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Drittes Kapitel

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Der Tote lag nass und aufgedunsen mit dem Gesicht nach unten in einem Nest aus grünen Algen und allerlei Sumpfabfällen am Rand des Bayou. Rourke musste sich seinen Weg durch saugenden, stinkenden gelben Schlamm, Katzenschwänze, Schwertgras und die Überreste eines verfaulten Kanus suchen. Er hasste den Anblick toter Dinge und diese Nacht bedeutete einfach den Ruin für seine neuen Schuhe.

Er hockte sich neben den Leichnam und bedeutete dem jungen Streifenpolizisten, der eine Lampe hielt, näher zu kommen. »Fertig?«, fragte er Fio, der Fotos gemacht hatte. »Ich möchte ihn umdrehen.«

Das Blitzlicht von Fios Kamera loderte noch einmal über dem schwarzen Wasser und den gespaltenen Zweigen der toten Zypressen auf. »Ja, ja, mach schon«, sagte er. »Christus.« Er trat einige Schritte zurück und rieb sich die Nase. Es war wirklich ein übler Gestank, satt und grau und faulig.

Rourke packte den Toten am linken Arm und an der Schulter und zog. Der Bursche war seltsam leicht, aber schwabbelig, er schien den Sumpf wie ein weicher Schwamm in sich aufgesogen zu haben. Mit nassem Plopp landete er auf dem Rücken.

»Scheiße!«

Eine kleine Mokassinschlange, deren schwarzer Kopf hin- und herjagte, schlüpfte aus dem weit aufklaffenden Mund des Toten. Rourke fuhr zurück, rutschte im nassen Schlamm aus und wäre fast auf den Hintern gefallen. Die Schlange glitt aus dem Mund über den Hals des Toten, um dann im dicht stehenden Zuckerrohr zu verschwinden.

»Jesus«, sagte Fio.

»Hol dahinten noch mehr Licht«, sagte Rourke zu dem Jungbullen, dem die Lampe in den Matsch gefallen war. Rourke beugte sich über den Leichnam. Er glaubte zuerst, dem Mann sei die Kehle aufgeschlitzt worden, doch dann fiel der Lichtstrahl auf eine tief im weißen, aufgedunsenen Fleisch eingesunkene Klaviersaite.

»Hier hat ein Profi zugeschlagen«, sagte Fio. Im Gewirr von Seetang und alten Schleppleinen, die sich um die Beine des Toten wickelten, war auch ein Tau mit zerfasertem Ende zu sehen. Das andere Ende des Taus war mit einer Schleife um einen dünnen, verdrehten Knöchel gebunden. »Scheint schon ein paar Wochen hier im Dreck zu liegen, vielleicht mehr. Erkennt ihr ihn oder das, was von ihm noch übrig ist?«

Dem Gesicht sah man die lange Zeit im Wasser deutlich an, es war aufgedunsen, grotesk, hatte die Farbe von gelblichem altem Wachs angenommen. Aber ein grelles Muttermal von Größe und Umriss eines Blumenkohls flammte am Hals und auf der rechten Wange des Mannes auf, und in Rourkes Gedanken setzte die Erinnerung ein: an ein rundes, kinnloses Gesicht, entstellt durch dieses schreckliche lila Zeichen und durch die platte Nase mit den Aknenarben, von den kleinen, zementfarbenen Augen noch hässlicher gemacht. Unmöglich zu sagen, ob diese Augen im Moment ihres Todes irgendeine Wahrheit gesehen hatten, denn die Flusskrebse hatten sich an ihnen gütlich getan.

Rourke durchsuchte die Vergangenheit nach einem Namen. »Könnte ein Kerl aus dem Irischen Kanal sein, McGinty. Vinny McGinty. Wenn das hier der Richtige ist, dann hat er es vor ein paar Jahren als Boxer versucht, aber er hatte Bleifüße und einen Glaskiefer – konnte nicht mal bis zum ersten Gong durchhalten. Nachdem er aus dem Ring ausgestiegen war, hing er dann immer noch im Irischen Boxclub herum und versuchte die Leute zu ein paar Runden aufzufordern. Hat sein Fick- und Saufgeld damit verdient, dass er für die Maguires Schutzgelder eintrieb.«

Fio schnaubte durch seine dicke Nase. »Wunderbar, einfach wunderbar. Casey Maguire hat so viel Macht, der kann nicht mal pissen, ohne dass der Bürgermeister angerannt kommt und ihm den Schwanz halten will ... Himmel, was für eine Scheißnacht. Zuerst lässt sich so ein blaues Blut der oberen Zehntausend von der neuen Cinderella in Stücke schneiden, dann kommt einer von Maguires Schlägern mit von den Krebslein ausgelutschten Augen aus dem Moor geschwommen. Wir sind am Arsch, Partner. Am Arsch. Wir haben eine Mordverdächtige, die Filmidol und berühmter ist als Babe Ruth. Und einen Mordverdächtigen, der sich für den Al Capone von New Orleans hält.«

Casey Maguire war wirklich in New Orleans eine Größe von Orkanausmaß. Er war das, was von der Boulevardpresse als »Gangster« und vom Rathaus als »Geschäftsmann« bezeichnet wurde. Er besaß eine Zuckerraffinerie und einen Schlachthof und dazu die üblichen lichtscheuen Unternehmen, aber die Volstead Act hatte ihn dann wirklich zum König gemacht. Er besaß das Monopol auf allen Schnaps, der in den zahlreichen illegalen Kneipen der Stadt verkauft wurde; ihm gehörten die Schmugglerschiffe, die die Markenprodukte aus Mexiko und Südamerika brachten, ihm gehörten die Fabrikhallen, in denen die Ware verdünnt und in Flaschen gefüllt wurde. Ihm gehörten die Gerichte und die Zollstellen und die Polizei der Stadt, die geschworen hatte, die Gesetze zu verteidigen, die fast alle seiner Tätigkeiten für illegal erklärten.

Nur sehr wenige wussten jedoch, dass unter seiner gestärkten weißen Hemdenmanschette in die Haut seines linken Handgelenks ein achtzackiges Sternchen eintätowiert war. Noch weniger kannten dessen Bedeutung. Die Voodoofrau hatte ihnen gesagt, in diesem Sommer, als sie zwölf waren, dass sie alle verloren wären, wenn auch nur einer jemals den Blutseid bräche.

»Ich denke, wir brauchen nicht anzunehmen, dass er hier draußen versenkt worden ist«, sagte Fio, der den Leichnam mit gerunzelter Stirn betrachtete. »Der hat doch eine ganze Weile durch die Gegend treiben können, nachdem das Tau erst mal gerissen war.«

Rourke richtete sich auf und wischte sich die Hände ab. »Wer hat ihn gefunden?«

»Ein Tanzmädel, das in dieser Negerbutze unten an der Straße arbeitet. Sie sagt, sie wollte mal kurz frische Luft schnappen. Wahrscheinlich hatte sie sich einfach von ihrem Kunden abgesetzt, aber wer immer das gewesen sein mag – der ist verduftet.«

Die Frau hatte geglättete braune Haare und eine kaffeebraune Haut. Sie saß auf dem Trittbrett der Limousine, ihre dünnen Schultern beugten sich über das Marmeladenglas voll spotioti in ihren Händen.

Sie legte den Kopf langsam in den Nacken, als Rourke auf sie zukam. Ihre dunkelbraunen Augen wirkten glasig vom Alkohol, aber sie war noch nicht weggetreten genug, um nicht zu wissen, dass sie das Gesetz des weißen Mannes vor sich hatte. Er sah, wie Angst und Wachsamkeit ihr Gesicht füllten, sie schien in einem vom Sturm bedrohten Haus die Fensterblenden vorzulegen.

Er nickte ihr zu. »Nett, dass Sie gewartet haben, Miss ...«

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, der nach Muskateller und Whiskey roch. »Sugar. Na ja, eigentlich heiße ich Dora, aber alle hier nennen mich Sugar. Sugar Baudier.« Sie versuchte zu lächeln, aber das Lächeln verschwand gleich wieder. »Ich bin Tänzerin. Ich arbeite in Jack’s Place, weiter da unten.«

Sie zeigte auf die Straße, die eigentlich nur aus einer doppelten Karrenspur durch das Schwertgras bestand. Die Straße führte zu einer Zeile aus verwitterten Hütten mit eingefallenen, auf Pfosten errichteten Veranden, die der Bahnlinie den Rücken kehrten und auf die Sümpfe blickten. Am Ende der Zeile stand eine Hütte, die noch baufälliger war als die anderen. Sie war aus Bretterresten und Blech zusammengehauen und der Lärm, der durch die verrotteten Fensterblenden drang, sagte Rourke, dass es sich um Jack’s Place handeln musste. Lachen, ein brüllendes Saxophon und eine Frau, die den »Mean Lovin’ Man Blues« säuselte.

Die Sängerin legte in jede Note den Schmerz eines blutenden Herzens. Rourke ging erst auf, dass er nur noch zuhörte, als Sugar, verängstigt durch sein drückendes Schweigen, ihm die Fragen zu beantworten begann, die er noch gar nicht gestellt hatte.

»Ich wollte kurz spazieren gehen, da drin war’s nämlich so heiß und der Rauch macht mir Probleme, weil ich Asthma hab, und da lag er, am Ufer, mitten im Matsch, und er sah aus, als wär er schon sehr lange tot, deshalb dacht ich mir, jetzt sagst du Jackson, dass er zu Mr. Morgans Lebensmittelladen gehen und die Polizei anrufen muss, und das ham wir getan. Hat er getan.«

»War jemand bei Ihnen oder hat hier einfach irgendwer am Sumpf rumgehangen, als Sie den Spaziergang machten?«

Sie schüttelte so energisch den Kopf, dass er sich fragte, wieso ihre Ohren dabei nicht klirrten. »Nein, Sir. Hm-mm. Nein, Sir.«

»Und wenn Sie ein paar Wochen zurückgehen? Haben Sie da hier am Sumpf oder in Jack’s Place irgendwas Außergewöhnliches gesehen oder gehört?«

»Nichts gesehen, nein, Sir.«

Ihr verschossenes Kleid hing an ihrem mageren Leib herunter und war erstarrt vom vertrockneten Schweiß. Obwohl sie das Marmeladenglas voll spotioti fest umklammert hielt, zitterten ihre Hände noch immer. Wenn sie auf den Strich geht, dann kann sie damit nicht viel verdienen, dachte Rourke; sie sah halb verhungert und auf miesen Fusel angewiesen aus. Aber die Männer, die in Jack’s Place verkehrten, konnten sicher nicht mehr als einen Vierteldollar für das ausgeben, was sie zu verkaufen hatte.

»Miss Baudier«, sagte Rourke. »Das wissen Sie vermutlich nicht, aber die Stadt New Orleans bezahlt jedem Bürger, der der Polizei bei Ermittlungen in zweifelhaften Todesfällen behilflich ist, eine Belohnung.« Er zog die Geldscheine, die er in der Tasche hatte, hervor, insgesamt fünf Dollar, und hielt sie ihr hin.

Sie starrte ihn an und er konnte sehen, dass sie ihm nicht glaubte. Das Geld nahm sie aber trotzdem.

»Mal wieder Belohnungen verteilen, wie ich sehe«, sagte Fio, als Rourke neben ihn trat. Er wartete am Ufer auf den Leichenfresser in seinem grünen Packard mit Chauffeur. »Setz das mal auf die Spesenrechnung und der Chef schreit nach deinem Arsch.«

Rourke starrte auf den Bayou hinaus. Eine falsche Morgendämmerung ließ den Himmel knochenweiß werden und an den Zypressen stieg Nebel hoch. Er glaubte, die »Smoky Mary« auf sie zukommen zu hören, sie polterte über die Gleise hinter den Hütten.

»Dieser Jack’s Place – das ist nicht gerade ein Klasseladen«, sagte Fio jetzt. Nach fast einem Jahr gemeinsamer Arbeit war er an Rourkes Schweigen gewöhnt, hatte gelernt, einfach weiterzureden. »Sind da nicht neulich mal ein paar arme Trottel blind geworden, weil sie einen Fusel aus Holzgeist und Ingwer getrunken haben?«

Das kann durchaus möglich sein, dachte Rourke. Vielleicht war es aber auch in einer anderen Kneipe gewesen. Die Sängerin hatte das Ende ihres Liedes erreicht. Er stellte sich vor, wie er hinüberging und fragte, ob irgendjemand irgendetwas gesehen habe. Niemand würde etwas gesehen oder gehört haben; das hier war kein Stadtviertel, wo man es sich erlauben konnte, auf das zu achten, was um einen herum geschah.

Es war nicht einmal ein wirklicher Stadtteil von New Orleans – dieser weite Bereich von Buchten und Kanälen und überfluteten Zypressen und Weiden, aus dem das sumpfige Ödland im Nordosten des Flusses bestand. Früher war diese Gegend als »das feuchte Grab« bezeichnet worden, aber daran war das gelbe Fieber schuld gewesen, nicht die Tatsache, dass hier ermordete Schläger versenkt wurden.

Das graue Licht zeigte den Leichnam von Vinny McGinty, der am Bayouufer lag, aufgedunsen, verwesend, tot. So tot wie Charles St. Claire. Charlie St. Claire war der strahlende, gut aussehende Sohn einer vornehmen alten Familie aus New Orleans gewesen – reich, liederlich und mit der schönsten Frau der Welt verheiratet. Vinny dagegen war nur ein hässlicher Immigrantenbalg aus dem Irischen Kanal gewesen, der vom Ruhm im Ring geträumt und dann später seinen Lebensunterhalt mit Knieschüssen verdient hatte. Keine zwei Männer hätten ein unterschiedlicheres Leben führen können und doch hatten sie in ihrem letzten Moment, in ihrer Überraschung und Angst und Qual, das Gleiche erlebt.

Vielleicht hat Fio Recht, dachte Rourke, vielleicht nehme ich mir das alles zu sehr zu Herzen. Aber diese Ermordeten haben zumindest Anspruch darauf, dass die Welt erfährt, warum sie gestorben sind und wer sie umgebracht hat. Die Verantwortlichen müssen bezahlen und sei es nur dadurch, dass ihre Schuld ans Licht kommt.

Fio hob die Hände zum bleicher werdenden Himmel und ließ seine Knochen knacken. »Mann, ich bin mehr als todmüde. Aber weißt du, sowie ich zu Hause einrolle, wird die Frau mich anpöbeln, weil ich mich die ganze Nacht herumgetrieben habe.«

»Remy Leloure hat freundlicherweise angeboten, uns ihre Fingerabdrücke nehmen zu lassen«, sagte Rourke. »Sie wird uns gleich morgen früh besuchen.«

»Ach, reizend«, sagte Fio, als die »Smoky Mary« hinter ihnen über die Schienen donnerte und ihre Flöte ausgiebig und schrill und einsam aufheulen ließ.

Das Haus in der Conti Street, in dem Daman Rourke wohnte, hatte einst seiner Mutter gehört. Seit einigen wenigen Jahren konnte er es ansehen, ohne daran zu denken, aber in dieser Nacht – oder besser gesagt, an diesem Morgen – war das nicht der Fall.

Die gelben Latrinenwagen ratterten über die Pflastersteine, nachdem sie die Häuser aufgesucht hatten, die noch einzeln stehende Plumpsklos besaßen, als Rourke endlich nach Hause kam. Er ging durch den Torweg des wunderschönen alten kreolischen Hauses und dann über den Hof. Im trüben Morgenlicht ließen wilder Wein und Begonien blaue Schatten auf die Pflastersteine fallen. Alles roch nass, nach regenfeuchten Blättern und schwarzer Erde.

Der Hof war eine Oase des Friedens in einem weiteren rauen Stadtteil. Der Faubourg Tremé war jetzt bekannt für seine Kneipen, für Jazzschuppen und Bordelle. Hundert Jahre zuvor jedoch hatten die weißen Plantagenbesitzer und ihre Söhne in diesen Häusern ihre kaffeefarbenen Geliebten untergebracht. Damals hatten im Faubourg Tremé auch die gens de couleur libres gelebt, freie Farbige also, keine Sklaven. Einige von ihnen hatten sogar ihrerseits Sklaven besessen. Sie arbeiteten als Schneider, als Schmiede und als Schreiner. Manche wurden reich und bauten sich Häuser im kreolischen Stil, wo sie dann Mahagonimöbel aufstellten, Seidentapeten anbrachten und ihr vornehmes, aber abgeschiedenes Leben lebten.

Sie sprachen Französisch und ließen ihre Söhne in Paris studieren. Die, deren Haut hell genug war, wurden in den Norden geschickt, um im Leben des weißen Mannes abzutauchen. Manche ließen ihre Töchter auf Quarteronenbällen in Satinkleidern und mit bloßen Schultern durch die Säle paradieren, in der Hoffnung auf einen Beschützer mit Geld, Grundbesitz und einem weißen Gesicht. Denn in die Waagschale geworfen, wog das Wort farbig mehr als das Wort frei,und wenn einer von ihnen einem weißen Mann auch nur widersprochen hätte, wäre er Gefahr gelaufen, am nächsten Laternenpfahl aus grünem Eisen aufgeknüpft zu werden.

Das war jedoch lange her und einiges hatte sich geändert. Jetzt war ein Großteil der Gegend nicht viel mehr als ein Slum, wo jede Art Sünde zu kaufen war. Die schmiedeeisernen Balkons der alten Stadthäuser sackten ab wie zerfetzte Spitzenborten; Ratten und Hunde kämpften in den von Abfall übersäten Innenhöfen um Knochen. Aber trotz allem hatten die alten Häuser und die gepflasterten Straßen auf irgendeine Weise Charme und Romantik bewahren können, zusammen mit ihren Geheimnissen und ihrer nie erwähnten Schande.

Daman Rourke, der von den Schauplätzen zweier brutaler Morde zurückkam, stand auf dem leeren, heruntergekommenen Innenhof und schien nicht so recht zu wissen, wie er dorthin gelangt war. Einen Moment lang glaubte er, es regne wieder, doch dann ging ihm auf, dass er nur das Wasser aus dem eisernen Brunnen gehört hatte.

Licht sickerte durch die Blenden vor den Fenstern des kleinen, nach hinten gelegenen cabinet,in dem die Haushälterin seiner Mutter schlief. Augusta stand immer im Morgengrauen auf, denn sie war davon überzeugt, dass der Tag nicht ohne sie anfing, und niemand hatte jemals das Gegenteil beweisen können. Seine Wohnung, die garçonnière über der alten Küche, lag im Dunkeln.

Er dachte an das Messingbett im alten Sklavenschuppen draußen in Sans Souci und daran, wie es Charles St. Claire empfunden haben musste, dort seine Geliebte zu empfangen, so dicht bei Heim und Herd und Ehefrau. Ein wenig Schnee zu schnupfen, ein wenig Wermut zu trinken und am Rande des Mondes einen kleinen Tanz zu wagen.

Und dann kommt sie, die Frau, und sie sieht ...

Vielleicht war es die wahre Liebe,hatte er zu Fio gesagt und dabei geglaubt, er lüge. Aber vielleicht hatte er sich auch nur gewünscht, dass es eine Lüge sei.

Wenn du liebst, verzweifelt, leidenschaftlich liebst, und die, die du liebst, liebt einen anderen, würdest du dann im Namen deiner Liebe einen Mord begehen? Vielleicht. Wahrscheinlich.

Ja.

Das Wiedersehen mit ihr nach der langen Zeit, im selben Zimmer, ihr so nah zu sein, dass er sie berühren, sie riechen konnte, hatte ihm das Gefühl gegeben, seine Faust um Glasscherben zu schließen. Früher einmal hätte er sie vielleicht ermordet, nur um sie zu behalten.

Er machte eine plötzliche Handbewegung, wie um diesen Gedanken abschütteln zu können. Eine Schar von Staren hob in einer schwarzen Wolke aus flatternden Flügeln vom Dach ab. Er drehte sich um, um sie davonfliegen zu sehen, und sah seine Mutter.

Sie saß auf einer Bank, tief im Schatten beim Brunnen. Er musste an ihr vorbeigegangen sein, als er durch den Torweg gekommen war. Jede andere hätte etwas gesagt, aber nicht Maeve Rourke. Manche Menschen benutzen Schweigen als Waffe, sie nahm es als Schild. Er hatte längst aufgegeben, Erklärungen von ihr zu erwarten.

Im Licht der Dämmerung war ihr Gesicht so weiß und ätherisch wie Nebel. Sie trug ihr weinrotes Negligé und ihre langen dunklen Haare umschlossen ihr Gesicht wie ein Nonnenschleier. Er ging auf sie zu und dann sah er, dass sie nicht allein war. Seine Tochter lag auf der Bank, ihr Kopf lag auf dem Schoß seiner Mutter. Die Kleine trug ein Nachthemd aus weißer Baumwolle, besetzt mit Klöppelspitzen, und eine Baseballmütze mit dem Emblem der Pelicans. Den Fanghandschuh, den er ihr zum sechsten Geburtstag geschenkt hatte, presste sie an sich wie einen Teddybären.

»He, Mama«, sagte er, als er in die Knie ging und die Wange seiner Tochter küsste, die weich und klebrig war und nach Wassermelone roch. »Was macht ihr denn so früh am Morgen schon hier?«

»Sie ist wieder schlafgewandelt und dann hatte sie auch noch einen bösen Traum. Wurde von ihrem eigenen Weinen geweckt, die arme Kleine. Ich dachte, ein wenig frische Luft würde ihr gut tun.«

Seine Mutter bewegte mit langsamer, träger Bewegung einen Palmenfächer vor dem Gesicht des Kindes hin und her. Maeve Rourke war in Irland geboren und aufgewachsen, im County Kerry, aber jetzt war sie Südstaatendame durch und durch. Als habe sie ihr Südstaatenwesen von diesem Haus und dem Faubourg Tremé und von dem Mann, der sie hergebracht hatte, eingesogen.

»Sie hat geträumt, der Gowman wolle sie holen«, sagte seine Mutter mit weicher Stimme. Dann lachte sie, und auch ihr Lachen klang sanft im Zwielicht der Dämmerung. Trotzdem überraschte es ihn, denn sie lachte nur selten. »Ich nehme an, es war entweder der Gowman oder zu viel Wassermelone nach dem Abendessen.«

Unendlich behutsam ließ er den Finger am dicken braunen Zopf seiner Tochter entlangwandern, der sich über ihre Schulter und ihren Rücken schlängelte, und er befreite sich ein wenig von den Schmerzen in seiner Brust, indem er ihren Namen flüsterte: »Katie ...«

Etwas streifte seine Wange, so leicht, dass er es sich vielleicht nur eingebildet hatte. »Du hast eben so traurig ausgesehen«, sagte Maeve. »Was ist passiert?«

»Nichts. Na ja, nur das Übliche. Zwei Morde.«

»Und du hast es zu deiner persönlichen Aufgabe gemacht, die Schuldigen vor Gericht zu bringen. Du darfst dir das alles nicht so sehr zu Herzen nehmen, Day.«

Er musste lächeln. »Was habt ihr und Fio vor – gemeinsam für mich ein Drehbuch zu schreiben?«

»Ich weiß wirklich nicht, worüber du redest.« Sie schwieg für einen Moment, dann stieß sie einen leisen Seufzer aus. »Die Menschen werden einander immer Schlimmes antun, einander Schmerzen zufügen.«

Er sagte es nicht, obwohl er es hätte sagen können: dass sie die Erste gewesen war, die ihm Schlimmes angetan und Schmerzen zugefügt hatte, und das schon in frühen Jahren. Sie hatten ihre eigenen Familiengeheimnisse, er und Maeve Rourke. Sie hatten ihre eigenen begrabenen Sünden.

Seine Mutter bewegte den Fächer zwischen ihnen hin und her, während der Himmel langsam aschgrau wurde. Er dachte, er müsse ihr von Charles St. Claires schrecklichem Tod erzählen und davon, dass Remy Lelourie ihn vermutlich umgebracht hatte.

»Gib sie mir mal«, sagte er stattdessen. »Ich bringe sie wieder ins Bett.«

Seine Tochter fühlte sich schwer in seinen Armen an, als er sie hochhob. Eine solide und doch befriedigende Wärme, wunderbar lebendig. In der Tür drehte er sich zu seiner Mutter um, die noch immer auf der Bank saß. Er wusste, dass es nur an den Schatten lag, die die Weinblätter über ihr Gesicht warfen, aber in diesem Moment kam sie ihm seltsam verhärmt und traurig vor.

Flammen im Wind

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