blonde Haare zwischen den Fußgängern und bahnte sich ihren Weg durch die träge Menschenmasse.
„Oxana!“ Sie fasste das Mädchen an der Schulter und hielt es fest.