Читать книгу Als Jakob vom Himmel fiel - Peter Fuhl - Страница 13
Оглавление7. Gäb es nur eine Krone
Nach einem hastig hineingewürgten Mittagessen, war die 5. Kompanie wieder angetreten. Diesmal auf dem Exerzierplatz. Marschieren mit Gesang stand auf dem Programm. Der Schallplattendieb kam, nahm die Meldung entgegen, grüßte und ging mit einem Gesicht, als ob er etwas ganz Wichtiges zu erledigen hätte, zum Kompaniegebäude zurück. Der Spieß übernahm das Kommando und legte sofort los.
In den ersten beiden Reihen waren nur Fahnenjunker und Fähnriche sowie der Leutnant, der die Wahl zum Vertrauensmann durchgeführt hatte. Dahinter folgten die Mannschaftsdienstgrade.
„Im Gleichschritt -MARSCH! LINKS, ZWO, DREI …“, brüllte der Spieß und gab das Schritttempo vor. Die Formation setzte sich in Bewegung und war schon nach wenigen Metern nicht mehr als solche zu erkennen. Man trat sich gegenseitig auf die Hacken, einige Reihen fielen auseinander, Rudel bildeten sich.
„Abteilung -HALT!!“
Jeder blieb augenblicklich stehen, wo er gerade war. Der Spieß war mit dem Resultat sichtlich zufrieden.
„So, jetzt sehen Sie sich mal um. Und? Wissen Sie, wie man das in Fachkreisen nennt? Einen SAUHAUFEN!!“
Sofort schwärmten die Unteroffiziere aus und sammelten ihre Gruppen. Die Kompanie löste sich auf und es wurde jetzt in kleineren Formationen zu je zwölf Mann exerziert. Nach gut einer Stunde war es dann soweit und man hatte die Abstände verinnerlicht. Man marschierte ohne sich krampfhaft auf seinen Vordermann zu konzentrieren und ständig nach rechts und links zu schielen. Alles passte und Fhj Berger gab „Feuer frei“ für eine Zigarettenpause.
Nach einer weiteren Stunde ging es auch elegant um die Kurven. Sowohl nach links als auch nach rechts. Die anderen Gruppen brauchten dafür wesentlich länger. Denn was auf den ersten Blick eigentlich einfach aussieht, ist in Wirklichkeit eine choreographische Meisterleistung.
Der Knackpunkt ist nämlich die Geschwindigkeit, die bei jedem einzelnen unterschiedlich ist. Die Person ganz außen muss sich dabei am schnellsten bewegen und der Soldat ganz innen in der Kurve am langsamsten. Er tritt fast auf der Stelle. Und alle marschieren so, dass eine gerade Linie entsteht, die sich auch in der Bewegung fortsetzt. Dass die Schrittfolge gleichfalls perfekt abgestimmt sein muss, versteht sich von selbst.
Es ist ein uraltes Problem, das Synchronschwimmerinnen mit Fallschirmjägern teilen.
Fhj Berger war mit seiner Gruppe mehr als zufrieden, gab „Feuer frei“ und wieder durfte ein Lungenbrötchen verzehrt werden, während man den anderen beim Exerzieren zusah.
Nachdem man anschließend in Kompaniestärke den Platz noch dreimal umrundet hatte, fand der Spieß, dass es an der Zeit wäre, den musikalischen Teil des Programms miteinzubeziehen. Das Repertoire bestand zwar nur aus einem einzigen Lied, aber es handelte sich dabei immerhin um das altehrwürdige Traditionslied der deutschen Infanterie „Gäb es nur eine Krone“.
Zu Übungszwecken marschierten jetzt in der ersten und in der letzten Reihe die Unteroffiziere. Der Spieß wünschte sich mit einem lauten „Männer -EIN LIED!“ ein ebensolches und das Codewort „Krone“ verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den Reihen, bis es hinten beim letzten Mann angekommen war. Der schrie dann laut „LIEEED DURCH!“, der Spieß zählte „Zwo, drei, vier“ und aus voller Kehle wurde gesungen.
„Gäb es nur eine Krooone
Wohlan, ich schenkte sieee,
der Tapferkeit …“
Allerdings sangen nur die erste und die letzte Reihe aus voller Kehle.
Die zwei Offizierssöhne aus der Stube nebenan, die in der Reihe hinter Jakob marschierten, sangen mit makrobiotischer Lautstärke und waren gerade noch hörbar. Der Rest schwieg oder bewegte wie Jakob nur die Lippen und sang leise in sich hinein.
„LIEEED -AUS! ABTEILUUUNG -HALT! STILLGESTANDEN!“
Der Spieß war enttäuscht und brüllte seine Enttäuschung aus sich heraus. Er hatte sich so sehr auf das Lied gefreut und nun so etwas!
„Glauben Sie die Herren Unteroffiziere singen Ihnen ein Ständchen vor, oder was?! Jetzt reißen Sie sich zusammen!“
Am Horizont verabschiedete sich der Tag und über dem Exerzierplatz sammelten sich dunkle Wolken. Neugierige Zuhörer, die durch das laute Geschrei des Kompaniefeldwebels angelockt worden waren. Es begann leicht zu regnen.
„Gäb es nur eine Krooone
Wohlan …“
„LIEEED -AUS!!“, schrie der Spieß, der immer noch nicht zufrieden war. Und das zu Recht.
Die erste und zweite Reihe sangen zwar unverändert mit voller Inbrunst und auch die beiden Offizierssöhne waren gut hörbar. Aber ansonsten war nur ein dumpfer Murmelgesang in Moll zu vernehmen.
Wie beim Gottesdienst in der Kirche sang jeder so leise, dass es sein Nebenmann kaum hören konnte. Gottesdienste an Weihnachten und Silvester natürlich ausgenommen.
„NOCHMAAAAAL!“ schrie der Spieß, dessen Laune sich zunehmend verschlechterte.
„MÄNNER -EIN LIED! ZWO-DREI-VIER!“
„Gäb es nur eine Krooone
wohlan, ich schenkte sieee,
der Tapferkeit …“
Die Regenwolken verdichteten sich und verschmolzen mit dem immer dunkler werdenden Himmel. Der Regen wurde stärker. Die Tropfen größer. Kalt und schwer fielen sie senkrecht aus dem Herbsthimmel und zerplatzten laut auf dem harten Exerzierplatz. So laut, dass die Aufschläge den Gesang übertönten.
„LAUTER!!“, brüllte der Spieß in den Regen, der ihm nichts auszumachen schien.
„NOCH LAUTER!“
„Mit Waffen leicht, mit Waffen schwer,
Kompanieee an Kompanieee,
ist sie die Königin …“
Die Uniformen saugten sich mit dem kalten Regenwasser voll. An den Schultern klebten sie schon schwer und satt auf der Haut und konnten kein Wasser mehr aufnehmen. Es war absehbar, dass alle bald völlig durchnässt sein würden. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass der Spieß nun olivgrüne Regenschirme verteilen lassen würde, war gering.
„Gäb es für Sieg und Steeerben
Nur eiiine Melodieee …“
Die Dunkelheit war mittlerweile hereingebrochen und es schüttete wie aus Kübeln. Das Licht der Laternen spiegelte sich auf dem nassen Boden des Exerzierplatzes wieder. Stiefel klatschen im Gleichschritt.
„… ist sie die Kööönigin im Heer,
die deuuutsche Infanterie…“
„LIEEED -AUS!!“, brüllte der Spieß und stellte die ganze Kompanie ins Achtung. Fünf Sekunden lang war nur noch der Regen zu hören. Dann auch wieder der Spieß. Er sprach sehr langsam und deutlich. Mit einer Brotmesserstimme.
„Wir machen das solange, bis ihr es könnt. Ich habe viel Zeit und die Kantine macht wegen euch keine Überstunden. Kapiert? Also nochmal, Männer -EIN LIED!
ZWO-DREI-VIER!“
„GÄB ES NUR EINE KROOONE
WOHLAAN ICH SCHENKTE SIEEE…“
Alle sangen. Es gab keine Hemmungen mehr. Harry spielte kurz den Clown und wackelte übertrieben mit dem Kopf beim Singen. Sofort wurde er von jemandem aus der durchnässten Kolonne mit einem wütenden „Lass den Scheiß!“ angezischt.
„… DER TAPFERKEIT ZUM LOOOHNE
DER DEUUUTSCHEN INFANTERIEEE!“
Springerstiefel gaben den Takt vor.
„GÄB ES FÜR SIEG UND STEEERBEN
NUR EIIIINE MELODIEEE
Jakob sang sich allmählich in Trance. Er spürte seine nasse Uniform nicht mehr und auch nicht den Regen, der ihm ins Gesicht prasselte und vom Kinn tropfte.
„NOCHMAL! MÄNNER -EIN LIEEED!“
Ständig wurde das Lied wiederholt. Einer Runde um den Exerzierplatz folgte die nächste. Und auch der Regen gönnte sich keine Pause.
„GÄB ES NUR EINE KROOONE …“
Irgendwann erwachte Jakob aus seinem Trancezustand und bemerkte, dass etwas passiert war.
Alle marschierten in Formation, alle sangen. Die jungen Männer hatten etwas Soldatenhaftes bekommen. Eine Stufe war genommen. Er hörte seine eigene Stimme und während er überlegte, was er da eigentlich sang, versanken die Worte des Liedes in den tiefsten Windungen seines Gehirns.
Wie Wikingerleichen im Moor.
Und Jakob marschierte weiter.
Er marschierte wie ferngesteuert. Er nahm nur noch den dampfenden Atem wahr, der seinem Mund entströmte und zusammen mit einhundert anderen dampfenden Atem den Ruhm der deutschen Infanterie tief in die kalte Regennacht hinaustrug.