Читать книгу Als Jakob vom Himmel fiel - Peter Fuhl - Страница 10
Оглавление4. Zauberworte und Synchronisation
Mitten in der Nacht schrie jemand „Kompanie aufstehen“. Jakob blieb liegen, weil er nicht Kompanie hieß, rieb sich die Augen und sah sich um. Auch die anderen fühlten sich nicht angesprochen. Aber alle in ihrer Nachtruhe gestört. Draußen war es noch stockfinster und die Laternen auf dem Kasernengelände arbeiteten auf Hochtouren, damit der Tisch und die Stühle ihre Schatten in der Stube werfen konnten.
Plötzlich blitzte es mehrmals und ein helles aufdringliches Licht raste durch die Stube und blieb schließlich an der Decke hängen. Alle schlossen ihre geblendeten Augen. Die Pupillen drückten sich gegen hellgelbe Lider, die schnell ockerfarben wurden, dann orange und dann Richtung Tür blinzelten.
Ein Soldat war in die Stube gekommen und hatte das Licht angemacht.
„Raus jetzt aus den Furzmulden! Aber dalli!“
Sofort quälten sich alle aus den Betten. Vollbart war nicht tot. Er war sogar der Erste, der vor seinem Bett stand.
„Ich bin Fahnenjunker Berger“, fuhr der Soldat fort, „und ich werde Ihnen in den nächsten Wochen die Grundlagen des Soldatenlebens beibringen.“
Es war einer der Soldaten, die gestern mit Silberkordel auf dem Exerzierplatz waren. Groß, blonde Haare, breitschultrig. Aber mit einem gutmütigen Kindergesicht und großen blauen Babyrobbenaugen. Kaum älter als Jakob und mit Sicherheit jünger als Vollbart.
„Sie müssen an den Ausgabestellen noch ihre restlichen Sachen in Empfang nehmen. Also beeilen sie sich! Anziehen! Zähne putzen! In fünf Minuten gehen wir los!“
Die restlichen Sachen waren noch eine ganze Menge und Jakob fragte sich, ob er das ganze Zeug überhaupt in seinem Spind verstauen konnte. Schlafsack, Poncho, Einmannzelt, Stahlhelm, Gasmaske, Klappspaten, Kampfmesser usw. usw.
Die Armee schüttete in Geberlaune ihr Füllhorn über ihre zukünftigen Kämpfer aus!
Aber die Gegenstände waren von sehr unterschiedlicher Qualität. So war Jakobs Klappspaten handlich und nagelneu. Vorne spitz zulaufend und an der Seite so scharf, dass man im Nahkampf dem Gegner damit einen Scheitel bis zum dritten Halswirbel ziehen konnte. Das Kampfmesser dagegen hatte schon einiges erlebt und musste geschliffen werden. Es war so stumpf, dass man nur mit viel Kraft eine dünne Schnur damit durchtrennen konnte.
Das Essgeschirr war ein nierenförmiger Blechnapf. Mehrteilig, zusammensteckbar und mit ebenso lieblosem Besteck. Nichts, was Oberkellner aus guten Hotelküchen ihren Gästen an die Tische tragen. „Aber wichtig ist nicht der Blechnapf an sich, sondern was im Blechnapf drin ist“, tröstete sich Jakob.
Zuletzt bekam jeder noch seine Hundemarke und seine Namensbänder, die an die Uniform genäht werden mussten.
Wieder auf der Stube zeigte Fahnenjunker Berger, wie die Spinde einzuräumen waren und wie der Soldat sein Bettchen zu machen hatte. Gleichzeitig waren in der Gemeinschaftsdusche zwei Soldaten mit Haarschneidegeräten und stellten sicher, dass bei allen Ohren und Hemdkragen zu sehen war.
Anschließend wurde befohlen, den kleinen Dienstanzug anzuziehen und nachdem Harry, Pickelgesicht und Jakob endlich gelernt hatten, wie man eine Krawatte bindet, ging es in die Kantine zum Frühstücken.
Draußen wurde es langsam hell.
Die zweite Tasse Kaffee war noch nicht ausgetrunken, da unterbrach ein lauter Befehl das Schmausen und mit noch vollem Mund ging es im Laufschritt zurück zum Kompaniegebäude, wo im Eingangsbereich von allen Rekruten Passbilder gemacht wurden. Vor dem Gebäude beim Kompaniewappen mit der eisernen Faust wurden in der morgendlichen Herbstsonne weitere Bilder gemacht. Gruppenbilder.
Fhj Berger stellte kurz drei Rekruten vor, die auf einer anderen Stube schliefen. Zwei davon hatten sich für vier Jahre verpflichtet, ihre Väter waren beide Offiziere. Der dritte war ein Skinhead aus Lübeck. Ein Hüne mit ungewöhnlich gelben Zähnen.
„Sie sind ab jetzt eine Kampfgruppe. Ich bin ihr Gruppenführer. Mit zwei anderen Gruppen bilden wir einen Zug. Über die einzelnen Teileinheiten werden Sie später mehr erfahren. Jetzt machen wir ein Gruppenbild.“
Zuerst machten aber noch andere Gruppen ihre Fotos, weil Harry sich beim überhasteten Aufbruch in der Kantine Kaffee über sein Hemd geschüttet hatte. Fhj Berger schickte ihn auf die Stube, um das Hemd zu wechseln und gab „Feuer frei“. Pickelgesicht, Jakob und der Skinhead gingen etwas zur Seite und zündeten sich Zigaretten an. Die Sonne war warm geworden und wirkte angenehm einschläfernd. Die Pause war zwar nur von kurzer Dauer. Aber sie fühlte sich länger an.
Sie hatten ihre Zigaretten fast fertig und nicht einmal heiß geraucht, als Harry wieder zurückkam.
„Los jetzt! Um das Kompaniewappen herum aufstellen! Stehen Sie gerade! Und dass mir keiner auf die Idee kommt dämlich in die Kamera zu grinsen!“
Kaum war das Bild im Kasten, ließ Fhj Berger die Gruppe zum Umziehen auf die Stuben wegtreten. Der kleine Dienstanzug wurde aus- und eine Uniform angezogen.
Die Uniform war olivgrün. Unterhemd, Jacke, Hose und Schiffchen ebenso. Fast alles. Dazu farblich passend schwarze Springerstiefel. Schwer, aus Leder, nagelneu. Beste Qualität. Nachdem auch Pickelgesicht gelernt hatte, wie sie geschnürt werden mussten, ging es im Laufschritt zum Exerzierplatz, wo schon andere Rekruten angetreten waren.
Nach ihnen kamen noch zwei weitere Unteroffiziere mit ihren Gruppen die Treppe heruntergerannt.
Dann war die 5. Kompanie komplett.
Komplett? Nicht ganz.
Jakob sah sich um. Ananas fehlte. Silberkordel auch. Wo gestern noch alles bunt war, war jetzt alles olivgrün. Und wo Haare waren, sah man jetzt Ohren. Anstatt Silberkordel stand vorne jetzt ein schwarzhaariger Soldat mit Oberlippenbart. Sein rotes Barett lag waagerecht auf dem Kopf. Als ob er eine Schallplatte geklaut hätte. Es war der Hauptmann, dem auch gleich gemeldet wurde, dass die 5. Kompanie angetreten sei.
„Beginnen Sie mit der Formalausbildung!“, meinte der Hauptmann und ging mit zwei anderen Soldaten wieder die Treppe hoch zum Kompaniegebäude.
Sofort begannen die Unteroffiziere damit, ihre Rekruten zu sammeln und verteilten sich mit ihren Gruppen über den ganzen Exerzierplatz. Synchrone Bewegungsabläufe und ihre akustischen Auslöser standen auf dem Stundenplan. Mit den Zauberworten „Achtung!“ oder „Stillgestanden!“ machte ein ranghöherer Soldat auf seine Anwesenheit aufmerksam oder konnte rangniedere Soldaten, die ihn nervten, auf fast schon biblische Art in schweigende Salzsäulen verwandeln.
Rangniedrigere Soldaten mussten nämlich, wenn sie eines der Zauberworte vernahmen, sofort die Grundstellung einnehmen. Im Klartext: die Hacken zusammen, aufrecht und gerade, mit geschlossenen Händen, Handrücken nach außen am Oberschenkel anliegend. In dieser Stellung musste man dann bewegungslos verharren und die Klappe halten. Nicht einfach. Aber es war machbar, weil nur Männer in der Armee waren.
Mit einem „Rührt euch!“ oder „Rühren!“ konnte man von einem ranghöheren Soldaten wieder aus seiner Bewegungslosigkeit befreit werden.
Aber aufgepasst! Der Schein trog! Weder durfte jetzt wild gezappelt werden noch sollte gerührt werden. Es bedeutete lediglich, dass man die Hände hinter den Rücken zu nehmen hatte und den linken Fuß gut zwanzig Zentimeter nach links versetzte. Und damit man keinen steifen Hals bekam, wurde die Choreographie noch mit einem „Die Augen links! Augen rechts!“ erweitert.
Am einfachsten und auch am beliebtesten war aber das Zauberwort „Wegtreten!“, bei dem man sich nur schnell aus dem Staub zu machen hatte.
Als alle die Spielregeln kapiert hatten und die Bewegungsabläufe halbwegs synchron waren, übte man noch einmal in Kompaniestärke und wartete auf den Schallplattendieb.
Der ließ sich geschlagene zwanzig Minuten Zeit, bis er sich endlich dazu bequemte anzusehen, was sein olivgrünes Ensemble mühevoll einstudiert hatte. Zuerst sah er nur zu, dann probierte er selber ein paar Zauberwörter aus. Seinem Gesichtsausdruck nach zu beurteilen, war er zufrieden.
Schließlich beendete das Ganze mit einem „Zur Mittagspause wegtreten!“
Wahrscheinlich hatte er Hunger.