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6. Rüsselkäfer

„ABC-Alarm! Gummifotze raus!“

Pickelgesicht setzte den Helm ab und fummelte wie wild an seiner ABC-Tasche herum. Schließlich riss er sie auf und stülpte die Gasmaske so hektisch über seine Pickel, dass er sich fast die Ohren abgerissen hätte. Sein G3 rutsche ihm dabei vom Knie und knallte auf den Boden. Den Helmverschluss konnte er anschließend nicht gleich schließen und als er sein G3 wieder in den Händen hatte, verhedderte er sich damit in seinem Poncho.

Es sah nicht besonders elegant aus. Aber es war auch das erste Mal. Der Umgang mit der ABC-Ausrüstung musste geübt und die Gasmasken auf ihre Dichtigkeit geprüft werden. Am besten am lebenden Objekt.

Fhj Berger schüttelte nur den Kopf.

„Los jetzt! Marsch, Marsch! Hau endlich ab!“, brüllte er Pickelgesicht an, der taumelnd losrannte und nach wenigen Metern von gewaltigen Rauchschwaden verschluckt wurde.

Um das Testen der ABC-Ausrüstung für alle Beteiligten so kurzweilig wie möglich zu gestalten, hatte man um ein großes Zelt herum einen Parcours errichtet, der mit Nebeltöpfen und Rauchgranaten garniert war. Der Parcours musste zweimal mit Gepäck und Waffe durchlaufen werden. Dann ging es in das Zelt, das ebenso mit Nebeltöpfen und Rauchgranaten gesegnet war und -sofern man den Ausgang fand -auf der anderen Seite des Zeltes wieder ins Freie.

Dort verstaute man die ABC-Ausrüstung wieder ordentlich in seiner ABC-Tasche, lief zum Ausgangspunkt zurück und meldete seinem Vorgesetzten, dass es tierisch Spaß gemacht hat und man noch einmal losgeschickt werden möchte. Der Bitte wurde jedes Mal entsprochen.

Die Unteroffiziere hatten außerdem die Aufgabe zu überprüfen, ob die ABC-Ausrüstung richtig angelegt war, bevor sie ihre Rekruten in das rauchende Inferno schickten und sie bei nachlassendem Eifer mit passenden Befehlen anfeuerten.

Nur die beiden Sanitätssoldaten, die in einiger Entfernung in ihrem Sanka sitzend das Spektakel beobachteten, hatten nichts zu tun.

Die Übung sollte so lange gehen, bis die beiden Sanitätssoldaten müde und abgekämpft waren.

Als Nächster wurde Lt Scholz ins Rennen geschickt. Ohne das geringste Problem stülpte er die Maske über seinen Kopf, setzte den Stahlhelm auf und stürmte los. Er sah aus wie ein gigantischer graugrüner Rüsselkäfer, der auf Krawall aus war.

Dass er das Aufsetzen der ABC-Maske schon mit Harry auf der Stube geübt hatte, merkte man. Fhj Berger nickte wohlwollend.

Dann war Jakob an der Reihe.

„ABC-Alarm! Gummifotze raus!“

Jakob nahm die Maske aus der ABC-Tasche und sinnierte kurz darüber, warum dieses Teil mit Sichtscheiben und Atemfilter wohl „Gummifotze“ genannt wurde. Es war unbehaart, trocken, grün und schien bei weitem nicht den gewohnten Komfort zu bieten. Aber jetzt war ein schlechter Zeitpunkt für einen philosophischen Diskurs.

„Schlaf nicht ein und hau endlich ab!“, brüllte Fhj Berger ungeduldig.

Jakob verwandelte sich schnell in einen Rüsselkäfer und rannte los.

Sobald er die ersten beiden Nebeltöpfe passiert hatte, wurde es schwierig. Überall war Rauch. Weißer Rauch, gelber Rauch, schwarzer Rauch. Mal mehr, mal weniger. Er strömte aus den Nebeltöpfen, verbreitete sich schnell und baute sich mächtig auf. Dutzende von Flaschengeistern entflohen mit einem dunklen Zischen gleichzeitig ihren Wunderlampen und ein leichter Wind verschmolz sie schon nach wenigen Metern zu riesigen Rauchwolken, die alles in sich verschluckten. Sie erfüllten keine Wünsche, sondern nahmen den Rüsselkäfern nur die Sicht.

Jakob musste sich immer wieder neu orientieren, da das Blickfeld auch noch wegen der Sichtscheiben eingeschränkt war. Der Kopf musste beim Laufen ständig bewegt werden, um die Umgebung einigermaßen erfassen zu können. Kam er einer der Wunderlampen zu nahe, umarmte ihn ihr Geist und machte Jakob und alles um ihn herum unsichtbar.

Die Herbstsonne bestrahlte das Ganze mit goldfarbenem Licht und verwandelte das Treiben unter sich in ein surreales Theaterstück. Überall tauchten Rüsselkäfer mit Gewehren im Rauch auf und verschwanden wieder. Rannten in das Zelt und auf der anderen Seite wieder hinaus ins Freie.

Die Sonne betrachtete eine Weile das Spektakel, lachte dann und schüttelte ihre Scheibe. Die Temperatur am Boden stieg abrupt um mehrere Grad an.

Bald machte sich die körperliche Anstrengung bemerkbar.

Die Momente, in denen Jakob kurz stehenblieb und sich neu orientierte, wurden länger. Er hörte wie seine Lungenflügel pfeifend verbrauchte Luft durch den Maskenfilter pressten und sofort wieder neue Luft einsaugten. Sein Herz trommelte und gab ihnen den Takt vor. Zweimal konnte er gerade noch einen Zusammenstoß mit anderen Rüsselkäfern vermeiden, da einige völlig orientierungslos umherrannten.

Als er das dritte Mal in das Zelt lief, ging er drei Schritte neben dem Eingang in die Hocke. Der Gummi der Gasmaske klebte unangenehm auf seiner verschwitzten Haut. Die Sicht betrug keine zwei Meter und es war im Zelt noch heißer als draußen. Aber hier konnte er sich und seine unter Sauerstoffmangel klebrig gewordenen Gedanken sammeln. Hier brüllte ihn niemand an, dass er weiterlaufen soll und niemand würde ihn hier suchen. Der Ort war perfekt.

Nicht einmal Darth Vader, der keine zwei Meter entfernt in großen Schritten an Jakob vorbeistiefelte, bemerkte ihn.

Allmählich beruhigte sich sein Puls. Seine Atmung wurde langsamer und gleichmäßiger. Er nahm sein G3 zwischen die Beine, lehnte sich mit dem Helm gegen den Lauf und starrte durch die Sichtscheiben seiner Maske auf den Boden, wo ein echter Rüsselkäfer ihm einen Vogel zeigte und kopfschüttelnd weiterlief.

Ein akustisches Signal beendete schließlich die Übung und alle gingen am Sanka vorbei auf eine Wiese zum Antreten. Einer wollte Helm und Maske abnehmen und bekam sofort einen Anschiss. Jakob war der Letzte. Er sah sich noch einmal kurz um. Aus dem Zelt und über dem Boden strichen traurige Rauchschwaden umher und lösten sich nach einigen Metern auf. Als ob die US-Kavallerie gerade eine Indianerfamilie besucht hätte.

Endlich durften die ABC-Masken abgenommen werden. Nasen und Münder wurden von ihren grünen Gefängnissen aus Gummi befreit.

Die Rüsselkäfer wurden wieder zu menschlichen Wesen.

„Einer wurde abgelöst“, flüsterte Harry. „Er hat während der Übung die Gummifotze abgenommen und wollte nicht mehr mitspielen.“

Es war nicht das erste Mal, dass jemand abgelöst worden war. Auch auf Rolands Stube hatte es schon einen Wechsel gegeben. Diese Vorgänge fanden still und leise statt. Wer abgelöst wurde, verschwand einfach. Aus Scham. Die anderen nahmen es lediglich zur Kenntnis. Man war mit sich selbst beschäftigt. Mit Blasen, mit blauen Flecken, mit Prellungen. Mit Schlafmangel und der Angst, es selbst nicht zu schaffen. Der Ausleseprozess hatte begonnen …

Plötzlich waren ein Bett und ein Spind leer und ein neuer Rekrut stand in der Stube.

„Rührt euch! Wegtreten!“, brüllte der Schallplattendieb. Ein lautes „HURRA!“ schallte ihm entgegen und im Laufschritt ging es zur Kantine.

Als Jakob vom Himmel fiel

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