Читать книгу Flammen im Wind - Penelope Williamson - Страница 7

Zweites Kapitel

Оглавление

Ein Gespenst, das allgemein der »Gowman« genannt wurde, ging angeblich im Zypressensumpf hinter dem Faubourg St. John um. Ganz in Weiß gekleidet lauerte der Gowman in der Nacht und lockte seine Opfer in einen schrecklichen Tod. Er ermordete die Unschuldigen, doch was er danach tat, war noch schlimmer: Er stahl ihre Körper. Und deshalb gab es für Verwandte und Bekannte keinen Leichnam, den sie bei der Totenwache ansehen konnten, sie konnten keinen neuen Sarg in ihr Mausoleum stellen. Für die alten kreolischen Familien wie die St. Claires und die Lelouries, die Familien, deren Namen wie ihre Zypressenhäuser für immer überleben sollten, war das ein unerträgliches Schicksal.

Aber an diesem Mord ist der Gowman immerhin nicht schuld, dachte Daman Rourke, als er zusah, wie der Leichenwagen sich wieder in Bewegung setzte. Diesmal würde es eine Totenwache und einen Sarg und eine Witwe geben.

Er beugte sich über die Balustrade der oberen Galerie und sah zu, wie der Wind neue Wolken vor den Mond blies. Ehe er ihr erlaubt hatte, nach oben zu gehen und ihr blutiges Kleid abzulegen, hatte er sich ihr Schlafzimmer angesehen. Das große Himmelbett mit seinem Himmel aus Rosengirlanden und herumtollenden Cupidos. Und die Spermaflecken auf den zerwühlten Laken.

Ihren Glockenhut und ihre Perlen, die auf ihrer Frisierkommode lagen, ein Paar Strümpfe, das über einem Stuhlrücken hing, ihre Schuhe, die daneben standen. Ihre mit Kleidern voll gestopfte Gobelintasche, die in solcher Eile gepackt worden war, dass eine Schnalle nicht geschlossen war – so, als habe sie aufbruchsbereit sein wollen, ehe sie ihn umbrachte. Die Menschen ändern sich nie, sie war auch früher schon davongelaufen.

Die alten Bodenbretter aus Zypressenholz knackten unter Fiorello Prankowskis schwerem Schritt, als er zu Rourke ans Galeriegeländer trat. Fio lehnte sich mit der Hüfte an das abgegriffene Holz, verschränkte vor der Brust die Arme und starrte seinen Partner an.

»Wir müssen annehmen, dass die Frau es war«, sagte er.

»Ja.« Dieses Wort hinterließ einen schlechten Geschmack in Rourkes Mund. So, wie er sich ihr gegenüber verhalten hatte – wie der verschmähte Liebhaber, der er einst gewesen war und der sie jetzt so verletzen wollte, wie sie ihn verletzt hatte, der sie leiden lassen wollte, auch wenn jeglicher Schmerz, den er ihr schuldig war, elf Jahre zu spät kam.

Fio warf seinen Zigarrenstummel in die Nacht hinaus. »Ganz und gar mit Blut verschmiert, die fehlenden zwei Stunden, die Köchin findet sie bei der Leiche und sie weint, weil ihr alles so Leid tut. Ja, sie war es, ganz bestimmt, so wahr ich ein armer Italo-Polacke aus Des Moines bin. Und sind es nicht immer die, die uns doch am meisten lieben sollten«, fügte er hinzu und nannte eine alte Binsenweisheit. »Ihre Geschichte ist reichlich bescheuert, aber sie könnte damit durchkommen. Ich meine, es wird nicht leicht, eine Jury zu finden, die Remy Lelourie zum Braten den Fluss hochschicken wird, nicht einmal dafür, dass sie ihren Alten umgebracht hat.«

»Und es wird noch härter, wenn genug Leute der Meinung sind, er hätte es nicht besser verdient.«

»Und hat er das?«

Von ihrem Standort auf der Galerie im zweiten Stock konnten sie über den Sumpf hinweg die Lichter des City Parks sehen, wo siebzig Jahre zuvor in einem Eichenwäldchen ein St. Claire einen Lelourie in einem Duell, bei dem es um verlorene Ehre und eine Faro-Partie ging, erschossen hatte.

»Ich habe einmal eine Runde bourrée mit dem Herrn gespielt«, sagte Rourke. »Charles St. Claire kannte keine Furcht und keine Grenzen.«

»Hm, was du nicht sagst. Und wer hat gewonnen?«

»Ich.«

Fio lachte schnaubend. »Da hast du’s ... aber alle haben irgendwas. Wenn er keine Furcht hatte, was dann?«

»Geld, Stolz, Gier, Lust. Und Geheimnisse.« Rourke lächelte. »Die üblichen Todsünden der Südstaaten.«

»Ach, Mann, erzähl mir das doch nicht. Was für Geheimnisse?«

»Er hatte einen sehr guten Namen und war mit allen hohen und mächtigen Stellen verbandelt, aber er hing schon seit Jahren an den Drogen und führte ein wüstes Leben. Er benutzte gern Menschen – Männer, aber vor allem Frauen. Und er ließ sie für den Vorzug bezahlen, von ihm benutzt zu werden.«

Fio hatte den Kopf gedreht, um ihn anzusehen, und Rourke spürte die sezierende Schärfe im Blick seines Gegenübers.

»Und er war«, fuhr Rourke fort, »der einzige weiße kreolische Anwalt in dieser Gegend, der unverschämt genug war, um vor Gericht Neger zu verteidigen, und ein seltenes Mal hat er sogar gewonnen. Dass Charles St. Claire ein paar arme schwarze Ärsche vor einem Leben als Batatenhacker und Rohrschneider in einer Kettenbande in Angola retten konnte – ja, manche werden das als seine ärgste Sünde bezeichnen.«

»Und was wäre in ihren Augen Remy Lelouries ärgste Sünde?« »Dass sie uns damals vor vielen Jahren verlassen hat. Oder es zumindest versucht hat.«

Fio wartete zwei langsame Herzschläge ab, dann sagte er: »Ich weiß, du wünschst dir, dass sie unschuldig ist, aber vermutlich ist sie das nicht, also ...« Er unterbrach sich und stieß die Luft durch seine Zähne aus.

»Was also?«

»Lass dir davon nicht wieder das Herz brechen.«

»Wieder?« Für einen Moment fragte Rourke sich, wie viel sein Partner wohl wusste – ob er irgendwo etwas gehört haben könnte, ein Tuscheln, ein Gerücht. Aber das war doch unmöglich. Die wahren Geheimnisse, die Sünden, waren zu tief vergraben. Nur er und Remy wussten, was sich vor elf Jahren in der Sklavenhütte zugetragen hatte, und Remy würde niemals darüber reden.

Fio zuckte mit den Schultern. »Ich meine ja bloß, sie ist jung und schön und es ist eine grässliche Vorstellung, dass sie für diese Schweinerei dahinten verantwortlich sein soll.« Er zeigte zur Sklavenhütte hinüber. »Aber du machst dir immer viel zu viele Gedanken über sie, über die Ermordeten und ihre Mörder – du machst dir zu viele Gedanken, und das bricht dir am Ende das Herz.«

Rourke starrte den anderen Bullen an und ließ ein gereiztes Schweigen zwischen sie treten. »War das alles?«

»Ja, das war alles.«

Rourke starrte Fio noch weiter an, dann lächelte er und schüttelte den Kopf. Er wartete, bis Fio sein Lächeln erwidert hatte, dann sagte er: »Jesus, Prankowski, du steckst ja vielleicht voll Scheiße.«

Er stieß sich von der Balustrade ab und kehrte dem Sumpf den Rücken zu. Seine Kopfschmerzen stachen immer heftiger und seine Arme und Beine kamen ihm schwerelos vor, unsichtbar, als verschwinde er in der Vergangenheit, in der sie einst gelebt hatten, er und Remy.

»Weißt du«, sagte Fio, als sie das Haus über die Treppe der hinteren Galerie verließen, »was ich an dieser Sache einfach überhaupt nicht kapiere? Sie hatte doch alles – verdammt, sie war ein Filmstar, zum Henker. Warum ist sie also zurückgekommen und hat einen Mann wie St. Claire geheiratet?«

»Das war vielleicht wahre Liebe.«

»Ach? Dann hält wahre Liebe wahrlich nicht lange vor. Wann sind sie vor den Traualtar getreten – irgendwann im Februar? Das macht fünf Monate.«

Sie überquerten den Hofplatz und erreichten die Eichen an der Auffahrt, wo Rourke sein Big Indian Chief Motorrad abgestellt hatte. Es regnete jetzt wieder, in großen, fetten Tropfen.

Er hatte sich schon rittlings auf den Ledersattel gesetzt und den Motor angetreten, als Fios Pranken den Lenker packten und er sich vorbeugte, bis dicht an Rourkes Gesicht heran. »Irgendwas dagegen, mir zu sagen, wo du hinwillst, Partner?«

Rourke starrte ihn seinerseits an, aber seine Antwort fiel dann recht sanft aus. »In eine Kneipe.«

»Wenn du was trinken willst, ich habe einen Flachmann in der Tasche.«

»Ich will eine Frau. Hast du von der Sorte auch welche in der Tasche?«

Fio atmete aus. Im weißen Licht des Motorradscheinwerfers sah sein Gesicht ebenso blutleer aus wie vorhin das von Charles St. Claire. »Was weißt du und willst es mir nicht erzählen?«

»Nichts«, log Rourke und lächelte, um der Lüge den Weg zu ebnen.

Er fuhr über die Auffahrt und folgte der Sumpfstraße, um dann in die Esplanade Avenue abzubiegen, wo er den Motor der Indian aufheulen ließ und über das regenglatte Pflaster jagte. Das Motorrad bebte zwischen seinen Beinen und der heiße, nasse Wind schlug ihm ins Gesicht, während in seinen Gedanken ein Saxophon »Runnin’ wild« jammerte.

Drei Jahre zuvor hatte ein Prohibitionskontrolleur – natürlich nur aus dienstlichem Interesse – feststellen wollen, wie lange ein Durstiger brauchte, um sich in verschiedenen Städten des trockengelegten Landes ein Glas Schnaps zu kaufen. In Chicago hatte es ganze einundzwanzig Minuten gedauert, diesen illegalen Einkauf zu tätigen. In Detroit hatten drei Minuten genügt. In New Orleans reichten fünfunddreißig Sekunden.

In dieser nassen, blutigen Sommernacht verschwendete Daman Rourke noch weniger Zeit, aber er wusste ja auch, wohin er wollte.

Die illegale Kneipe lag in der Dumaine Street und gab sich als Wäscherei aus, weshalb ab und zu auf dem Hinterhof einige Hemden in riesigen Kupfergefäßen gekocht wurden. Und das oft genug, um den Gestank von Tabak und Schnaps mit einem schwachen Geruch von Seife und Stärke anzureichern.

Rourke stützte seine Ellbogen auf den voll geregneten Tresen und bestellte einen Scotch bei einem Mann mit hängenden Schultern und schlaffen Lippen, der eine speckige Schürze trug. Als der Mann den Drink brachte, legte Rourke einen Dollar hin. Der Barmann hielt ihn für einen Bullen und ließ das Geld deshalb liegen, aber Rourke rührte es nicht wieder an, denn so tief er auch sank, er tat es immer mit Stil und blieb dabei niemandem etwas schuldig.

Der Schnaps war gut, frisch vom Boot aus Honduras, und er brannte noch, als er in Rourkes Magen eintraf. In dieser Nacht wirkte die Kneipe traurig und still. Aus dem Hinterzimmer waren das Klicken von Billardkugeln und das Gemurmel der Männer beim Kartenspiel zu hören. Ein Mann in einer rot gestreiften Weste hing bewusstlos über einem Klavier, seine schwarzen Hände hatte er wie zum Gebet auf den stummen Elfenbeintasten gefaltet.

Doch unter dem trüben Licht einer Lampe mit Kupferschirm tanzte ein Paar, verloren in einer Musik, die nur die beiden hören konnten. Füße wurden langsam hin und her gezogen, Bäuche aneinander gepresst, Hüften rieben sich in einer Liebesparodie aneinander. Das schrille gelbe Kleid der Frau war am Saum aufgegangen, ihre rötlichen Haare hatten dunkle Wurzeln, sie hatte die Augen zusammengekniffen. Als sei nicht hinsehen so gut wie nicht wissen.

Als der Barmann sich erkundigte, ob er noch einen wolle, nickte Rourke, obwohl seine Kopfschmerzen jetzt draufloshämmerten wie eine Karnevalskapelle. »Als ich zuletzt hier war«, sagte er, »das muss so vielleicht vor einer Woche gewesen sein – da hat eine Kleine so verdammt toll und herzzerreißend Blues gesungen. Da kriegt man richtig Lust, mit einer vollen Flasche und einer willigen Frau ins Bett zu kriechen und seine Sorgen tief in beiden zu ertränken.«

Rourke unterbrach sich und ließ seinen Finger in den Wasserpfützen ein Muster zeichnen. Als er aufblickte, zeigte er ein naives, freundliches Lächeln mit einem leisen Hauch von Verlegenheit, als habe er es mit diesem Spiel noch nie versucht und wolle wissen, wie weit er gehen könne. »Und, na ja, seither hab ich dieses Lied der Kleinen einfach nicht vergessen können.«

Der Barmann wischte vage mit seinem Schürzenzipfel über das zerschrammte Holz, sog seine fette Unterlippe ein und versuchte zu entscheiden, ob der Bulle, der hier an seinem Tresen lehnte, gevögelt oder auf die Schmiergeldliste gesetzt werden wollte. »Sie denken vermutlich an Lucille. Bloß, heut Abend hat sie sich nicht so toll gefühlt und ich hab gesagt, sie sollte sich frei nehmen.«

»Was für eine elende Schande«, sagte Rourke. Innerlich war ihm schlecht und er fror vor Angst vor den Problemen, die er auf sich zukommen sah. Und auf Lucille. Lucille, die hier in dieser Kneipe stehen und Blues singen sollte und die das nicht tat und deshalb vermutlich kein Alibi hatte für den Zeitpunkt, zu dem Charlie St. Claire draußen in der Hütte in seinem eigenen Blut ertrunken war.

Der Barmann kaute weiter auf seiner Lippe herum und sein Blick wanderte überall umher, nur Rourkes Gesicht wurde von ihm gemieden. Endlich beugte er sich vor und senkte seine Stimme zu einem heiseren, whiskeydurchsättigten Flüstern.

»Wenn Sie auf Brombeeren stehen, dann gibt’s um die Ecke auf der Burgundy einen Laden. Suchen Sie nach einer braunen Tür, die zur Farbe von Besoffenenpisse verblichen ist. Da gibt’s alles von grün bis reif und in jeder Farbe dazwischen.«

Rourke leerte sein Glas und legte einen weiteren Dollar auf den Tresen. Er lächelte noch einmal, aber dieses Lächeln hatte nichts Naives oder Verlegenes. Es war das Lächeln eines Jungen, der mit einem ewig betrunkenen Vater im Irischen Kanal aufgewachsen war, dessen Eckkneipen diese hier aussehen ließen wie ein Sonntagsschulzimmer und dessen Barmänner mit Ziegelsteinen und langen Messern für Ordnung sorgten.

»Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht«, sagte er. Der schlafflippige Mann gab keine Antwort und nickte auch nicht, er drehte sich einfach um und ging mit vorsichtigen Schritten zum anderen Tresenende.

Draußen war der Regen gekommen und gegangen, doch die Hitze hatte er nicht mitgenommen. Rourke war schon losgegangen, als er eine Frau sah, die an einer trüben Straßenlaterne lehnte. Die Frau trug nur ein verschossenes blaues Negligé und ein altmodisches Korsett.

Obwohl sie im Schatten stand, konnte er sehen, dass ihre Waden glatt und kohlschwarz funkelten, dass ihr Gesicht jedoch ein teigiges Rosa aufwies. Manchmal kauften Mädchen vom Lande, die neu im Geschäft waren und noch nicht gelernt hatten, was Männer sich wirklich wünschten, rosa Kreide, feuchteten sie mit Parfüm an und schmierten sie sich ins Gesicht, um weiß auszusehen.

Diese hier hatte die Tricks immerhin schon raus. Sie schwenkte Bauch und Hüften und schmatzte laut und feucht mit den Lippen. »Hallo, Daddy. ’n bisschen Geschäfte machen?«

Rourke schüttelte den Kopf und sagte »nein, danke«, um seine Ablehnung zu mildern. Danach musste er lachen, weil er gedacht hatte, für sie spiele das eine Rolle. Sie war jung, aber nicht so jung. Doch als er an ihr vorüberging, glaubte er, dass unter ihrer rosa Kreide eine steckte, die er kannte.

Er ging durch die Dumaine, über einen vom Regen glitschigen und silbernen Bürgersteig und weiter zu der Gasse, in der er die Indian abgestellt hatte. In der Ferne spielte jemand Trompete. Wer immer es sein mochte, alles Elend seines Lebens und alle Trauer seiner Seele strömten aus diesem Horn. Daman Rourke blieb unter einem tropfenden Balkon stehen und hörte zu, wie die Trompete den letzten Ton weinte, wie sie so süße Musik machte, dass es wehtat, wie ein Herz, das von einem Rohrmesser zerfetzt wird.

Er hatte nicht nur gelogen, als er zu Fio gesagt hatte, er brauchte eine Frau.

Die Erinnerung konnte wie eine Lokomotivenpfeife in der Nacht sein, die uns ganz tief in den Blues hineinzieht. Manchmal ließ sich mit Alkohol oder Drogen dagegen ankämpfen, aber für ihn war es doch das Beste, sich in den Armen einer Frau zu verlieren, wenn sie die eigene Frau war, vielleicht. Wenn sie einen noch nicht verlassen hatte, wenn sie einen nicht belogen hatte, gestorben war oder einen ganz einfach aufgegeben hatte. Keine Trompete weinte sich in dieser besseren Gegend mit Doppel- und Einzelhäusern mit Pultdach das Herz aus der Seele. Rourke würgte den Motor ab, als er vor Bridey O’Maras Vorderveranda zum Halten kam. Schatten huschten über eine von lila Wein erstickte Veranda. Eine Hollywoodschaukel knackte.

Er blieb unten vor der Treppe stehen und schaute zu der Frau auf der Schaukel hoch. Zu seiner Frau, vielleicht. Sie hatte die Knie bis ans Kinn hochgezogen und die Arme um ihre Knie geschlungen. Ihr Kopf war gesenkt, wie um sich hinter ihren langen irischroten Haaren zu verbergen.

»He, Baby«, sagte er. »Es ist nach zwei Uhr morgens. Wieso bist du noch auf?«

Sie hob den Kopf und der Vorhang ihrer Haare teilte sich. Das Licht der Straßenlaternen blutete durch die dicken Weinranken und auf ihr Gesicht. Ihre Wangen glänzten feucht, vor Schweiß oder vielleicht vor Tränen.

Er blieb unten vor der Treppe stehen und starrte zu ihr hoch. Sie erwiderte seinen Blick für einen Moment, dann wandte sie sich abrupt ab. »Ein paar Bullen haben dich gesucht. Ich musste ihnen sagen, dass ich dich seit über einer Woche nicht gesehen habe.«

Ihre Stimme klang rau und spröde. Sie umfasste ihre Beine fester und schaukelte ein wenig. Die Schaukel jammerte. »Ich dachte an die Nacht, in der Sean nicht nach Hause gekommen ist. Großer Gott, wie es da geregnet hat – weißt du noch? Donner und Blitz und ein Wolkenbruch, der überhaupt kein Ende zu nehmen schien.«

Rourke stieg die Treppe hoch und setzte sich neben sie auf die Schaukel. Ihre Augen waren hell und durchdringend.

»In der Nacht habe ich auch hier auf der Schaukel gesessen«, sagte sie. »Und darauf gewartet, dass er nach Hause kommt, während der Sturm um mich herum tobte. Ich hatte das Gefühl, in ein langes, schwarzes Schweigen zu stürzen. Ich glaube, so muss Sterben sein, Day, meinst du nicht? Wir stürzen durch ein langes, schwarzes Schweigen.«

Er wollte sie berühren, tat es dann aber doch nicht. »Ich werde nicht so einfach verschwinden, Bridey.«

Sie ließ ihre Beine los und lehnte sich an ihn, ihre Schulter presste gegen seine. Sie trug nur einen dünnen Baumwollmorgenrock und er konnte die Hitze ihres Körpers spüren.

Die Erinnerung konnte wie eine Lokomotivenpfeife in der Nacht sein und manchmal fühlte man sich von ihrem Ruf angezogen, trotz aller guten Vorsätze und tiefsten Überzeugungen. Er dachte an Charles St. Claire, der mit im Tod weit offenen Augen in seinem Blut gelegen hatte. Er fürchtete, nur zu gut zu wissen, welches entsetzliche Bild diese Augen in ihren letzten Augenblicken gesehen hatten, denn vor langer Zeit hatten seine eigenen Augen Remy Lelourie töten gesehen.

Und an dieser Stelle blieben seine Gedanken immer wieder hängen, wie auf einer zerkratzten Schallplatte: Wenn sie es einmal getan hat, einmal, einmal, dann kann sie es wieder tun. Aber schon jetzt wusste er, dass sie die Macht hatte, ihm diese Überzeugung zu nehmen. Oder dafür zu sorgen, dass ihm das alles egal war.

»Ich weiß, dass er tot ist«, sagte die Frau, die neben ihm auf der Schaukel saß, und Rourkes Gedanken machten einen benommenen Sprung, als er dachte, dass auch sie den zerschlitzten Leichnam in der Sklavenhütte sah. Dann ging ihm auf, dass ihre Gedanken in einer anderen Regennacht weilten und auf einen Mann warteten, der nie zurückkommen würde.

»Ich weiß, dass sein Boot bei diesem Sturm untergegangen ist«, sagte sie. »Ich weiß, dass das passiert ist. Aber manchmal ...«

Manchmal ...

Rourke drehte sich zu ihr um und zog sie an sich, sodass er seinen Kopf zwischen ihre Brüste legen durfte, was ein wunderschönes Gefühl war. Er glaubte schon, ihre Lippen in seinem Haar zu spüren, aber dann entzog sie sich ihm und stand auf. Sie nahm seine Hand und führte ihn in ihr Schlafzimmer.

Ihre Augen zeigten die goldgraue Farbe von Zinn bei Kerzenlicht. Ihre Brüste, die jetzt von seiner Zunge feucht waren, waren mit Sommersprossen bestäubt. Er legte sich auf sie, und als sie zu ihm aufschaute, zeigte ihr Gesicht so viele Gefühle und Erinnerungen, von denen er nichts wissen wollte. Er wollte in ihr aufgehen, sich in ihr verlieren, für immer.

Immer hatte gegolten: wir gegen den Rest der Welt, als sie arm, zäh und wild in der Rousseau Street im Irischen Kanal aufgewachsen waren. Daman Rourke, Casey Maguire, Sean O’Mara und Bridey Kinsella. Mit zwölf Jahren gingen sie in einem Sommer zu Mamma Rae, der Voodoopriesterin, und für einen Dollar tätowierte sie ihnen jeweils einen achtzackigen blauen Stern innen aufs Handgelenk. Sie sprach einen Zauberspruch und umrundete dreimal entgegen dem Uhrzeigersinn bei abnehmendem Mond ein frisch aufgeworfenes Jungfrauengrab. Danach erklärte sie sie für Blutsbrüder für ihr ganzes Leben. Dass Bridey ein Mädchen war, spielte keine Rolle, sie gehörte dazu. Sie waren alle drei halbwegs in sie verliebt gewesen, damals schon.

Am Ende hatte sie dann Sean geheiratet und das hatte bis zu einem Sonntag vor zwei Monaten gedauert, als er mit seinem kleinen Fischkutter auf den Lake Pontchartrain hinausgefahren war, um an diesem Frühlingsabend ein wenig zu fischen. Danach hatte ihn niemand mehr gesehen oder von ihm gehört. Wer Sean O’Mara nicht kannte, mochte ihn für einen Bullen halten, der auf die schiefe Bahn geraten war, für einen Säufer und Versager, der bei seinem Schnapsdealer und seinem Buchmacher zu hohe Schulden aufgehäuft hatte. Und mochte sagen, dass immer wieder Boote und Züge New Orleans verließen und dass die einzige Rettung bisweilen aus einem neuen Anfang bestand.

Doch wer zusammen mit ihm in einer rücksichtslosen, wüsten Gegend im Irischen Kanal aufgewachsen war, wo der eine dem anderen den Rücken gedeckt hatte, wusste, dass Sean O’Mara es zwar bisweilen arg toll trieb, dass er aber niemals weglaufen würde.

Zumindest sagte er sich das in den Nächten, wenn er mit Sean O’Maras Frau in Sean O’Maras gedrechseltem Bett lag. Wenn Strähnen ihres langen Haares über seine Brust strichen und er ihren heißen Atem in seinem Gesicht spüren konnte.

»Bridey«, sagte er.

Sie seufzte als Antwort und drückte ihre Hüfte gegen seinen Bauch und ein Gefühl, dem er keinen Namen geben konnte, füllte seinen Hals.

Er hatte damals die ganze Nacht und noch viele weitere Nächte bei Bridey gesessen, während der See und die Kneipen und Puffs der Stadt nach Sean abgesucht worden waren. Er hatte sie nicht berühren wollen, nicht einmal dann, als sie weinte und ihn bat, sie in den Arm zu nehmen, nicht einmal dann, als sie in einem verzweifelten Kuss seinen Mund mit ihrem bedeckte. Für sie, das wusste er, war diese Berührung nur der Versuch, bei einem alten Freund Trost zu finden. Für ihn war es eine andere Art Trost – auf süße Weise einsam und mit Schmerz unterlegt, wie das Klagen eines Saxophons. Seine eigene Frau war seit fast sieben Jahren tot. Er hatte Fotos, die ihn daran erinnerten, wie sie ausgesehen hatte, aber schon längst hatte er die Musik vergessen, die in ihrer Stimme lag, wenn sie seinen Namen sagte.

Er berührte die Frau, die jetzt neben ihm lag, berührte die Innenseite ihres Handgelenks, wo das verblichene blaue Sternchen nur ein Schatten war, wie ein Muttermal. »Bridey«, sagte er noch einmal.

Langsam trat ein Lächeln in ihre Mundwinkel und ihre Augen, als das Telefon schellte.

Er sah, wie ihr Gesicht sich änderte, sah in ihren Augen für einen Moment Hoffnung aufflackern wie ein eben angerissenes Streichholz, und er wandte sich ab. Für immer, dachte er, würde sie draußen auf dieser Schaukel sitzen und warten.

»Das ist wahrscheinlich nur Mama«, sagte sie, als es zum dritten Mal geklingelt hatte. »Seit Daddy gestorben ist, kann sie nachts kaum noch schlafen.«

Er sah zu, wie sie sich nackt aus dem Bett erhob und in die Diele ging, wo das Telefon auf einem schmalen Mahagonitisch stand. Sie nahm mit einer Hand den Hörer ab und fasste mit der anderen in ihrem Nacken ihre Haare zusammen. Diese Bewegung beugte ihren Rücken nach hinten und hob ihre Brüste. Im Licht der Dielenlampe mit ihrem roten Lampenschirm schienen ihre Brüste rosa zu glühen, wie seltene Muscheln.

Er hörte, wie sie sagte: »Ja, er ist hier, einen Moment, bitte.«

Er stand auf und warf im Vorübergehen einen Blick auf die rundgeschwungene Uhr auf der Kommode. Es waren noch einige Stunden bis zur Morgendämmerung.

Er ging zu ihr, ihre Körper streiften einander und trennten sich dann wieder. Er nahm ihr den Hörer ab und fragte: »Ja?«

Fiorello Prankowskis Stimme, geladen mit atmosphärischen Störungen, erreichte ihn durch die Nacht: »Day? Wir haben noch einen.«

Flammen im Wind

Подняться наверх