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Alle Steine umdrehen

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Bürgermeister Arthur J. O’Keefe senior und der Superintendent der Polizei, Mr. Weldon Carrigan, fordern gemeinsam eine tatkräftige Ermittlung in diesem Mordfall.

»Wir werden jeden Stein umdrehen«, versprach Superintendent Carrigan. »Ich möchte den Mitbürgern von New Orleans versichern, dass der Schuldige an dieser grausamen Tat mit größtmöglicher Eile vor den Richter gebracht werden wird.«

Das Mordopfer, Mr. Charles St. Claire, stammte aus einer der ältesten und bedeutendsten kreolischen Familien von New Orleans, doch die St. Claires wurden in den vergangenen Jahren vom Unglück buchstäblich verfolgt. Mr. Charles St. Claires Eltern, Jacques St. Claire und Annabel Devereaux St. Claire, kamen vor sieben Jahren bei Paris durch ein Zugunglück ums Leben. Der ältere Bruder, Mr. Julius St. Claire, beging vor elf Jahren im Alter von zweiundzwanzig Jahren Selbstmord, und die einzige Schwester starb während der Grippeepidemie des Jahres 1918. Außer seiner Frau und deren Zweig der Familie hinterlässt Mr. Charles St. Claire, abgesehen von entfernten Vettern in Mobile, keine überlebenden Verwandten.

Daman Rourke ließ die Times-Picayune auf seinen Schreibtisch fallen und trat vor das vergitterte und verdeckte Fenster, um einen Blick auf die laute, überfüllte Straße drei Stock tiefer zu werfen.

Die Sonne war an diesem Morgen rot und heiß aufgegangen und brannte mit solcher Wut auf Straßen und Bürgersteige herab, dass man befürchten konnte, das Straßenpflaster könne jeden Moment platzen und brechen wie ausgedörrter Flusslehm. Charles St. Claires Leichnam war erst vor wenigen Stunden gefunden worden, doch schon schienen sich sämtliche Presseleute des Staates vor dem Criminal Courts Building, in dem Hauptwache und Kriminalpolizei untergebracht waren, versammelt zu haben. Das riesige Gebäude aus rostroten Ziegeln und Sandstein sah mit seinen Erkern und dem Glockenturm aus wie eine mittelalterliche Burg, die nun von der Presse belagert wurde. Neben einem brutalen Mord sorgte vor allem ein saftiger Skandal, in den ein schönes Hollywood-Starlet verwickelt war, für Umsatzsteigerung. In diesem Fall hatten sie sogar beides.

Auch der Dienstraum der Kriminalpolizei im Haus war heiß und überfüllt. Die meisten Ermittler, auch die, die schon Feierabend hatten, lungerten noch herum und hofften darauf, der neuen Cinderella persönlich vorgestellt zu werden. Sie kam angeblich aus freien Stücken, um sich die Fingerabdrücke abnehmen zu lassen und über ihren Aufenthaltsort und ihre Handlungen zu der Zeit auszusagen, in der ihr Mann sich hatte ermorden lassen. Fiorello Prankowski hatte die Aufgabe übernommen, seine Kollegen während des Wartens zu unterhalten.

»Also kamen mir die Leichen heute Nacht schon aus den Ohren raus«, sagte er. »Und dann schleppe ich meinen wehen Arsch um vier Uhr morgens nach Hause, und dann knallt die Frau mir das hier vor den Latz. Sie hat sich eine Kimball-Zimmerorgel gekauft. Also, da frag ich mich doch – was, zum Teufel, ist eine Zimmerorgel, und was will sie damit? Sie kann nicht mal ein Lied summen, ohne sich wie eine Katze anzuhören, deren Schwanz in der Terrassentür eingeklemmt ist, und doch erzählt sie mir, dass im Wohnzimmer eine Zimmerorgel steht, die nach vierzig einfachen kleinen Raten uns gehören wird. Verdammt, ich zahle schon einfache kleine Raten für alles andere im Haus – den Eisschrank, die Waschmaschine, die Schlafzimmermöbel. Sogar für den Staubsauger zahle ich einfache kleine Raten.«

»Ich hab gerade erst einen Artikel über so was gelesen«, sagte Nate Carroll. Er war der jüngste Ermittler bei der Truppe und sah aus wie eine Struwwelpeterpuppe. Er hatte orange Locken, ein rundes, weißes Gesicht mit zwei blauen Knöpfen als Augen und zwei rosa Knöpfen für Nase und Mund. Den ganzen Morgen hatte er über einem Hochglanzmagazin gehangen, das Bilder von Remy Lelouries heißesten Liebesszenen zeigte. Auf einem schmachtete sie im Zelt eines Scheichs und trug dabei nur einen Schleier, aber bisher hatte Nate das als Einziger gesehen. Die anderen waren schon sauer, weil er nicht teilen wollte.

»Was ich meine«, sagte Nate, »ist eine von diesen neuen Theorien von – wie heißt der Kerl noch? Ihr wisst schon, Freud? Wenn Frauen das tun – wenn sie sich Kram kaufen, den sie nicht brauchen –, dann bedeutet das, dass sie sexuelle Bedürfnisse haben, die auf andere Weise nicht befriedigt werden ...«

Er verstummte und die anderen versanken in beeindrucktes Schweigen angesichts der Tatsache, dass soeben Fiorello Prankowski, ein unberechenbarer Yankee mit schinkengroßem Bizeps und hammerharten Fäusten, erlebt hatte, wie seine Männlichkeit beleidigt worden war.

Fio war bisher träge mit seinem Stuhl herumgewippt, doch nun ließ er ihn nach vorn fallen und stand langsam auf. Er stapfte zu Nate Carrolls Schreibtisch hinüber. »Willst du sagen, dass die neue Zimmerorgel meine Frau an mein Organ erinnert?«

Irgendwer schnaubte und verstummte dann sofort. Nate schluckte so hart, dass seine Kehle klickte. Er starrte die Zeitschrift auf seinen Knien an, als enthalte die ein Rezept zu seiner Rettung. »Das war doch bloß ... du weißt schon ... Gerede.«

»Du hättest nämlich Recht«, sagte Fio. »Beide machen lange, tiefe Töne. Und pochen. Vibrieren.« Er stieß einen leisen Pfiff aus und entriss Nate die Zeitschrift. »Mann, hat die wirklich das in der Hand, was ich glaube?«

Rourke lächelte jetzt auf seinem Wachtposten beim Fenster. Eine Zuckerwespe hatte sich ebenfalls dort eingefunden und flog immer wieder gegen die Glasscheibe. Unten fuhr jetzt ein Taxi vor und die Presseleute stürzten darauf zu.

Da ist sie also wirklich, dachte er. Er sah zuerst ihre Beine, als sie sie aus dem Taxi schwang. Lang und schlank und bleich. Dann kam die Oberseite eines schwarzen Strohhutes. Der Hut hatte eine aufgeschlagene Krempe und eine lange Fasanenfeder, die die Schulter der Trägerin berührte.

Sie schaute hoch, als wisse sie, dass er sie beobachtete.

Presseleute und Neugierige hatten bei ihrem ersten Anblick für einen Moment gezögert, jetzt aber umdrängten sie sie. Sie riefen Fragen und ließen vor ihrem Gesicht die Kameras klicken, aber niemand rührte sie an. Sie bewegte sich gelassen durch die Menge, wie eine Elritze, die flussaufwärts schwimmt und hinter sich kleine Wirbel auslöst. Sie behandeln sie, dachte Rourke, als strahle sie einen Zauber aus. Aber wenn sie stürzt, werden sie sie in Stücke reißen.

Alle warteten schon im Gemeinschaftszimmer auf sie – sogar Captain Malone war aus seinem Zimmer aufgetaucht – und die Erwartung hing wie ein Summen in der schweren, heißen Luft. Rourke wandte sich vom Fenster ab und lehnte sich mit den Händen in der Tasche an die Wand. Er schaute zur Tür hinüber. Der Sergeant, der gerade Wachdienst hatte, führte sie herein. Sie trug ein schlichtes, gerade geschnittenes schwarzes Kleid, das ihr einen Hauch von Tragik gab. Ihre Hutkrempe berührte, zusammen mit der geschwungenen Fasanenfeder, ihr eines Auge. Sie schaute Rourke an und ihr Gesicht wurde noch bleicher. Dann wandte sie sich ab, gerade als Captain Malone auf sie zukam.

Sie bedachte den Hauptermittler mit einem scheuen, vorsichtigen Lächeln, bei dem ihre weißen Zähne für einen Moment ihre Unterlippe berührten. Die Hand, die sie ihm hinstreckte, sah unvorstellbar zerbrechlich aus und hatte rot lackierte Nägel.

Für einen Moment fragte Rourke sich, ob sie sich da wohl verrechnet hatte. Keine Dame in New Orleans malte sich die Fingernägel an, und schon gar nicht blutrot, wenn sie als trauernde Witwe auftreten musste. Remy dagegen hatte immer schon voller Begeisterung mit der Katastrophe geflirtet. Jeder Mann auf der ganzen Welt sollte an ihre Unschuld glauben, aber nur, wenn es ihn ein Stück seiner Seele kostete.

Ihr Blick wanderte nun zu jedem Mann im Zimmer, außer ihm, und Rourke sah, wie sie einen nach dem anderen für sich gewann. Sie schien in ihnen etwas zu suchen, das sie brauchte, begehrte, forderte.

Sein Captain, der ein wenig verwirrt aussah, hielt noch immer ihre Hand und schien nicht zu wissen, ob er sie schütteln oder an seine Lippen ziehen und küssen sollte. Captain Daniel Malone hatte das lässige gute Aussehen eines Südstaatengentleman und die lässigen guten Manieren desselben: strubbelige sandfarbene Haare, ein Grübchen im Kinn und schläfrige braune Augen, die ihn immer traurig aussehen ließen, auch wenn er lächelte. Seine Frau war die Kusine des Bürgermeisters und das hatte ihm seinen Rang eingebracht, aber so war New Orleans. Er war ein guter Polizist und seine Männer mochten ihn gern.

Jetzt murmelte er etwas über die nötigen Formalitäten und führte Remy Lelourie zu einem schlichten Holzstuhl.

Sie nahm dort mit graziösen Bewegungen Platz, faltete die Hände mit den rot lackierten Nägeln auf ihrem Schoß und stellte die Füße nebeneinander auf den Boden. Ihre Schuhe, das sah Rourke, hatten schwarze Riemchen an den Knöcheln.

Der Captain setzte sich neben sie. »Miss Lelourie ... ich meine, Mrs. St. Claire ... können wir Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Ein Glas Wasser?«

»Sie sind zu gütig«, sagte sie so leise, dass alle sich große Mühe geben mussten, um das zu hören. »Aber ich brauche nichts, wirklich nicht.«

Captain Malones Hand schwebte für einen Moment über ihrer Schulter, als hätte er sie gestreichelt, wenn er sich nur getraut hätte. Wenn sie auch vielleicht nicht die schönste Frau der Welt war, überlegte Rourke, so war sie doch sicher die meistfotografierte. Sie lebten seit Jahren mit ihrem Bild, diese Bullen, sahen es überall und hatten deshalb geglaubt, sie zu kennen, vielleicht sogar ein kleines Stück von ihr zu besitzen. Jetzt, wo sie sie sahen, wussten sie, wie sehr sie sich da geirrt hatten.

»Mrs. St. Claire, ich weiß, dass das nicht leicht ist«, sagte Malone und seine Worte zerrissen die Spannung dermaßen, dass sie grausam und obszön wirkten. »Aber wenn Sie uns noch einmal erzählen könnten, was letzte Nacht passiert ist, nachdem Sie Ihres Mannes ... als sie ihn gefunden haben. Bitte, denken Sie nach und lassen Sie nichts aus, so unwichtig es auch erscheinen mag. Das kleinste Detail kann am Ende der Hinweis sein, der uns den Fall lösen lässt.«

Sie nickte langsam und ihre Schultern strafften sich tapfer, doch ihre Augen richteten sich weiterhin züchtig auf die Hände in ihrem Schoß. »Ich war schlafen gegangen und gerade weggenickt, als ich von Schreien geweckt wurde, die aus der alten Sklavenhütte hinter dem Haus kamen. Da Charles sich häufig dort aufhielt, wenn er allein sein wollte, um nachzudenken und zu lesen, hatte ich sofort Angst um ihn. Aber ich schlafe immer nackt, wissen Sie, und deshalb musste ich erst ein Kleid überstreifen, ehe ich hinüberlaufen konnte.«

»Haben Sie ...« Die Stimme des Captains brach, während jeder Mann im Zimmer noch immer zitterte, weil er eine nackte Remy Lelourie vor sich sah, die sich auf seidenen Laken räkelte. »Haben Sie jemanden gesehen? Jemanden, der die Hütte verließ?«

»Nein, niemanden ... nur Charles. Er lag auf dem Boden und überall war Blut und in seiner Brust steckte ein Messer. Vielleicht habe ich es herausgezogen – das Messer. Charles atmete noch, wissen Sie. Er hatte eine schreckliche Wunde im Hals, aber er atmete noch und die Wunde in seinem Hals machte dieses schreckliche gurgelnde Geräusch und spuckte Blut. Er versuchte, etwas zu sagen ... meinen Namen, glaube ich. Er versuchte, mich um Hilfe zu bitten, aber das konnte ich nicht, ich konnte nicht ...« Sie schloss die Augen, doch eine einsame Träne konnte entkommen und rollte langsam eine makellose Wange hinunter.

Irgendwer keuchte auf, ein anderer seufzte. Sie spielte auf ihnen wie Satchmo auf seinem Kornett, fand Rourke, sie weinte diese letzte traurige Note und schnitt ihre Zuhörer damit bis auf die Knochen.

»Er starb ... mein Charlie starb in meinen Armen«, sagte sie und ihre Stimme blutete so, wie Charles St. Claire geblutet hatte. Irgendwer, dachte Rourke, müsste jetzt applaudieren. Dann hob sich langsam ihre Hutkrempe, als sie den Kopf bewegte, und sie schaute ihm ins Gesicht, dass er fast in ihren Augen versunken wäre.

Der wachhabende Sergeant rettete ihn, indem er vor ihn trat und ihm den Blick versperrte. »Der Super hat eben angerufen«, sagte der Sergeant. »Er will dich sehen, pronto. Ich soll dir sagen, dass er heute im Boston Club frühstückt.«

Rourke stieß sich von der Wand ab. »Wenn Mrs. St. Claire hier fertig ist, dann lass sie nicht zu dem Mob da unten rausgehen. Bring sie in den Keller und zeig ihr den Weg durch die Gasse hinter dem Haus.«

»Alles klar, Loot«, sagte der Sergeant und zwinkerte Rourke grinsend zu, als der sich an ihm vorbeidrängte und auf die Tür zuhielt.

Ihre Stimme – leise, traurig, süß – folgte ihm. »Ich nehme an, ich habe einen Schock erlitten, denn als Nächstes weiß ich dann erst wieder, dass Beulah schrie. Und dass Charles’ Leib kalt und schwer in meinen Armen hing.«

Er hatte die Treppe hinten in der Halle fast erreicht, als Roibin Doherty aus der Toilette kam und seinen Hosenschlitz zuknöpfte. Rourke wollte einen Bogen um ihn machen, aber Doherty vertrat ihm den Weg, und als Rourke einen weiteren Versuch unternahm, ihm auszuweichen, bewegte sich auch Doherty und stellte sich abermals vor ihn. Die rotgeäderten Wangen des Mannes waren ausgebeult vom Kautabak, er strömte Whiskeydämpfe aus wie eine heiße, geteerte Straße und Hass loderte in seinen geschwollenen, wässrigen Augen. Ein Hass, der schon seit langer Zeit schwelte.

»Pardon«, sagte Rourke und gab sich Mühe, sein eigenes Gesicht leer und ausdruckslos zu halten.

Mit einem übel riechenden Lachen beugte Doherty sich zu ihm vor und Rourke wäre fast erstickt an einem Reflex des Widerwillens und einer alten, erinnerten Angst.

»Von mir gibt’s kein Pardon, Junge«, sagte Doherty mit einer Stimme, die so grob war wie ein Stecheisen. »Und vom Gouverneur gibt’s auch keins, wenn endlich in Angola dein Arsch gebraten wird.«

Dohertys offizieller Rang war der eines Detective Sergeant, aber er ermittelte nicht mehr sehr viel. Er sollte sich um die Asservatenkammer kümmern, die Archive in Ordnung halten und nur ab und zu einen Fall betreuen, wenn die anderen überlastet waren. Meistens vertrank er seinen Arbeitslohn, wartete auf den Tag seiner Pensionierung und brütete darüber nach, dass Daman Rourke eigentlich in einer Häftlingsgruppe an Ketten Baumwolle pflücken müsste, statt ein polizeiliches Dienstabzeichen zu tragen. Zumeist gelang es Rourke, ihm aus dem Weg zu gehen, oder Dohertys eigener Überlebensdrang brachte ihn dazu, seine Abneigung für sich zu behalten.

Rourke trat einen Schritt zurück und musterte den älteren Mann langsam von Kopf bis Fuß, als wolle er den zerknitterten, mit Schweiß- und Kautabaksflecken übersäten Baumwollanzug, dessen feuchte Stelle vorn auf der Hose und die schütter werdenden, schmutzigen, zerzausten Haare katalogisieren.

Rourke lächelte und zeigte seine Eckzähne. »Jesus, Sarge. Du siehst aus wie ein wandelnder Spucknapf.«

Doherty fing einen Schweißtropfen auf, der ihm von der Nasenspitze gefallen war, und feixte. »Schiss, was, Junge? Hast den totalen Schiss, weil ihr diesmal nicht so leicht durchkommen werdet, du und sie. Für den armen alten Charlie St. Claire werden sie nicht auf Selbstmord befinden, nix da, Mann. Lässt sich nicht so darstellen, als hätte der Kerl sich mit einem Rohrmesser die eigene Gurgel aufgeschlitzt.«

Rourke lächelte noch einmal, und er lächelte noch immer, als er seine Faust tief in Dohertys Säuferbauch pflanzte. Er hatte dabei das Gefühl, in ein Kissen zu schlagen.

Der Mann krümmte sich, keuchte nach Luft und röchelte. Rourke ging um ihn herum. Er hatte die Treppe fast erreicht, als Doherty rief: »He, was ist das dreckige kleine Geheimnis, Junge?«, und Rourke den Fehler machte, sich wieder umzudrehen. Doherty stand schwankend mitten in der Halle, in seinen Augen brannte ein gequältes, böswilliges Licht. Hinter ihm lehnte Fiorello Prankowski in der offenen Tür des Gemeinschaftszimmers.

»Was ist das Geheimnis, hä?«, fragte Doherty noch einmal. Er wischte sich mit seinem fetten Daumen Tabaksaft vom Mund und grinste. »Was wussten diese armen St.-Claire-Knaben eigentlich über deine kleine Hexe, diese Remy Lelourie?«

Rourke schwieg. Dohertys Lächeln verbreiterte sich und entblößte einen Mund voller brauner Zähne und grauem Zahnfleisch. Er spuckte einen Strom Tabaksaft auf den braunen Linoleumboden und trottete dann durch die Halle zur Asservatenkammer.

»Der Arsch hängt schon so lange an dem Zeug, dass sein Gehirn zu Brei geworden ist«, sagte Fio. Aber Rourke hatte die scharfe Berechnung in den Augen seines Partners bereits gesehen, als der diese mit einem Lächeln und einem Kopfschütteln überspielen wollte. »Vielleicht solltest du das nicht so persönlich nehmen.«

Rourke zuckte mit den Schultern. In der Halle war es vermutlich an die hundert Grad heiß, die Luft war so nass, dass man sie auswringen und als Badewasser benutzen könnte, und doch war ihm innerlich kalt. »Ich muss zum Super«, sagte er. »Ich erwisch dich nachher noch.«

Fio tippte zu einem spöttischen Salut seine Stirn an. »Ja, klar. Mach das, erwisch mich nachher noch.«

Draußen knallte die gelbe Sonne auf die Straße. Stadtgerüche – Benzin, Müll, Staub – schwammen auf der dicken, bewegungslosen Luft wie Algen auf Brackwasser.

Rourke ging zur Canal Street hinüber, wo der Boston Club dem Süden mit klassischer weißer Eleganz seine Anwesenheit aufzwang. In einer Stadt, wo zwei oder mehr Menschen, die sich an einer Straßenecke versammelten, durchaus einen Club bilden konnten, war das hier noch immer der älteste und stolzeste Versammlungsort für Männer. Wenn jemand eine Einladung wünschte, diese schlichte, aber geheiligte Eingangstür zu passieren, dann war es eine große Hilfe, wenn sein Vater Mitglied war, wie zuvor auch schon sein Großvater. Es gab jedoch immer Möglichkeiten, die Tatsache, nicht aus der richtigen Familie zu stammen, zu umgehen. Eine dieser Umgehungsmöglichkeiten war Geld.

An diesem Morgen stand vor dem Club eine grüne Pierce-Arrow-Limousine, ganz funkelndes Messing, Leder und Chrom. Im Schatten der oberen Galerie des Clubs stand der offizielle Alkoholschieber der Stadt und schnappte mit zwei Mitgliedern des Stadtrates und einem Staatsanwalt frische Luft. Geld und Saft. Casey Maguire mochte arm und als Ire geboren worden sein, aber er hatte immer über ein solides Wissen über die Privilegierten und Mächtigen verfügt, das ihnen selbst kaum bewusst war: Er wusste alles darüber, auf welche Weise jemand käuflich war.

Rourke wartete darauf, dass das Gespräch ein Ende nahm und dass der Alkoholschieber zu seinem Wagen ging, dann tat er, was der betrunkene alte Sergeant eben erst mit ihm gemacht hatte – er stellte sich in den Weg.

Nur waren die Kräfte diesmal gleicher verteilt. Casey Maguire boxte täglich im New Orleans Athletic Club; er war schnell, mager und muskulös. Er war jedoch längst nicht so groß wie Rourke und musste sich auf die Fersen zurücklehnen und den Kopf heben, um Rourke in die Augen schauen zu können.

»Morgen, Day«, sagte er. Ein kleines Lächeln umspielte seinen breiten Mund. Er schien zu wissen, was passieren würde, und das nur komisch zu finden. »Wir haben ja schon lange nicht mehr miteinander gesprochen. Ich hoffe, es geht dir gut.«

Casey Maguire hatte den Irischen Kanal weitgehend aus seiner Aussprache verbannt, seine Manieren poliert und die Kleidung verfeinert, aber an seinen Augen hatte er nichts ändern können: Sie waren fast farblos, wie Spucke. Wenn jemand aus einer Gegend kommt, wo man früh lernt, anderen etwas anzutun, ehe man selbst zum Opfer wird, dann zeigt sich das in den Augen. Maguire konnte beängstigend sein, auch für die, die nicht aus derselben Gegend stammten.

Als Rourke schwieg, versuchte Maguire, um ihn herumzugehen. Rourke verlagerte sein Gewicht und stand ihm wieder im Weg.

Maguire stieß aus spitzen Lippen einen leisen Seufzer aus, wie in milder Resignation. »Wenn wir tanzen wollen, Detective, dann sollten wir das vielleicht mit Musik tun.«

Rourke lächelte und sein Lächeln, das wusste er, konnte ebenso beängstigend sein wie Casey Maguires Augen, sogar für die, die aus derselben Gegend kamen. »Hast du Vinny McGinty in letzter Zeit mal gesehen?«, fragte er.

Maguires Gesicht verzog sich bedauernd. Es war ein seltsam düsteres Gesicht, wie das der Märtyrer in den Gebetbüchern, mit denen sie als Jungen in die Schule gegangen waren – auf strenge Weise gut aussehend, feinknochig, verhärmt. Das Gesicht eines Mannes, der beim Töten weinte und dessen Traurigkeit, dachte Rourke, vielleicht niemals echt gewesen war.

»Der arme Vinny«, sagte Maguire. »Immer redete er davon, dass er nach Chicago wollte, er wollte wissen, ob er es dort im Ring zu etwas bringen könnte. Als er vor ein paar Wochen verschwunden ist, habe ich angenommen, er sei unterwegs dorthin. Jetzt höre ich, dass er tot im Sumpf aufgetaucht ist. Was ist passiert? Ist er ertrunken?«

»Er wurde mit einer Klaviersaite erwürgt.«

Maguires Gesicht stellte eine wunderschöne Überraschung zur Schau. »Ach, wirklich?«

»Ja, wirklich.«

Maguire seufzte noch einmal. »Ich habe ihn nicht umbringen lassen, Day, obwohl ich weiß, dass du mir das wohl kaum glauben wirst. In letzter Zeit scheine ich für dich zum Leibhaftigen geworden zu sein.« Jetzt war das Lächeln wieder da, ein selbstironisches Lächeln, das Rourke aufforderte, auch über den Witz zu lachen. »Ich werde dafür sorgen, dass Vinny den besten Abschied bekommt, der für Geld zu haben ist. Er gehörte im Grunde ja zur Familie.«

Unter den Gangstern war es seit einiger Zeit Brauch, anderen Bandenmitgliedern Begräbnisse zu spendieren, die mit ihren Blumen und reich verzierten Särgen Rekorde aufstellten. Die Italiener hatten damit angefangen, aber jetzt machten es alle.

»Bestimmt wird das eine schöne Beerdigung«, sagte Rourke. »Und ich möchte doch sagen, dass wir ganz schön viele besucht haben, du und ich. Ich denke im Moment viel an die alten Tage, erinnere mich an so allerlei.«

Woran er sich plötzlich erinnerte, war eine Sommernacht, in der er und Case einander gegenüber neben dem Körper von Rourkes Altem knieten, der in der Gosse seinen Rausch ausschlief, während der Regen auf sie herabströmte, ihre Augen und Münder füllte und die Straße in einen Fluss verwandelte. Case brüllte, sie müssten den Vater auf den Rücken drehen, damit er nicht ertrank, und einen Moment lang wollte Rourke das nicht, einen Moment lang dachte er, ertrink, du Hurensohn, ertrink, und deshalb hatte Case ihn umgedreht und Rourke hatte einfach zugesehen. Hatte im strömenden Regen auf der Straße gekniet und seine Hände hatten leer und schwer nach unten gehangen.

Was Rourke sagte, war: »Ich dachte daran, wie wir samstagsabends durch die Gegend gezogen sind und wie du dann allen alten Pennern und Säufern die Münzen aus der Tasche gezogen hast, auch, wenn du gar keinen Hunger hattest. Auch, wenn du Geld hattest. Dir ging es einfach um die Übung.«

Maguire ließ einige Sekunden schweigend verstreichen, dann sagte er: »Ich sage dir, ich hatte keinen Grund, den Kerl umzubringen, Day.«

»Aber du hast es trotzdem getan. Dir ging es einfach um die Übung.«

Maguire ließ seinen Blick zum Verkehr auf der Straße weiterwandern. Ein Kohlwagen und eine uralte Kutsche waren auf der Kreuzung zusammengestoßen, ein Model T versuchte ihnen auszuweichen und hupte wütend.

»Wenn du wissen willst, wer Vinny umgebracht hat«, sagte er, »dann solltest du mit dieser Niggerschwanzqueen reden, die ihm die Flocken verkauft hat, die er sich in den letzten Monaten in die Nase gestopft hat. Der Junge war so weit, dass er seine Seele dagegen eingetauscht hätte.« Er schaute jetzt wieder Rourke an und das Feuer in seinen Augen drohte Rourkes Haut zu verbrennen. »Aber damit kennst du dich ja wohl aus, oder, Day?«

Rourke kannte sich aus. Kokain und das Bedürfnis, das es in einem weckt, konnte zu einer schweren dunklen Wolke werden, die man überall mit sich herumschleppte. Jeden Tag regnete sie auf einen herab, aber man konnte sie einfach nicht abschütteln. Maguire drängte sich an ihm vorbei und diesmal ließ Rourke ihn gehen. Er sah zu, wie der Alkoholschieber, der einst sein Freund gewesen war, in seinen schönen und teuren Pierce-Arrow stieg und losfuhr, und der Geschmack in Rourkes Mund war rau und bitter.

Geld und Saft. Die Bibliothek des Boston Club roch nach beidem. Römische Büsten ruhten in Marmornischen, zwischen Vitrinen voller in grün und gold gepunztes Kalbsleder eingebundener Bücher. Perserteppiche in gedämpften Farben bedeckten das Parkett und grüne Samtportieren rahmten die Fenstertüren ein, die auf die Galerie führten, wo ein einsamer Mann stand wie ein General, der das Schlachtfeld betrachtet. Die Hände waren hinter seinem geraden Rücken verschränkt, sein ergrauender Löwenkopf war erhoben, seine Augen strahlten eiserne Entschlossenheit aus.

Weldon Carrigan, Superintendent des New Orleans Police Department, besaß sehr viel Geld und Saft, aber das war nicht immer so gewesen. Als zehnter Sohn eines reisenden Schuhverkäufers war er mit zwei Talenten und einem Ehrgeiz geboren worden. Seine Talente waren subtil und doch trügerisch einfach. Er begriff ganz genau, wie die menschliche Natur beeinflusst werden konnte und wie er dort Sympathie erweckte. Er konnte dafür sorgen, dass er gemocht wurde, sogar von denen, die wussten, dass sein einziger Ehrgeiz der Macht galt und dass er so viel davon wollte, wie er bekommen konnte, koste es, was es wolle und wen es wolle.

Doch in New Orleans kam Macht aus zwei sich häufig überlappenden Quellen: Familie und Politik. Also begann Weldon Carrigan, der Sohn eines Niemands, seine Karriere damit, die Maschinerie der Demokratischen Partei zu seiner Familie zu machen, was für beide Seiten von Nutzen gewesen war. Doch nicht einmal die Politik, dachte er, hatte so viel für ihn tun können wie seine Heirat mit Rose Marie Wilmington, Erbin eines der ältesten und stolzesten amerikanischen Namen der Stadt. Mit ihr hatte er vierzehnkarätige Respektabilität, ein Herrenhaus im Garden District und drei Millionen Dollar geerbt.

Er hatte niemals die Ironie des Schicksals erkannt, durch die er zwanzig Jahre später Daman Rourke fünfzigtausend der Dollars seiner Frau angeboten hatte, falls der auf die Hochzeit mit seiner Tochter verzichtete.

Doch trotz dieses problematischen Anfangs hatten Rourke und sein Schwiegervater im Laufe der Jahre füreinander eine widerwillige Toleranz entwickelt, die bisweilen in eine vorsichtige Achtung überging. Sie wussten beide, dass Weldon Carrigan als Superintendent die Macht hatte, die Karriere seines Schwiegersohns zu fördern oder zu ruinieren. Das war sein Einfluss. Rourke dagegen hatte Katie, die einzige Hinterlassenschaft von Jo, der geliebten und einzigen Tochter der Carrigans.

Jetzt jedoch war Weldon Carrigans fein gemeißeltes Gesicht so steinern wie die Gesichter der römischen Büsten, als er seinen Schwiegersohn das Zimmer betreten sah. »Ich habe gesehen, dass du mit Casey Maguire gesprochen hast«, sagte er, noch ehe Rourke die Zeit gehabt hatte, ihm einen guten Morgen zu wünschen. »Wenn es sich nicht bewegt, Day, dann rühr es nicht an.« Rourke warf seinen Strohhut auf einen Marmortisch in der Nähe und setzte sich in einen braunen, mit Fransen versehenen Ledersessel. Er streckte die Beine aus und faltete die Hände über seinem Bauch. »Wenn sich herausstellt, dass er den Jungen mit einer Klaviersaite hat erwürgen und in den Bayou werfen lassen, dann werde ich seinen Arsch festnehmen. Und dann hat er die Gelegenheit, aus euch allen unten in der City Hall rauszuholen, was er für sein Geld kriegen kann.«

Unter seiner Hecke aus schwarzen buschigen Augenbrauen wiesen Weldon Carrigans Augen das dumpfe Glänzen von Gewehrmetall auf. Er starrte Rourke hart und drohend an, dann lächelte er.

»Du bist heute Morgen offenbar müde. Sonst schaffst du es besser, deine verdammte Unverschämtheit zu verbergen.«

Rourke erwiderte das Lächeln und brachte den älteren Mann damit dazu, leise zu lachen und den Kopf zu schütteln, als er seinen umfangreichen Körper in einem Ohrensessel unterbrachte, der zu klein für ihn aussah. Er hatte die breiten Schultern und Hände eines Arbeiters, obwohl er niemals harte körperliche Arbeit geleistet hatte. Im Moment war er mit gemusterten langen Strümpfen, einer weiten Knickerbockerhose und einer Fliege zum Golf gekleidet. Später an diesem Morgen würde er, wie jeden Mittwoch, mit dem Bürgermeister achtzehn Löcher spielen.

»Dieser Bayouschwimmer war doch schon eine Minute, nachdem es passiert war, Schnee von gestern«, sagte er. »Wir sollten uns über Charles St. Claires zu frühes Ableben grämen.« Er zeigte auf die Extrablätter dieses Morgens, die vor ihm auf dem Kaffeetisch verteilt waren. »Hast du schon Zeit gehabt, dir diesen Dreck anzusehen? Ich sag dir, dieser gottverdammte Wylie T. Jones von der Morning Trib hat die Geilheit auf neue Höhen getrieben. Der Leichnam ist noch kaum kalt und schon schreibt er, dass die neue Cinderella vielleicht im Verfahren des Jahrhunderts vor Gericht gestellt wird.«

»Ich hab sie mir angesehen«, sagte Rourke. Die Morning Tribune,das übelste Boulevardblatt, brachte ein Foto des in ein blutiges Laken gewickelten Leichnams, der zum Leichenwagen getragen wurde. Die anderen Zeitungen – die Times-Picayune,die States und die Item –brachten Bilder der trauernden Witwe. Sie war an diesem Morgen kurz nach Morgengrauen auf die Galerie von Sans Souci getreten, um mit den versammelten Presseleuten zu reden. Auf den Fotos, die von ihr gemacht worden waren, sah sie schön und tragisch aus. Die verratene Unschuld.

»Ich will ganz ehrlich zu dir sein, Day«, sagte sein Schwiegervater. »Dieser Mord der letzten Nacht wird Boulevardzeitungen aus aller Welt aufrütteln und ihre Schmierer wie Wylie T. Jones aus dem Urwald holen. Wenn wir Remy Lelourie wegen Mordes an ihrem Mann anklagen müssen, dann werden wir uns in einem Zirkus mit drei Manegen wiederlinden, wo wir am Schwanz und ohne Netz am Trapez baumeln. Denn erstens gibt es in diesem Land keine Jury, die sie verurteilen würde, selbst wenn sie auf frischer Tat ertappt worden wäre ...«

»Das wurde sie mehr oder weniger. So sieht es jedenfalls aus.« Der Superintendent knallte mit der flachen Hand auf den Tisch. »Und ich sage dir, wenn die Sache vor Gericht kommt, werden Gerechtigkeit und Schuld nicht die geringste Rolle spielen. Andererseits darf es auch nicht so aussehen, als ließen wir den Mord an einem Mann wie Charlie St. Claire einfach so durchgehen.« Er zeigte auf die Zeitungen. »Ich will nicht, dass irgendein Arsch schreibt, dass meine Bullen ein Haufen von Schlappschwänzen sind, die nicht mal den Weg zum Klo finden, wenn nicht schon ein Weg durch den Dreck freigeschaufelt worden ist. Wir müssen aus dieser St.-Claire-Geschichte so sauber und mit so wenig Aufsehen herauskommen, wie das überhaupt nur möglich ist.«

Rourke richtete seinen Blick auf die Türen zur Galerie, durch die er den hitzeflimmernden Himmel sehen konnte. Weldon Carrigan war Politiker, kein Bulle. Er sah zwar Blutvergießen, Schmerzen und Leiden, allerdings betrachtete er es nur als politisches Spiel, das in den Zeitungen und auf dem polierten Parkett der City Hall breitgetreten wurde, wo der eine Tod eine Rolle spielte, der andere nicht und wo die Gerechtigkeit, die sich leicht herstellen ließ, die beste war.

»Eine Verhaftung würde also helfen, solange es nicht um Mrs. St. Claire geht«, sagte Rourke.

Der Superintendent hatte eine Havanna aus einem silbernen Futteral genommen und schnitt nun mit einem schmalen Silbermesser, das unten an seiner Uhrkette hing, die Spitze ab. »Ein anderer Verdächtiger wäre nicht unwillkommen.«

»Denkst du an einen bestimmten? Oder könnte es jeder sein?« »Ich habe gehört, dass St. Claire eine farbige Geliebte hatte. Weißt du davon?«

»Nein«, log Rourke. Die Kälte, die er in der Halle des Criminal Courts Building empfunden hatte, war wieder da, schlimmer als zuvor. Es war eine tiefe, knochenzerbrechende Kälte.

»Und zwar nicht irgendeine beliebige Nutte«, sagte sein Schwiegervater. »Angeblich ist sie verheiratet. Und auch wenn sie eine Niggerin ist, soll St. Claire sie aufrichtig geliebt haben.«

Carrigan gab sich mit einem hölzernen Streichholz Feuer und starrte dabei Rourke an, der seinen Blick erwiderte, aber schwieg.

»Findest du das nicht interessant?«, fragte Carrigan, als seine Zigarre brannte.

Rourke beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf seine Oberschenkel, doch er schaute weiterhin ins Gesicht des älteren Mannes. »Was ich interessanter finde, ist Mrs. St. Claire, die blutverschmiert mit einem Rohrmesser und neben dem ermordeten Leichnam ihres Mannes sitzt. Erzähl der Presse was von einer farbigen Geliebten und du gibst ihnen ein Motiv, das wir der Ehefrau ebenso sicher anhängen können wie ein Paar Handschellen.«

Der Superintendent war aufgesprungen. »Stell fest, wer Charlies Freundin ist, Day. Schleif ihren schwarzen Arsch zum Verhör und hol irgendwas aus ihr raus. Etwas, das uns weiterhilft.« Er ging zur Fenstertür und drehte sich dann wieder um. Sein Gesicht wirkte jetzt sanfter, aber vielleicht lag das am Zigarrenrauch, der seine Augen umwogte. »Kommst du am Samstag mit Katie zu meinem Fest?«, fragte er. Weldon Carrigan wurde am kommenden Samstag fünfundfünfzig, aber was Geburtstage anging, so war er in seinem Herzen immer noch ein Kind. Er gab sich selbst jedes Jahr eine große Party mit Kuchen, Eis und Feuerwerk.

»Ich weiß nicht, ob ich Zeit haben werde«, sagte Rourke und kam sich gemein vor. »Mir scheint, ich werde vollauf damit beschäftigt sein, mit dem Gummischlauch aus passenden Personen Geständnisse herauszuprügeln.«

Carrigans Zähne schlossen sich um seine Zigarre. »Was immer etwas bringt.«

Er nahm die Zigarre aus dem Mund, starrte die brennende Asche an und seufzte. »Jo hat mir einmal gesagt – ich glaube, einmal, als sie mir mal wieder zu erklären versuchte, warum sie unbedingt dich wollte. Da sagte sie, für dich sei die Arbeit des Bullen wie die eines Priesters, eine Art heilige Berufung von Gott. Und dass du auf einem straffen Seil zwischen der Welt, so wie sie ist, und der Welt, so wie du sie dir wünschst, balancierst und unter dir nur Finsternis und weit und breit kein Land siehst. Meine Tochter konnte sich keinen größeren Mut vorstellen, als dass deine Ehre dich an diesem Seil festhalten lässt, wenn alle anderen schon längst losgelassen haben.«

Weldon Carrigan schaute auf und verzog seinen Mund zu etwas, das einwandfrei kein Lächeln war. Rourke wusste, dass etwas von ihm verlangt werden würde, was er nicht liefern konnte. »Ich habe ihr gesagt, dass Märtyrer in der Regel auf dem Scheiterhaufen landen. Ich möchte, dass du diesen Vinny – wie immer er sonst noch heißt – begräbst und nicht mehr daran denkst. Die Stadt New Orleans wäre außerdem sehr dankbar, wenn du den Mord an Charlie St. Claire klären könntest, ohne uns zu einem gottverdammten Jahrhundertprozess zu zwingen. Du kannst damit anfangen, dieses Niggermädel ausfindig zu machen, das er angeblich gefickt hat.«

»Und zur Hölle mit Wahrheit und Gerechtigkeit«, sagte Rourke und hätte sich gleich darauf treten können. Ehre, Wahrheit und Gerechtigkeit. Scheiße.

Das Lächeln, mit dem Rourke sich beim Aufstehen selbst bedachte, war von Selbstverachtung erfüllt. Er griff zu seinem Strohhut und schlenderte aus dem Zimmer. Dabei sang er gerade laut genug, dass der Superintendent es hören konnte: »Und bis dahin, und bis dahin, wird doch alles lustig sein.«

Flammen im Wind

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